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BGH, Urteil vom 11. Dezember 2003 - 3 StR 120/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 11.12.2003 - 3 StR 120/03
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
StGB §§ 227, 228
BtMG § 30 Abs. 1 Nr. 3
1. § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in der Tatvariante des Verabreichens von Betäubungsmitteln
mit Todesfolge steht zu § 227 Abs. 1 StGB nicht im Verhältnis
privilegierender Spezialität.
2. Zur Rechtswidrigkeit einer Körperverletzung, die durch das einverständliche
Verabreichen illegaler Betäubungsmittel bewirkt wird.
BGH, Urt. vom 11.12.2003 - 3 StR 120/03 - LG Kiel
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
3 StR 120/03
vom
11.12.2003
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung mit Todesfolge u. a.
- 2 -
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung
vom 16.10.2003 in der Sitzung am 11.12.2003, an denen teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach,
Winkler,
Becker,
Hubert
als beisitzende Richter,
Leitender Oberstaatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
- in der Verhandlung vom 16.10.2003 -
als Verteidiger,
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Kiel vom 6. Januar 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge
in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Verabreichen von Betäubungsmitteln
zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen
Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I. Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte den Geschädigten
M. im Jahre 1997 kennengelernt. M. war alkoholabhängig und litt
unter Krampfanfällen, zu deren Vermeidung er Medikamente einnahm. Sein
körperlicher Zustand war schlecht. Seine Hände zitterten und die Funktion seiner
Beine war gestört, so daß er ein behindertengerechtes dreirädriges Fahrrad
benutzen mußte. Nachdem der Angeklagte erfahren hatte, daß M. gelegentlich
Heroin spritzte, konsumierte er zweimal mit ihm zusammen Heroin.
Während der Angeklagte dabei das Rauschgift rauchte, injizierte sich M.
das Heroin. Danach machte er auf den Angeklagten in beiden Fällen einen
"weggetretenen" Eindruck, reagierte jedoch auf Ansprache. Am Abend des
23. August 2001 traf der Angeklagte den M. , der sich mit Zechkumpa-
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nen vor einem Supermarkt aufhielt und eine Dose Bier in der Hand hatte.
M. hatte zu diesem Zeitpunkt bereits erhebliche Mengen Bier getrunken,
zeigte wegen seiner Alkoholgewöhnung jedoch keine Ausfallerscheinungen.
Der Angeklagte und M. kamen überein, gemeinsam 1 g Heroin zu konsumieren.
Absprachegemäß besorgte der Angeklagte das Rauschgift und begab
sich damit zur Wohnung des M. . Nachdem beide dort zunächst
weiteren Alkohol getrunken hatten, holte der Angeklagte aus seiner nahegelegenen
Wohnung ein Spritzenbesteck. Er kochte die Hälfte des erworbenen Heroins
mit Ascorbinsäure und etwas Wasser auf und injizierte sich das Rauschgift.
Dessen Wirkung empfand er gemessen an seiner langjährigen Erfahrung
als normal; es stellte sich bei ihm ein leichter Rauschzustand ein.
Nachdem die Spritze in heißem Wasser desinfiziert worden war, kochte
der Angeklagte die andere Hälfte des Heroins auf. M. band sich den
Arm ab, konnte sich wegen des Zitterns seiner Hände die Spritze aber nicht
mehr selbst setzen. Er bat daher den Angeklagten, ihm das Heroin zu injizieren
und hielt ihm hierzu seine linke Armbeuge entgegen. Der Angeklagte kam der
Bitte nach. Alsbald nach der Injektion verstarb M. an einer Heroinintoxikation,
die sein Atemzentrum lähmte. Der Todeseintritt wurde durch die erhebliche
Alkoholisierung des M. (Blutalkoholkonzentration von
2,33 o/oo) "begünstigt".
Das Landgericht ist der Ansicht, der Angeklagte habe sich der Körperverletzung
mit Todesfolge (§ 227 Abs. 1 StGB) schuldig gemacht, denn in dem
Tod des Geschädigten habe sich das mit der Körperverletzung in Form der Heroininjektion
typischerweise verbundene Risiko verwirklicht, was der Angeklagte,
der zwar nicht leichtfertig im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG gehandelt
habe, jedenfalls im Sinne einfacher Fahrlässigkeit habe vorhersehen und vermeiden
können. Die Körperverletzung sei auch nicht gerechtfertigt, denn sie
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habe trotz der Einwilligung des Geschädigten gegen die guten Sitten verstoßen
(§ 228 StGB). Der Irrtum des Angeklagten über die "Wirksamkeit der Einwilligung"
sei vermeidbar gewesen (§ 17 StGB).
II. Der Schuldspruch hält revisionsgerichtlicher Prüfung aufgrund der erhobenen
Sachrüge nicht stand.
1. a) Rechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings, daß sich das Landgericht,
nachdem es eine leichtfertige Todesverursachung im Sinne des § 30
Abs. 1 Nr. 3 BtMG nicht festzustellen vermochte, nicht von vornherein daran
gehindert gesehen hat, den Angeklagten der Körperverletzung mit Todesfolge
nach § 227 Abs. 1 StGB schuldig zu sprechen. Denn § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in
der Tatvariante des Verabreichens von Betäubungsmitteln mit Todesfolge steht
zu § 227 Abs. 1 StGB nicht im Verhältnis privilegierender Spezialität (vgl. hierzu
allg. Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. vor §§ 52 ff. Rdn. 136), die zur
Folge hätte, daß § 227 Abs. 1 StGB nicht anwendbar ist, wenn eine Verurteilung
nach § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG mangels Leichtfertigkeit der Todesverursachung
nicht in Betracht kommt.
Privilegierende Spezialität als besondere Form der Gesetzeskonkurrenz
liegt vor, wenn ein Strafgesetz alle Merkmale einer anderen Strafvorschrift aufweist
und sich nur dadurch von dieser unterscheidet, daß es wenigstens noch
ein weiteres Merkmal enthält, das den in Frage kommenden Sachverhalt unter
einem genaueren (spezielleren) Gesichtspunkt erfaßt (BGH NJW 1999, 1561;
Rissing-van Saan in LK 11. Aufl. vor §§ 52 ff. Rdn. 73 m. w. N.) und der Täter
durch die Spezialvorschrift privilegiert werden soll. In diesem Fall ist ein Rückgriff
auf das allgemeinere Delikt ausgeschlossen, da hierdurch die Privilegierung
beseitigt würde (vgl. BGHSt 30, 235, 236). Ob die speziellere Vorschrift
den Täter begünstigen soll, ist anhand des Zwecks dieser Vorschrift, des inne-
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ren Zusammenhangs der miteinander konkurrierenden Bestimmungen und des
Willens des Gesetzgebers zu prüfen (BGHSt 19, 188, 190; 24, 262, 266; Rissing-
van Saan aaO).
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen privilegierender
Spezialität hier nicht vor. Zwar könnte es auf ein derartiges Konkurrenzverhältnis
der beiden Vorschriften hindeuten, daß § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG die Todesfolge,
die als notwendiges Durchgangsstadium zum Todeseintritt objektiv stets
auch eine Körperverletzung beinhaltet (vgl. BGHSt 44, 196, 199; BGH NStZ
1995, 79, 80; 1997, 233, 234), nur bei leichtfertiger Herbeiführung des Todes
zur Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes genügen läßt und hierfür lediglich
Freiheitsstrafe von nicht unter zwei Jahren androht, während § 227
Abs. 1 StGB Freiheitsstrafe von nicht unter drei Jahren vorsieht, obwohl hier für
die Verursachung des Todes jede Form der Fahrlässigkeit zur Tatbestandserfüllung
ausreicht (§ 18 StGB). Indessen steht der Annahme privilegierender
Spezialität entgegen, daß die Verabreichung von Betäubungsmitteln mit Todesfolge
nicht in jedem Fall alle tatbestandlichen Voraussetzungen der Körperverletzung
mit Todesfolge erfüllt; denn das vorsätzliche Verabreichen von Betäubungsmitteln
(§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG) beinhaltet nicht notwendig
eine vorsätzliche Körperverletzung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB.
Betäubungsmittel können bei ihrem Konsumenten Wirkungen hervorrufen,
die sich als Gesundheitsschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB darstellen.
Dies ist insbesondere der Fall, wenn sie zu Rauschzuständen, körperlichem
Unwohlsein - insbesondere nach Abklingen der Rauschwirkungen - oder
zur Suchtbildung bzw. zu Entzugserscheinungen führen (BGH NJW 1970, 519;
vgl. auch Lilie in LK 11. Aufl. § 223 Rdn. 14 m. w. N.). Wer Betäubungsmittel
verabreicht, hierdurch derartige Wirkungen bzw. Erscheinungen bei dem Betroffenen
erzielt und dies zumindest im Sinne bedingten Vorsatzes billigend in
- 7 -
Kauf nimmt, verwirklicht daher den objektiven und subjektiven Tatbestand der
vorsätzlichen Körperverletzung. Jedoch muß nicht jeder Betäubungsmittelkonsum
bzw. jede Betäubungsmittelgabe zu einer Gesundheitsschädigung im dargestellten
Sinne führen. Insbesondere beim Konsum leichter Drogen in geringer
Dosis müssen die normalen Körperfunktionen nicht derart nachteilig beeinflußt
werden, daß von einem - sei es auch nur vorübergehenden - pathologischen
Zustand (vgl. BGHSt 43, 346, 354 m. w. N.) gesprochen werden kann. Wer bei
der Verabreichung von Betäubungsmitteln nur derartige Wirkungen hervorrufen
will oder billigend in Kauf nimmt, macht sich daher nicht der vorsätzlichen Körperverletzung
schuldig. Dementsprechend begeht er auch keine vorsätzliche
Körperverletzung mit Todesfolge, wenn aufgrund besonderer Umstände - etwa
allergischer Reaktionen, gesundheitlicher Vorschädigungen des Betroffenen
oder sonstiger konstellativer Faktoren - die Wirkungen des Betäubungsmittels
unvorhergesehen zum Tod des Opfers führen. Konnte und mußte er diese
mögliche Folge voraussehen, so kommt, wenn er insoweit leichtfertig handelte,
eine Verurteilung nach § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in Betracht. Trifft ihn lediglich
der Vorwurf einfacher Fahrlässigkeit, ist nur ein Schuldspruch nach § 222 StGB
möglich. Kann ihm die Todesfolge überhaupt nicht vorgeworfen werden, ist er
allein nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG zu bestrafen. Eine Verurteilung
wegen Körperverletzung mit Todesfolge scheidet dagegen aus.
Beinhaltet danach aber nicht jede Verabreichung von Betäubungsmitteln
(mit Todesfolge) notwendig eine vorsätzliche Körperverletzung (mit Todesfolge),
so ist trotz des im Vergleich zu § 227 Abs. 1 StGB für die Todesfolge in
§ 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG geforderten erhöhten Grades der Fahrlässigkeit bei
gleichzeitig niedrigerer Strafrahmenuntergrenze das systematische und konkurrenzrechtliche
Verhältnis der beiden Vorschriften anders als im Sinne privilegierender
Spezialität zu deuten: Die höhere Strafrahmenuntergrenze des § 227
Abs. 1 StGB beruht darauf, daß diese Vorschrift über die tatbestandlichen Vor-
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aussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG hinaus stets das Vorliegen einer vorsätzlichen
Körperverletzung voraussetzt.
b) Der Angeklagte hat sich auch nicht straflos an einer eigenverantwortlichen
Selbstverletzung bzw. Selbsttötung M. s beteiligt. Seine Verurteilung
wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts ist daher auch nicht
unter diesem Gesichtspunkt ausgeschlossen.
Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unterfällt
die eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung
grundsätzlich nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts,
wenn sich das mit der Gefährdung vom Opfer bewußt eingegangene
Risiko realisiert. Wer eine solche Gefährdung veranlaßt, ermöglicht oder fördert,
kann daher nicht wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts verurteilt
werden; denn er nimmt an einem Geschehen teil, welches - soweit es um die
Strafbarkeit wegen Tötung oder Körperverletzung geht - kein tatbestandsmäßiger
und damit kein strafbarer Vorgang ist (grundlegend BGHSt 32, 262 ff.; siehe
auch BGHSt 46, 279, 288 f.; BGH NStZ 2001, 205; BGH NJW 2003, 2326,
2327 jew. m. w. N.). Maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen strafloser
Beteiligung an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bzw. -verletzung
und einer - grundsätzlich tatbestandsmäßigen - Fremdgefährdung oder -verletzung
eines anderen ist damit die Trennungslinie zwischen Täterschaft und
Teilnahme. Liegt die Tatherrschaft über die Gefährdungshandlung nicht allein
bei dem Gefährdeten, sondern zumindest auch bei dem sich hieran Beteiligenden,
begeht dieser eine eigene Tat und kann nicht aus Gründen der Akzessorietät
wegen fehlender Haupttat des Geschädigten straffrei sein (s. insg., auch
zu gegenteiligen Ansichten in Rechtsprechung und Schrifttum BGH NJW 2003,
2326, 2327). In diesen Fällen stellt sich vielmehr die Frage, ob der täterschaftlich
Handelnde aufgrund der Einwilligung des Geschädigten gerechtfertigt ist.
- 9 -
Im Hinblick darauf, daß der Angeklagte das Injizieren des Heroins bei
M. eigenhändig vornahm, und insbesondere, weil dieser sich die Spritze
nicht selbst setzen konnte, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei täterschaftliches
Handeln des Angeklagten angenommen. Die Tatsache, daß die Injektion
auch vom Willen und der Mitwirkung M. s abhing, ändert hieran nichts.
c) Es ist danach nicht zu beanstanden, daß das Landgericht die objektiven
und subjektiven tatbestandlichen Voraussetzungen des § 227 Abs. 1 StGB
als erfüllt angesehen hat: Der Angeklagte wollte bei M. durch die Heroininjektion
einen Rauschzustand und damit eine Gesundheitsbeschädigung
im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB hervorrufen. Die Wirkungen des Heroins führten
indessen zum Tod des Opfers. Damit verwirklichte sich eine spezifische
Gefahr, die mit der bewußt vorgenommenen Körperverletzung verbunden war.
Daß diese Folge - angesichts der generellen Gefährlichkeit des Heroinkonsums,
der deutlichen Alkoholisierung M. s und dessen gesundheitlicher
Vorschädigung - für den Angeklagten vorhersehbar und vermeidbar war, hat
das Landgericht, entgegen der Ansicht der Revision, ebenfalls rechtsfehlerfrei
dargelegt.
2. Dagegen halten die Ausführungen des Landgerichts zu einer möglichen
Rechtfertigung der Körperverletzungstat durch die Einwilligung M.
s sowie zu der damit zusammenhängenden Irrtumsproblematik rechtlicher
Prüfung nicht stand. Das Landgericht ist der Ansicht, die Körperverletzung sei
rechtswidrig, weil sie trotz der Einwilligung M. s in die Heroininjektion
gegen die guten Sitten verstoßen habe (§ 228 StGB). Dies trifft zwar im Ergebnis
zu. Jedoch hat das Landgericht die Grundlagen dieses Sittenwidrigkeitsurteils
nicht zutreffend erkannt. Damit hat es sich den Blick auf eine rechtsfehlerfreie
Beurteilung der Irrtumsfragen verstellt.
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a) Gemäß § 228 StGB ist die mit Einwilligung der verletzten Person vorgenommene
Körperverletzung rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung
gegen die guten Sitten verstößt. Das Strafgesetzbuch knüpft somit die Rechtsfolgen
der Einwilligung an außerrechtliche, ethischmoralische Kategorien. Die
Prüfung der Rechtfertigung der Körperverletzungstat durch die Einwilligung des
Geschädigten ist daher in diesem Punkt weniger ein Akt normativ-wertender
Gesetzesauslegung als vielmehr ein solcher empirischer Feststellung bestehender
Moralüberzeugungen. Der Begriff der guten Sitten ist für sich gesehen
allerdings konturenlos. Wird er als strafbegründendes Element in das Strafrecht
integriert, gerät er in Konflikt mit dem grundgesetzlichen Bestimmtheitsgebot
(Art. 103 Abs. 2 GG). Es sind daher verfassungsrechtliche Bedenken gegen
§ 228 StGB erhoben worden (vgl. die Nachw. bei Stree in Schönke/Schröder
aaO § 228 Rdn. 6). Diese teilt der Senat nicht. Jedoch muß der Begriff der guten
Sitten auf seinen Kern beschränkt werden. Nur dann ist dem Gebot der
Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens genügt. Dies bedeutet, daß ein Verstoß
der Körperverletzungstat gegen die guten Sitten nur angenommen werden
kann, wenn sie nach allgemein gültigen moralischen Maßstäben, die vernünftigerweise
nicht in Frage gestellt werden können, mit dem eindeutigen Makel der
Sittenwidrigkeit behaftet ist (Stree in Schönke/Schröder aaO). In diesem Sinne
ist eine Körperverletzung trotz Einwilligung des Geschädigten nach der allgemein
gebrauchten Umschreibung dann sittenwidrig, wenn sie gegen das Anstandsgefühl
aller billig und gerecht Denkenden verstößt (vgl. BGHSt 4, 24, 32;
4, 88, 91; Hirsch in LK 11. Aufl. § 228 Rdn. 6 m. w. N.). Ein Verstoß gegen die
Wertvorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder des mit der Tat
befaßten Strafgerichts genügt daher nicht. Läßt sich nach diesen Maßstäben
die Sittenwidrigkeit nicht sicher feststellen, scheidet eine Verurteilung wegen
eines Körperverletzungsdelikts aus (Stree aaO und Hirsch aaO Rdn. 2 jew.
m. w. N.).
- 11 -
Die allgemein gültigen, vernünftigerweise nicht anzweifelbaren sittlichen
Wertmaßstäbe sind allgemeinkundig. Sie stehen daher der Kenntnisnahme
durch das Revisionsgericht offen, ohne daß es ihrer Darlegung im tatrichterlichen
Urteil bedarf (vgl. BGHSt 6, 292, 296; BayObLGSt 1987, 171, 173; OLG
Düsseldorf NJW 1993, 2452, 2453; Kuckein in KK 5. Aufl. § 337 Rdn. 3; Meyer-
Goßner/Cierniak StV 2000, 696, 699).
Nach dem Wortlaut des § 228 StGB ist entscheidend, ob die Tat gegen
die guten Sitten verstößt. Unerheblich ist daher, ob dieser Makel - auch oder
nur - der Einwilligung anhaftet (BGHSt 4, 88, 91; BGH NStZ 2000, 87, 88).
Demgemäß kann die Prüfung der Sittenwidrigkeit der Tat nicht allein daran anknüpfen,
ob mit der Tat verwerfliche Zwecke verfolgt werden, etwa weil sie der
Vorbereitung, Vornahme, Verdeckung oder Vortäuschung einer Straftat (so
aber Horn/Wolters in SK-StGB 57. Lfg. - August 2003 - § 228 Rdn. 9) oder anderen
unlauteren Zielen dienen. Vielmehr ist immer in Betracht zu nehmen, ob
die Körperverletzung wegen des besonderen Gewichts des jeweiligen tatbestandlichen
Rechtsgutsangriffs, namentlich des Umfangs der vom Opfer hingenommenen
körperlichen Mißhandlung oder Gesundheitsschädigung und des
Grades der damit verbundenen weiteren Leibes- oder Lebensgefahr, als unvereinbar
mit den guten Sitten erscheint (vgl. Hirsch aaO Rdn. 9). Ob mit der Tat
verfolgte weitergehende - unlautere - Zwecke ebenfalls für das Sittenwidrigkeitsurteil
relevant sind (vgl. dazu die Nachw. bei Hirsch aaO Rdn. 8 sowie
Stree aaO Rdn. 7; s. aber auch BGHSt 38, 83, 87, wo die Sittenwidrigkeit der
Tat wegen der Geringfügigkeit der Verletzungen trotz des mit der Körperverletzung
verfolgten verwerflichen Zwecks - vorgetäuschte Geiselnahme - verneint
wurde), kann der Senat in vorliegendem Fall offen lassen. Denn weder der Geschädigte
M. noch der Angeklagte verfolgten mit der Heroininjektion
einen weitergehenden Zweck, als bei M. einen Rauschzustand herbeizuführen.
Dieser ist aber unmittelbares Symptom der durch das Heroin bewirk-
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ten Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB. Eine über die
Tat hinausreichende Zwecksetzung ist daher nicht erkennbar. Der Makel der
Sittenwidrigkeit kann daher der Tat allein wegen des Maßes der Rechtsgutsverletzung
und der damit verbundenen weitergehenden Gefahren für dessen
Leib und Leben zukommen.
b) Danach gilt hier folgendes:
aa) Entgegen der Ansicht des Landgerichts war die einverständliche Heroininjektion
nicht schon deswegen sitten- und damit gemäß § 228 StGB
rechtswidrig, weil sich der Angeklagte durch die Tat jedenfalls nach § 29 Abs. 1
Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG strafbar gemacht hat. § 228 StGB beschränkt unter
Heranziehung ethischmoralischer Maßstäbe die Freiheit des einzelnen,
über sein Individualrechtsgut der körperlichen Unversehrtheit nach freiem Belieben
zu disponieren. Hiervon zu trennen ist der Schutz anderer, überindividueller
Rechtsgüter, über die der einzelne nicht verfügen kann. Hält es der Gesetzgeber
für erforderlich, eine Handlung, die die Gefahr einer Körperverletzung
in sich birgt, zum Schutz derartiger Universalrechtsgüter - etwa der Sicherheit
des Straßenverkehrs in § 315 c StGB oder der Volksgesundheit in § 29 BtMG -
in gesonderten Vorschriften unter Strafe zu stellen, ist die Einwilligung des
durch eine derartige Handlung tatsächlich in seiner körperlichen Unversehrtheit
oder Gesundheit Geschädigten für die Strafbarkeit des Täters nach diesen Vorschriften
ohne Belang (vgl. BGHSt 6, 232, 234; 23, 261, 264). Die Einwilligung
M. s hätte somit einer Verurteilung des Angeklagten nach § 30 Abs. 1
Nr. 3 BtMG nicht entgegengestanden (vgl. BGHSt 37, 179, 181 ff.) und kann
auch den Schuldspruch nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG nicht
hindern. Andererseits läßt sich aus dem strafrechtlichen Schutz derartiger Universalrechtsgüter,
auch wenn sie mittelbar den Schutz von Individualrechtsgütern
mitbewirken (s. BGHSt 23, 261, 264; 37, 179, 182), nichts für die Beant-
13 -
wortung der Frage ableiten, ob im konkreten Einzelfall die Einwilligung des Geschädigten
in die Verletzung des Individualrechtsguts seiner körperlichen Unversehrtheit
mit allgemein anerkannten sittlichen Wertvorstellungen unvereinbar
ist (vgl. BGHSt 6, 232, 234; OLG Hamm MDR 1971, 67; BayObLGSt 1977, 105,
106 f.; Endriß/Malek, Betäubungsmittelstrafrecht 2. Aufl. Rdn. 370).
bb) Der Senat vermag nicht zu erkennen, daß der Konsum illegaler Drogen
nach heute allgemein anerkannten, nicht anzweifelbaren Wertvorstellungen
generell noch als unvereinbar mit den guten Sitten angesehen wird. Gleiches
gilt für eine Körperverletzung, die durch das einverständliche Verabreichen eines
illegalen Betäubungsmittels verursacht wird. Entsprechend erachten es
auch verschiedene Autoren im strafrechtlichen Schrifttum für möglich, daß eine
durch das Verabreichen von Betäubungsmitteln bewirkte Körperverletzung
durch die Einwilligung des Betroffenen gerechtfertigt sein kann (s. etwa Hirsch
aaO Rdn. 50; Weber, BtMG 2. Aufl. § 29 Rdn. 1016; Endriß/Malek aaO). Unter
welchen Voraussetzungen oder Umständen eine Gesundheitsschädigung durch
einvernehmliches Verabreichen von Betäubungsmitteln nach allgemein anerkannten
moralischen Maßstäben sittlich verwerflich ist, entzieht sich allerdings
genereller Betrachtung. Allgemein reicht hierfür allein das Verabreichen auch
harter Drogen nicht aus. Maßgeblich ist vielmehr, ob und in welchem Grad
durch die konkrete Tat Gesundheits- bzw. Suchtgefahren begründet oder verstärkt
werden. Nach allgemeinem sittlichen Empfinden ist die Grenze moralischer
Verwerflichkeit dann überschritten, wenn bei vorausschauender objektiver
Betrachtung aller maßgeblichen Umstände der Betroffene durch das Verabreichen
des Betäubungsmittels in konkrete Todesgefahr gebracht wird. So lag es
aber hier. M. wurde wegen seiner gesundheitlichen Vorschädigung und
der bereits bestehenden Alkoholintoxikation durch die Heroininjektion unmittelbar
in Lebensgefahr gebracht. Tatsächlich hat sie auch seinen Tod herbeigeführt.
Trotz der Einwilligung M. s in die Injektion war die vom Ange-
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klagten hierdurch begangene Körperverletzung daher gemäß § 228 StGB
rechtswidrig. Insoweit ist dem Landgericht im Ergebnis zu folgen.
cc) Jedoch erweisen sich auf dieser Grundlage die Darlegungen des
Landgerichts zu dem Irrtum des Angeklagten über "die Wirksamkeit der Einwilligung"
als rechtlich nicht tragfähig. Die Sitten- und damit Rechtswidrigkeit der
Körperverletzung trotz der Einwilligung des Opfers folgt hier aus der konkreten
Lebensgefahr, die durch die Heroininjektion für M. entstand. Erkannte
der Angeklagte diese Gefahr nicht, etwa weil er die Schwere der gesundheitlichen
Vorschädigung und das Maß der - den Todeseintritt "begünstigenden" -
Alkoholisierung unzutreffend einschätzte und davon ausging, das Heroin könne
- wie zuvor bei ihm selbst - lediglich zu einem leichten Rauschzustand führen,
irrte er nicht über die sittliche und damit rechtliche Bewertung der Tat nach
§ 228 StGB, sondern über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes.
Ein derartiger Erlaubnistatbestandsirrtum ist nicht als Verbotsirrtum
(§ 17 StGB), sondern entsprechend den Regeln des Tatbestandsirrtums
nach § 16 Abs. 1 StGB zu behandeln (BGHSt 31, 264, 286 f. m. w. N.; vgl. auch
Stree aaO § 228 Rdn. 12). Das Vorliegen eines solchen Irrtums hat das Landgericht
nicht geprüft. Positiv festgestellt hat es lediglich, daß der Angeklagte die
Gefährlichkeit seines Tuns hätte erkennen können. Die Verurteilung des Angeklagten
wegen Körperverletzung mit Todesfolge kann daher keinen Bestand
haben. Dies führt zur Aufhebung des gesamten Urteils, auch wenn der Schuldspruch
wegen tateinheitlichen Verabreichens von Betäubungsmitteln (§ 29
Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchst. b BtMG) rechtlich nicht zu beanstanden ist.
III. 1. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird vorab
zu prüfen haben, ob M. angesichts seines körperlichen und geistigen
Zustands überhaupt noch eine wirksame Einwilligung abgeben konnte oder ihm
nicht vielmehr bereits die hierfür erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit
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fehlte (vgl. BGHSt 4, 88, 90; BGH NStZ 2000, 87, 88; Lenckner in Schönke/
Schröder aaO vor §§ 32 ff. Rdn. 39 f. m. w. N.). War letzteres der Fall, wird sich
aber auch insoweit die Frage stellen, ob der Angeklagte dies erkannte oder sich
insoweit in einem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen einer wirksamen
Einwilligung befand.
2. Eine Rechtfertigung der in Betracht kommenden fahrlässigen Tötung
durch die Einwilligung M. s in die sein Leben gefährdende Handlung
des Angeklagten scheidet schon wegen der Sittenwidrigkeit der Körperverletzungstat
aus (Lenckner aaO Rdn. 104 a. E.). Es kann daher dahinstehen, ob
der Ansicht des 4. Strafsenats zu folgen wäre, bei tatsächlich eingetretenem
Tod könne die Einwilligung des Opfers in die Lebensgefährdung in keinem Fall
rechtfertigende Wirkung hinsichtlich der Todesfolge entfalten, obwohl dieselbe
Handlung, soweit sie lediglich die Körperverletzung eines anderen Geschädigten
bewirkt, durch dessen Einwilligung gerechtfertigt sein kann (BGHSt 4, 88,
93; BGH VRS 17, 277, 279; BGH, Beschl. vom 20. Juni 2000 - 4 StR 162/00,
insoweit in NStZ 2000, 583 nicht abgedruckt; vgl. demgegenüber die beachtlichen
Argumente bei Lenckner aaO Rdn. 104 m. w. N.).
Tolksdorf Miebach Winkler
Becker Hubert



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