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BGH, Urteil vom 1. Juli 2004 - 3 StR 107/04


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 1.7.2004 - 3 StR 107/04
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 107/04
vom
1. Juli 2004
in der Strafsache
gegen
alias:
wegen Mordes
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 1. Juli 2004,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach,
Winkler,
Pfister,
Becker
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt in der Verhandlung,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof bei der Verkündung
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts
Aurich vom 11. Dezember 2003 im Strafausspruch mit
den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an
eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Heimtückemordes unter
Anwendung der in der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen
(BGHSt 30, 105) entwickelten Grundsätze zur außergewöhnlichen Strafmilderung
zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Mit ihrer auf den Strafausspruch
beschränkten Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung
materiellen Rechts und beanstandet, daß das Landgericht keine lebenslange
Freiheitsstrafe verhängt hat. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts bewohnte der Angeklagte
mit vier anderen Chinesen ein Zimmer in einem Asylbewerberheim. Am Morgen
des 27. Mai 2003 tötete er den dort in seinem Bett schlafenden
W. ohne Vorwarnung durch mindestens 14 Stiche mit einem Küchenmesser
in Hals und Brust. Der Tat war folgendes Geschehen vorausgegangen: In der
Nacht zum 26. Mai 2003 hatte W. dem Angeklagten in erheblich
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alkoholisiertem Zustand eine teilweise gefüllte Bierflasche an den Kopf geworfen
und ihm dadurch eine Platzwunde zugefügt, die im Krankenhaus versorgt
werden mußte. Er hatte zudem gesagt, er schlage den Angeklagten tot. Obwohl
er sich Stunden später beim Angeklagten für sein Verhalten in der Nacht entschuldigt
hatte, entwickelte dieser eine zunehmende Furcht vor weiteren körperlichen
Angriffen. Im Verlauf des Tages entwarf der der deutschen Sprache
nicht mächtige Angeklagte unter Zuhilfenahme eines Wörterbuches einen Antrag,
mit dem er erreichen wollte, von W. getrennt zu werden. Als
er den Leiter des Asylbewerberheims am Abend nicht mehr antraf, entschied er
sich, den Antrag am nächsten Tag abzugeben. An diesem Morgen blieb er im
Bett liegen, bis die drei anderen Chinesen das Zimmer verlassen hatten. Nachdem
er ungefähr eineinhalb Stunden darüber nachgedacht hatte, tötete er den
W. aus der - unbegründeten - Furcht, dieser werde sonst ihn
töten, sowie aus Wut über die in der vorvergangenen Nacht erlittene Verletzung.
Dabei war ihm bewußt, eine Trennung von seinem Opfer auch durch den
von ihm vorbereiteten Antrag an den Leiter des Wohnheims erreichen zu können;
er sah dies aber nicht mehr als hinreichend sicher an.
2. Die vom Landgericht unter Anwendung der sog. Rechtsfolgenlösung
(BGHSt 30, 105) vorgenommene Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1
StGB hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
Diese Rechtsprechung trägt dem Umstand Rechnung, daß das Mordmerkmal
der Heimtücke auch in Fällen erfüllt sein kann, bei denen die Verhängung
der lebenslangen Freiheitsstrafe wegen des sonstigen Gepräges der Tat
das aus dem Grundgesetz abzuleitende Verbot unverhältnismäßigen staatlichen
Strafens verletzen würde. Eine abschließende Definition oder eine Aufzählung
der außergewöhnlichen Umstände, die in Fällen heimtückischer Tö-
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tung zur Verdrängung der lebenslangen Freiheitsstrafe führen können, hat der
Große Senat für Strafsachen für unmöglich gehalten, jedoch auf beispielhaft in
Betracht kommende Fallkonstellationen hingewiesen, u. a. auf in großer Verzweiflung
begangene oder aus gerechtem Zorn auf Grund einer schweren Provokation
verübte Taten, ebenso auf Taten, die in einem vom Opfer verursachten
und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren
Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig
bewegen, ihren Grund haben. Allerdings reicht nicht jeder Entlastungsfaktor,
der nach § 213 StGB Berücksichtigung finden würde, zur Annahme der Unverhältnismäßigkeit
der lebenslangen Freiheitsstrafe aus. Vielmehr kann das Gewicht
des Mordmerkmals der Heimtücke nur durch Entlastungsfaktoren, die den
Charakter außergewöhnlicher Umstände haben, so verringert werden, daß jener
Grenzfall eintritt, in welchem die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe
trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts wegen erheblich gemilderter
Schuld unverhältnismäßig wäre (vgl. Senat NStZ 1982, 69). Ob diese
Voraussetzungen vorliegen, hat der Tatrichter aufgrund einer umfassenden
Würdigung der Tat sowie der zu ihr hinführenden Umstände zu prüfen (Senat
NStZ 1982, 69; BGH NStZ 1984, 20; BGHR StGB § 211 Abs. 1 Strafmilderung
2 und 3).
Wie der Generalbundesanwalt zutreffend dargelegt hat, wird das angefochtene
Urteil dieser Anforderung nicht gerecht. Das Landgericht hat zu Gunsten
des Angeklagten gewertet, daß sich dieser, nachdem er kurz zuvor Opfer
einer grundlosen gefährlichen Körperverletzung des Getöteten geworden war,
zum Zeitpunkt der Tat in einem Zustand tatsächlicher Todesangst befand. Ob
sich die Tat deshalb - wie das Landgericht meint - im Grenzbereich des § 35
Abs. 2 StGB bewegte (freilich ohne die Voraussetzungen dieser Vorschrift zu
erfüllen), kann dahinstehen; denn jedenfalls hat die Strafkammer nicht berück-
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sichtigt, daß sich bis zu jener Körperverletzung das Verhältnis zwischen dem
Angeklagten und dem Opfer als gut und problemlos dargestellt hatte, der
Übergriff des Opfers auf den Angeklagten in erkennbar erheblich alkoholisiertem
Zustand geschehen war, sich das Opfer alsbald danach dafür entschuldigt
hatte und seither nur eine kurze Zeit vergangen war, weshalb das Bestehen
einer für den Angeklagten zermürbenden, nahezu ausweglosen, notstandsnahen
Situation schwerster seelischer Bedrängnis oder Erregung, die der Tat den
Stempel des Außergewöhnlichen aufgedrückt hätte (vgl. BGH NJW 1983, 54,
55; NStZ 1983, 553, 554; 1984, 20; 1990, 490; 1995, 231; 2003, 146), eher
ferngelegen hatte. Zudem läßt das Urteil unerörtert, daß der Angeklagte zu der
Tat auch durch die Wut über den in seinen Augen grundlosen Wurf mit der
Bierflasche und die damit einhergehende Ehrkränkung und Verletzung motiviert
worden war.
Tolksdorf Miebach Winkler
Pfister Becker



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