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BGH, Beschluss vom 12. Januar 2010 - 3 StR 439/09


Entscheidungstext  
 
BGH, Beschl. v. 12.1.2010 - 3 StR 439/09
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 439/09
vom
12. Januar 2010
in der Strafsache
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 12. Januar 2010 gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Verurteilten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 15. Juni 2009 mit den Feststellungen aufgehoben.
Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Verurteilten mit einer Verfahrensbeanstandung sowie der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
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1. Das Landgericht hat festgestellt:
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Gegen den Verurteilten wurde bereits im Alter von 19 Jahren wegen mehrerer Brandstiftungsdelikte eine Jugendstrafe von unbestimmter Dauer ver-
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hängt. Den Taten ging jeweils eine situationsgebundene Verärgerung voraus, die der Verurteilte nicht bewältigen konnte und die sich deshalb in der Brandlegung entlud. Nach seiner Entlassung aus einem neunmonatigen Freiheitsentzug lernte der Verurteilte R. kennen, die er Ende 1982 heiratete. Am 20. Februar 1984 erdrosselte er seine Frau, nachdem es in der Ehe zunehmend zu Streitigkeiten gekommen war. Er wurde deshalb am 26. September 1984 vom Landgericht Hildesheim wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt, die er bis zur Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung im Februar 1989 teilweise verbüßte. Im Sommer 1990 lernte der Verurteilte die damals 19jährige V. kennen und heiratete sie wenige Monate später. Die Eheleute lebten mit dem Sohn B. aus einer früheren Verbindung von Frau V. und der gemeinsamen Tochter Va. zunächst ohne Auffälligkeiten zusammen. Ab März 1992 kam es indes auch in dieser Ehe zu einer krisenhaften Entwicklung, in deren Verlauf die Ehefrau Trennungsabsichten äußerte, sich mit der Ehe unzufrieden zeigte und häufig an dem Verurteilten "herumnörgelte". In der Nacht zum 21. Mai 1993 tötete dieser seine Ehefrau sowie seinen Stiefsohn. Er wurde deshalb am 26. Januar 1994 vom Landgericht Hannover wegen Totschlags in zwei Fällen (Einzelstrafen von elf und zwölf Jahren) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünfzehn Jahren verurteilt. Das Schwurgericht ging in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen Sachverständigen von nicht erheblich eingeschränkter Schuldfähigkeit aus und stellte fest, der Verurteilte "sei leicht kränkbar, unausgewogen in Durchsetzungsfähigkeit und Passivität, ein auf die eigene Geltung bedachter Mensch mit einem ausgeprägten Bedarf an Anerkennung und Neigung zu impulsiv unbedachten Verhaltensmustern"; bei ihm "bestehe ein hohes Risiko für weitere brutale Gewaltentfaltung gegenüber Menschen, die eine Partnerbeziehung zu ihm eingingen"; er habe "sich mit dem Risiko, das von seiner Person ausgehe, nicht auseinandergesetzt". Die Gesamtfreiheitsstrafe begründete das Landgericht
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auch damit, dass der Verurteilte "für künftige Partner eine erhebliche Gefahr" darstelle. Im Anschluss daran führte es aus: "Die Anordnung von Sicherungsverwahrung kommt nicht in Betracht, weil die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB - zweimal Verurteilung zu Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr (§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder Begehung von drei vorsätzlichen Straftaten (§ 66 Abs. 2 StGB) - nicht vorliegen."
Der Verurteilte verbüßte die Strafe aus dem Urteil vom 26. Januar 1994 bis zum 29. Mai 2008 vollständig. Seither wird die Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vollstreckt. Das Strafende ist für den 26. November 2010 notiert. Die Staatsanwaltschaft hat am 8. April 2008 den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gestellt.
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2. Das Landgericht ist nunmehr sachverständig beraten zu der Überzeugung gelangt, dass der Verurteilte aufgrund eines Hanges zu erheblichen Straftaten mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der in § 66 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB vorausgesetzten Art begehen werde. Es hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung auf § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB gestützt. Dies ergibt sich daraus, dass es darlegt, zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung im Januar 1994 hätten "die formellen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsverwahrung" nicht vorgelegen, "so dass die Anordnung aus rechtlichen Gründen nicht" habe "erfolgen" können. Folgerichtig enthält das Urteil keine Feststellungen zu etwaigen nach der Anlassverurteilung erkennbar gewordenen, neuen Tatsachen im Sinne von § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB. Vielmehr führt das Landgericht aus, dass die schon 1994 bekannte Gefährlichkeit des Angeklagten andauere.
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3. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
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a) Die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung setzt regelmäßig voraus, dass nach einer Verurteilung wegen einer bestimmten Anlasstat und vor dem Ende des Strafvollzugs Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StGB). Diese "erkennbar werdenden" Tatsachen - in Literatur und Rechtsprechung durchweg als "neue" Tatsachen bezeichnet - sind insoweit zwingende gesetzliche Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung; in ihnen muss sich auch die hangbedingte Gefährlichkeit des Verurteilten widerspiegeln (vgl. BGHSt 50, 275, 279).
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An die Annahme neuer Tatsachen sind, zumal die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung den Bestand eines rechtskräftigen Urteils tangiert und nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein soll (BGHSt 50, 275, 278 m. w. N.; BVerfG StV 2006, 574, 575; NJW 2009 980, 982), strenge Anforderungen zu stellen. Es kommen nur solche Umstände in Betracht, die entweder erst nach der Anlassverurteilung entstanden sind oder vom Richter des Ausgangsverfahrens nicht erkannt werden konnten. Allein die neue Bewertung bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bekannter Tatsachen genügt nicht (BGHSt 50, 180, 188; 50, 275, 278; 50, 373, 379; BGH NJW 2006, 3154, 3155). Nur so ist sichergestellt, dass durch die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht Versäumnisse der Strafverfolgungsbehörden im Ausgangsverfahren zu Lasten des Verurteilten im Nachhinein korrigiert werden (BGHSt 50, 121, 126; 50, 284, 297; BVerfG StV 2006, 574, 576).
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b) Nur ausnahmsweise sind neue Tatsachen nicht erforderlich: War im Zeitpunkt der Anlassverurteilung die Anordnung der Sicherungsverwahrung aus
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rechtlichen Gründen nicht möglich, so kann die Gefährlichkeit auch aus tatsächlichen Umständen abgeleitet werden, die zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bereits erkennbar waren (§ 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB, eingefügt durch das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht vom 13. April 2007 - BGBl I 513).
Die Voraussetzungen für diese Ausnahmeregelung liegen hier jedoch nicht vor. Vielmehr hätte das Landgericht in seinem Urteil vom 26. Januar 1994 gegen den Verurteilten Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB anordnen können.
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aa) Nach § 66 Abs. 2 StGB ist die Verhängung von Sicherungsverwahrung möglich, wenn der Angeklagte drei vorsätzliche Straftaten begangen hat, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wenn er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird und darüber hinaus die Voraussetzungen von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB (hangbedingte Gefährlichkeit) gegeben sind.
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Diese drei vorsätzlichen Taten müssen nicht gemeinsam in der Entscheidung abgeurteilt werden, in welcher die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB angeordnet wird. Vielmehr können eine oder zwei von ihnen schon vorher rechtskräftig abgeurteilt sein (st. Rspr.; RGSt 68, 330, 331; BGHSt 1, 313, 317; BGH NJW 1964, 115; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Gefährlichkeit 1). Diese Rechtsprechung ist seit jeher dem Standardkommentar zum Strafgesetzbuch zu entnehmen (Fischer, StGB 57. Aufl. (2010) § 66 Rdn. 12; so schon Tröndle/Fischer, StGB 49. Aufl. (1999) § 66 Rdn. 9; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. (1985) § 66 Rdn. 9). Soweit dort § 66 Abs. 2 StGB als "in erster Linie für unentdeckt gebliebene gefährliche Serientäter gedachte" Vorschrift bezeichnet wird (Fischer, StGB 57. Aufl. (2010) § 66 Rdn. 11; so schon Trönd-
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le/Fischer, StGB 49. Aufl. (1999) § 66 Rdn. 7; Dreher/Tröndle, StGB 42. Aufl. (1985) § 66 Rdn. 7), kann dies zu Missverständnissen keinen Anlass geben.
bb) Entgegen der - sowohl bei der Anlassverurteilung als auch bei der verfahrensgegenständlichen Entscheidung vertretenen - Ansicht des Landgerichts waren danach die formellen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB bereits im Zeitpunkt des Urteils vom 26. Januar 1994 gegeben, da der Angeklagte wegen insgesamt drei Vorsatztaten, für die er Strafen von sieben Jahren und sechs Monaten, von elf und von zwölf Jahren verwirkt hatte, zu Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt wurde.
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c) Die deshalb für die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten notwendigen neuen Tatsachen hat das Landgericht nicht festgestellt. Die Maßregel hat daher keinen Bestand. Der Senat schließt angesichts der Darlegungen im angefochtenen Urteil aus, dass in einer neuen Verhandlung noch Tatsachen festgestellt werden könnten, die für die Gefährlichkeitsprognose des Verurteilten bedeutsam, aber erst nach der Anlassverurteilung erkennbar geworden sind. Er entscheidet daher selbst, dass die Maßregelanordnung entfällt.
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4. Der Senat sieht Anlass zu folgenden ergänzenden Bemerkungen:
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a) Da die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht vorliegen, muss der Senat nicht entscheiden, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (AZ 19359/04) Anlass gibt, an der Vereinbarkeit der Ausnahmevorschrift des § 66 b Abs. 1 Satz 2
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StGB mit dem Grundgesetz oder der Europäischen Menschenrechtskonvention zu zweifeln.
b) Eine an die derzeitige Verbüßung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim anknüpfende Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung kommt nicht in Betracht. Zwar waren bei Erlass dieses Urteils die sich aus der späteren Tötung zweier weiterer Menschen ergebenden, gefährlichkeitsbegründenden Tatsachen noch nicht erkennbar, so dass insoweit Nova angenommen werden könnten. Die nachträgliche Maßregelverhängung würde hier indes an dem Vorrang des zwischenzeitlich durchgeführten Erkenntnisverfahrens vor dem Landgericht Hannover (vgl. BGHSt 50, 373; BGH NStZ 2008, 332) scheitern.
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Becker Pfister von Lienen
Hubert Schäfer


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