BGH,
Beschl. v. 3.8.2000 - 1 StR 283/00
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 283/00
vom
3. August 2000
in der Strafsache gegen
wegen Totschlags
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. August 2000
beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Heilbronn vom 22. Juni 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als
Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu zwölf
Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Seine Revision hat Erfolg
(§ 349 Abs. 4 StPO), weil die Beweiswürdigung nicht
rechtsfehlerfrei ist.
1. Folgendes ist festgestellt:
Der Angeklagte und sein Begleiter T. wollten in eine Diskothek. Der
dort als Türsteher tätige Ü. To. verweigerte
ihnen aus nicht mehr genau feststellbaren Gründen "in ruhigem,
bestimmtem Ton" den Eintritt. T. wollte dies nicht akzeptieren. Nach
einer gewissen Zeit war To. "die Diskussion leid" und er "schob T. mit
den Schultern weg". In diesem Moment ging der Angeklagte, der die
bisherige Diskussion wegen Sprachschwierigkeiten nicht verstanden hatte
und deshalb abseits gestanden war, auf To. zu und versetzte ihm mit
einem Messer einen wuchtigen Stich in die linke Brusthälfte.
P. , ein weiterer Türsteher, hatte, ohne das Messer zu
bemerken, gesehen, daß To. vom Angeklagten angegriffen wurde.
Es kam zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen P. und
weiteren Personen einerseits und dem Angeklagten und T. andererseits,
in deren Verlauf C. To. , ein Bruder des Ü. To. , auch
Tränengas einsetzte. Der Angeklagte und T.
flüchteten, wobei sie von P. , Ü. To. und einigen
anderen Personen verfolgt wurden. To. brach alsbald zusammen und
verstarb wenige Minuten später an den Folgen des Stiches. Der
Angeklagte und T. versuchten sich zu verstecken, wurden aber nach
kurzer Zeit festgenommen. Das Messer hatte der Angeklagte zuvor in eine
Hecke geworfen, wo es sichergestellt werden konnte.
2. Der Angeklagte hat sich wie folgt verteidigt:
Während des Gesprächs zwischen T. und Ü. To.
, das er wegen Sprachschwierigkeiten nicht verstanden habe, seien
plötzlich etwa fünf Personen auf ihn zugekommen und
hätten ihn, für ihn völlig
überraschend, angegriffen. Er sei zu Boden gefallen und mit
Füßen getreten worden. In dieser Situation habe er
das Messer gezogen, um sich zu verteidigen. Ob er Ü. To.
verletzt habe, wisse er nicht. Allerdings sei später "ein
wenig Blut" am Messer gewesen. Als er sich entfernte, habe man
versucht, mit einer Eisenstange auf ihn einzuschlagen.
3. Die Überzeugung der Strafkammer stützt sich auf
die Angaben mehrerer Zeugen, die "alle aus dem
´Lager´ des Getöteten stammen und mit
diesem befreundet" waren, und die, wenn auch nicht in allen
Einzelheiten, so doch in ihrem Kern übereinstimmend, das
Geschehen, so wie festgestellt, geschildert haben. Daher seien die
Angaben des Angeklagten und die ihn ebenfalls entlastenden Angaben des
Zeugen T. - die ihrerseits nicht in vollem Umfang mit den Angaben des
Angeklagten übereinstimmen - widerlegt.
Keinerlei Bedeutung hat die Strafkammer den jedenfalls in der Tendenz
eher den Angaben des Angeklagten als denen der Belastungszeugen
entsprechenden Angaben des Zeugen S. beigemessen. Dieser hatte sich
während der Hauptverhandlung bei einem lokalen Fernsehsender
gemeldet und ein Interview gegeben, in dem er seine Beobachtungen zum
Tatgeschehen schilderte. Die Strafkammer hat daraufhin -
außerhalb der Hauptverhandlung - das entsprechende "Videoband
angeschaut", in dem der Zeuge "nur von hinten und mit verstellter
Stimme erkennbar" war. Die Strafkammer hat das Videoband nicht zum
Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht, sondern den Fernsehredakteur,
der das Interview geführt hat, als Zeugen vernommen.
Anschließend hat sie S. zunächst polizeilich
vernehmen lassen und hat ihn dann in der Hauptverhandlung als Zeugen
gehört. Sie hat ihm wegen starker Widersprüche in
seinen verschiedenen Angaben insgesamt nicht geglaubt: Hatte er in dem
Interview noch angegeben, er habe kein Messer gesehen, hatte er in der
Hauptverhandlung von insgesamt vier Messern gesprochen.
Zusätzlich hat die Strafkammer bei der Würdigung der
Aussage dieses Zeugen auch erwogen, es sei wenig einsichtig,
daß er trotz der von ihm behaupteten Angst vor Repressalien
ein Interview gegeben hätte, da der Zeuge bei dem Interview
"von Personen, die ihn kennen, nach Auffassung der Kammer ohne weiteres
identifizierbar war". Die Revision macht geltend, diese
Erwägung belege eine Verletzung des
Unmittelbarkeitsgrundsatzes, da das Videoband nicht Gegenstand der
Hauptverhandlung war.
Ob, wie der Generalbundesanwalt meint, die Feststellungen zu der
Erkennbarkeit des Zeugen ausschließlich auf die Angaben des
Fernsehredakteurs zurückgehen und ob andernfalls das Urteil
auf dem (behaupteten) Verfahrensverstoß beruhen
könnte, braucht der Senat jedoch nicht zu entscheiden, da das
Urteil aus einem anderen Grund keinen Bestand haben kann:
4. Die Strafkammer hat im Rahmen der Prüfung der
Glaubwürdigkeit der Angaben des Angeklagten auch erwogen,
daß Ü. To. im Zusammenhang mit seiner
Tätigkeit als Türsteher schon wiederholt
straffällig geworden war. Ausweislich der
Urteilsgründe hat sie in der Hauptverhandlung die
Feststellungen und die Strafzumessungserwägungen der gegen
Ü. To. ergangenen Urteile des Amtsgerichts Wiesloch vom 18.
März 1998 und des Amtsgerichts Heilbronn vom 11. August 1998
verlesen und deren Inhalt zusammenfassend wiedergegeben. Die
Strafkammer kommt zu dem Ergebnis, diese Urteile zeigten,
"daß Ü. To. durchaus in entsprechenden Situationen
aggressiv reagierte". Allerdings habe er hierbei "nie grundlos
gewalttätig gehandelt"; seinem entsprechenden Verhalten ging
"vielmehr ... immer eine Vorgeschichte voraus". Es sei "deshalb"
auszuschließen, daß er, wie vom Angeklagten
behauptet, "ohne jegliche Veranlassung sogleich massiv
gewalttätig handelte".
5. Gegen diese Beweiswürdigung wendet sich die Revision mit
Recht:
a) Allerdings kann mit der Revision nicht gerügt werden, die
Beweisaufnahme habe anderes ergeben als im Urteil festgestellt. Anderes
gilt jedoch, wenn das Beweisergebnis, z. B. der Inhalt einer Urkunde,
mit den Mitteln des Revisionsrechts ohne Rekonstruktion der
Hauptverhandlung feststellbar ist (BGH StV 1993, 115; StV 1991, 549; w.
Nachw. b. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO, 44. Aufl. §
261 Rdn. 38a).
b) Die von der Revision mitgeteilten, von der Strafkammer verlesenen
Urteile ergeben folgendes:
(1) Das Amtsgericht Wiesloch verurteilte Ü. To. am 18.
März 1998 wegen gemeinschaftlich begangener
gefährlicher Körperverletzung zu einer zur
Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von vier Monaten.
Ausweislich der - gemäß § 267 Abs. 4 StPO
abgekürzten - Gründe jenes Urteils hatte Ü.
To. "ohne rechtfertigenden Grund" auf der Tanzfläche einer
Diskothek den H. mit der Faust geschlagen. H. ging zu Boden, wo er von
Ü. To. und zwei damaligen Mittätern getreten und mit
dem von Ü. To. geführten Baseball-Schläger
attackiert wurde. Als drei weitere Personen H. zur Hilfe eilten, wurden
auch diese mit Fäusten und dem Baseball-Schläger
angegriffen, wobei der Z. , nachdem er zu Boden gegangen war, ins
Gesicht getreten und bis zur Bewußtlosigkeit gewürgt
wurde. Der geflüchtete H. wurde vor der Tür zu Fall
gebracht, es wurde nochmals mit dem Baseball-Schläger auf ihn
eingeschlagen. Im Rahmen der Strafzumessung führte das
Amtsgericht Wiesloch aus, für die Angeklagten spreche,
daß sie "in ihrer Eigenschaft als Türsteher ...
möglicherweise Provokationen durch ihre Gäste
ausgesetzt" waren. Näheres ist hierzu nicht mitgeteilt.
(2) Unter Einbeziehung dieses Urteils wurde Ü. To. am 11.
August 1998 vom Amtsgericht Heilbronn wegen zweier Vergehen der
Sachbeschädigung zu einer zur Bewährung ausgesetzten
Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt. Das Amtsgericht
Heilbronn hat folgendes festgestellt:
(a) Die Türsteher einer Diskothek, darunter Ü. To. ,
ließen von vier Personen, die in die Diskothek wollten, nur
eine ein; deshalb kam es zu einer verbalen und dann auch
körperlichen Auseinandersetzung, deren Verlauf nicht
geklärt werden konnte. Die Beteiligten, die in die Diskothek
wollten, flüchteten zu ihrem PKW, da sie den
Türstehern "völlig unterlegen" waren. Am PKW stellten
sie fest, daß der (vierte) Angehörige ihrer Gruppe
nicht mehr dabei war. Sie fuhren "mit quietschenden Reifen" zur
Diskothek zurück, um ihn zu holen. Es gelang dem Fahrer nicht,
rechtzeitig zu halten, " so daß er - hiervon muß
zugunsten der Angeklagten .... ausgegangen werden -" gegen einen
Pfeiler prallte. To. sprang zur Seite und schlug aus Wut mit einem
Baseball-Schläger auf das Fahrzeug ein, an dem dadurch hoher
Sachschaden entstand.
(b) Im zweiten Fall schlug To. wieder mit einem
Baseball-Schläger auf einen wegfahrenden PKW ein. In diesem
befanden sich vier Personen, darunter T. , von denen zwei zuvor von dem
Türsteher Pu. nicht unerheblich verletzt worden waren.
Vorausgegangen war eine Auseinandersetzung, die sich daran
entzündet hatte, daß Pu. ohne erkennbaren Grund nur
zwei von den vier Personen Einlaß in die Diskothek
gewähren wollte. Bei der Strafzumessung hinsichtlich
Ü. To. hat das Amtsgericht Heilbronn zum Nachteil des
Angeklagten erwogen, "daß hier Auseinandersetzungen
provoziert werden, indem die Türsteher je nur Einzelne aus
ganzen Gruppen einlassen".
c) Diese Urteile tragen nicht die Erwägung, gegen die
Einlassung des Angeklagten spreche, daß To. ausweislich der
gegen ihn ergangenen Urteile niemals grundlos massiv
gewalttätig geworden sei.
(1) Werden in einem Verfahren mehrere Angeklagte abgeurteilt, so
können nicht Feststellungen, die nach dem Zweifelssatz zu
Gunsten eines Angeklagten getroffen sind, Grundlage für
Feststellungen zum Nachteil eines anderen Angeklagten sein (BGH StV
1996, 81; BGHR StPO § 261 in dubio pro reo 8 m. w. N.).
Ebensowenig können Feststellungen, die in einem
früheren Verfahren gegen den damaligen Angeklagten auf der
Grundlage des Zweifelssatzes getroffen wurden, in einem
späteren Verfahren Grundlage für Feststellungen zum
Nachteil des Angeklagten dieses Verfahrens sein. So verhält es
sich aber hier:
(a) Das Urteil des Amtsgerichts Wiesloch enthält keine
konkreten Anhaltspunkte für die Annahme, daß To.
oder einer seiner damaligen Mittäter von den damaligen
Geschädigten provoziert worden sind. Die dort nicht
näher ausgeführte Annahme, daß
"möglicherweise" derartige Provokationen vorausgegangen sind,
belegt allenfalls, daß derartige Provokationen nicht
auszuschließen waren, weshalb hiervon - nach dem Zweifelssatz
- zugunsten To. s ausgegangen wurde.
(b) Die Feststellungen zur ersten der vom Amtsgericht Heilbronn
abgeurteilten Taten sind ebenfalls zumindest teilweise (Anprall des
PKWs gegen den Pfeiler, der wiederum die Erregung To. s
auslöste) ausdrücklich auf den Zweifelssatz
gestützt.
(2) Hinsichtlich der zweiten vom Amtsgericht Heilbronn abgeurteilten
Tat ist der Zweifelssatz allerdings nicht berührt. Hier lag
jedoch eine auch To. nachteilig angelastete Provokation seitens der
Türsteher vor. Ein Unterschied zwischen dieser
"Vorgeschichte", der in der von der Strafkammer vorgenommenen
ausdrücklichen Abgrenzung zu dem hier festgestellten
Vortatgeschehen - To. war eine "Diskussion" (mit T. ) "leid" geworden -
für den Angeklagten nachteilige Schlußfolgerungen
hinsichtlich des nachfolgenden Verhaltens To. s ermöglichen
könnte, ist weder ausdrücklich dargelegt noch sonst
ersichtlich.
6. Angesichts der gesamten Beweislage kann der Senat nicht
ausschließen, daß sich die aufgezeigten
Mängel zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt haben. Die
Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
Nack Wahl Boetticher RiBGH Dr. Kolz ist in Urlaub
und kann daher nicht unterschreiben.
Schluckebier Nack |