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BGH, Urteil vom 12. Februar 2004 - 3 StR 185/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 12.2.2004 - 3 StR 185/03
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
StPO § 255 a
1. Macht ein Zeuge nachträglich von seinem Zeugnisverweigerungsrecht nach
§ 52 StPO Gebrauch, darf die Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen
Vernehmung nach § 255 a Abs. 1 StPO i. V. m. § 252 StPO nicht
zu Beweiszwecken vorgeführt werden, obgleich auf das weniger zuverlässige
Beweismittel der Vernehmung des Richters zurückgegriffen werden kann.
2. Die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO
scheidet aus, wenn der Beschuldigte gem. § 168 c Abs. 3 StPO bei der ermittlungsrichterlichen
Vernehmung ausgeschlossen war und daher keine
Gelegenheit zur Mitwirkung hatte. Dies gilt auch dann, wenn sein Verteidiger
an dieser Vernehmung teilgenommen hat.
3. Sind die Voraussetzungen des § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO erfüllt, kann der
Zeuge durch nachträgliche Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts
die Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung
nicht verhindern (nicht entscheidungstragend).
BGH, Urt. vom 12.02.2004 - 3 StR 185/03 - LG Duisburg
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 185/03
vom
12.02.2004
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Körperverletzung mit Todesfolge
- 2 -
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung vom
15. Januar 2004, in der Sitzung am 12.02.2004, an denen teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach,
Winkler,
Becker,
Hubert
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof ,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger des Angeklagten Bekim B. ,
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
- 4 -
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Duisburg vom 26. November 2002 mit den Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge
zu Freiheitsstrafen von zehn Jahren (Bekim B. ) beziehungsweise
sieben Jahren (Mehrije B. ) verurteilt. Mit ihren Revisionen machen die
Angeklagten die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts geltend. Die
Rechtsmittel haben mit einer von beiden Angeklagten erhobenen Verfahrensrüge
Erfolg.
Zu Recht beanstanden die Beschwerdeführer, daß die Strafkammer die
Videoaufzeichnung einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung ihres gemeinsamen
Sohnes Mirsad vorgeführt und bei der Urteilsfindung verwertet hat.
I.
- 5 -
Den Rügen liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Am Morgen des 22. April 2002 verstarb Ceylan B. , die dreijährige
Tochter der Angeklagten, an den Folgen von Mißhandlungen, die ihr - nach
den Feststellungen des Landgerichts - die Angeklagten in der vorangegangenen
Nacht zugefügt hatten. Da deren Sohn Mirsad B. als Tatzeuge in Betracht
kam, beantragte die Staatsanwaltschaft für den knapp fünfjährigen Mirsad
die Einrichtung einer Ergänzungspflegschaft mit dem Wirkungskreis "Entscheidung
über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts (und) Erteilung
der Aussagegenehmigung nach § 52 StPO". Mit Beschluß vom 24. April 2002
bestellte das Amtsgericht das Jugendamt zum Ergänzungspfleger, das seinerseits
mit der Wahrnehmung der Pflegschaft eine Mitarbeiterin beauftragte. Diese
erklärte am 26. April 2002 schriftlich gegenüber dem Polizeipräsidium, daß
im Strafverfahren gegen die Angeklagten auf die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts
gemäß § 52 StPO verzichtet und die Zustimmung zur Vernehmung
erteilt werde.
Der Ermittlungsrichter bestimmte daraufhin Termin zur Vernehmung Mirsads,
verständigte hiervon die Verteidiger der Angeklagten und schloß diese
selbst gemäß § 168 c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit bei der Vernehmung
mit der Begründung aus, es sei zu befürchten, daß das Kind in Gegenwart der
Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde. Am 29. April 2002 wurde Mirsad
in Gegenwart des Verteidigers der Angeklagten Mehrije B. als Zeuge vernommen,
nachdem ihn der Ermittlungsrichter zu Beginn der Vernehmung über
sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt hatte. Mirsad beantwortete die Frage,
ob er die Belehrung verstanden habe, mit einem Kopfnicken und war zur Aussage
bereit. Er gab an, die Angeklagten hätten seine Schwester Ceylan und
ihn mißhandelt, wobei der Angeklagte Ceylan mit einem Gürtel geschlagen ha-
6 -
be. Die Vernehmung wurde zeitgleich von zwei Kameras aus verschiedenen
Perspektiven aufgenommen und auf Videobänder aufgezeichnet.
Im Hauptverhandlungstermin vom 24. September 2002 gab die Mitarbeiterin
des Jugendamtes in Wahrnehmung der Ergänzungspflegschaft folgende
Erklärung ab: "Ich bin befugt, insoweit die elterliche Gewalt auszuüben, daß
ich auch über das Zeugnisverweigerungsrecht von Mirsad B. entscheiden
kann. Mirsad B. macht von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.
Er ist das Kind der Angeklagten und soll mit den Eltern nicht konfrontiert werden."
Die Strafkammer sah daraufhin von der zunächst beabsichtigten Ladung
Mirsads ab. Statt dessen wurde am 14. Oktober 2002 der Ermittlungsrichter
über das Ergebnis der richterlichen Vernehmung vom 29. April 2002 als Zeuge
gehört; in seiner Gegenwart wurde eine der beiden Videoaufzeichnungen der
Vernehmung "in Augenschein genommen". Nach den Urteilsgründen hat das
Landgericht seine Überzeugung von der Schuld der Angeklagten ganz wesentlich
auf den Inhalt dieser Videoaufzeichnung gestützt.
II.
Die zulässigen Rügen sind begründet.
Unter welchen Voraussetzungen die gemäß § 250 StPO grundsätzlich
gebotene persönliche Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung
durch das Vorführen der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren Vernehmung
dieses Zeugen ersetzt werden kann, bestimmt sich nach der durch das Zeugenschutzgesetz
in die Strafprozeßordnung eingefügten Bestimmung des
§ 255 a StPO. Danach durften die Angaben, die Mirsad B. bei seiner Vernehmung
durch den Ermittlungsrichter gemacht hatte, nicht durch Vorführung
- 7 -
der Videoaufzeichnung zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht und
verwertet werden. Dabei kann dahinstehen, ob die Verwertung der Videoaufzeichnung
- auch soweit als Rechtsgrundlage § 255 a Abs. 2 StPO in Betracht
kommt - bereits deshalb unzulässig war, weil sie nicht durch förmlichen Gerichtsbeschluß
angeordnet wurde. Insofern wird zwar - anders als bei Anwendung
des § 255 a Abs. 1 StPO, die nach der entsprechend anzuwendenden
Vorschrift des § 251 Abs. 4 StPO einen mit Gründen versehener Gerichtsbeschluß
voraussetzt - mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung das Erfordernis
eines Gerichtsbeschlusses unterschiedlich beurteilt (bejahend Diemer in
KK 5. Aufl. § 255 a Rdn. 14; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl.
§ 255 a Rdn. 17; ablehnend Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 255 a Rdn. 11).
Die Streitfrage bedarf hier indes keiner vertieften Erörterung. Ein entsprechender
Rechtsfehler wäre jedenfalls nicht gerügt.
1. Einer Vorführung der Videoaufzeichnung nach § 255 a Abs. 1 StPO
stand das entsprechend anzuwendende Verlesungs- und Verwertungsverbot
des § 252 StPO entgegen.
a) Die Voraussetzungen des § 252 StPO liegen vor. Als Sohn der Angeklagten
war Mirsad B. gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO zur Verweigerung
des Zeugnisses berechtigt. Er hat zwar nicht - wie § 252 StPO dies seinem
Wortlaut nach voraussetzt - in der Hauptverhandlung sein Zeugnisverweigerungsrecht
geltend gemacht; indes hat das zur Entscheidung über die erforderliche
Zustimmung zur Vernehmung (§ 52 Abs. 2 StPO) berufene Jugendamt
durch seine mit der Wahrnehmung der Ergänzungspflegschaft beauftragte Mitarbeiterin
die Zustimmung versagt. Dies steht dem Gebrauchmachen des
Zeugnisverweigerungsrechts durch den minderjährigen Zeugen mit der Folge
gleich, daß Mirsad in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden durfte
- 8 -
(§ 52 Abs. 2 Satz 1 StPO) und eine Niederschrift über seine frühere Vernehmung
nicht hätte verlesen werden dürfen.
b) Eine Verwertung der Aussage Mirsads bei der ermittlungsrichterlichen
Vernehmung durch Vorführung der Videoaufzeichnung war - entgegen der
Auffassung des Generalbundesanwalts - auch nicht mit Blick auf die in der Entscheidung
BGHSt 45, 203 entwickelten Grundsätze zulässig. Nach diesem Urteil
ist allerdings der von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machende
Zeuge nicht gehindert, nach ordnungsgemäßer Belehrung die Verwertung
der bei einer nichtrichterlichen Vernehmung gemachten Aussage zu gestatten.
Ob dem gefolgt werden könnte, kann der Senat erneut offenlassen
(zweifelnd schon Senat NStZ 2003, 498). Ferner kann dahinstehen, ob die Entscheidung
BGHSt 45, 203 bei Gestattung eine Verwertung der früheren Aussage
gegen die ausdrückliche Regelung des § 252 StPO auch durch Verlesung
und damit im Falle des § 255 a Abs. 1 StPO durch Vorführung der Videoaufzeichnung
oder nur durch Anhörung der nichtrichterlichen Vernehmungsperson
für zulässig erklärt hat. Denn der Verwertung der Videoaufzeichnung steht unter
dem Gesichtspunkt der Gestattung entscheidend entgegen, daß - worauf
die Revisionen zutreffend hinweisen - eine wirksame Gestattung nur dann angenommen
werden könnte, wenn sich (auch) Mirsad mit der Verwertung seiner
früheren Aussage einverstanden erklärt hätte. Der gesetzliche Vertreter eines
im Sinne von § 52 Abs. 2 Satz 1 StPO verstandesunreifen Zeugen entscheidet
nicht an dessen Stelle über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts,
was mit der höchstpersönlichen Natur dieses Rechts unvereinbar wäre; er hat
vielmehr lediglich darüber zu befinden, ob er einer Vernehmung des Zeugen
zustimmt oder nicht (BGHSt 21, 303, 305 f.; 23, 221, 222). Der kindliche Zeuge
soll damit vor einer Aussagebereitschaft geschützt werden, deren mögliche
Folgen er vielleicht nicht erkennen oder beurteilen kann (BGHSt 19, 85, 86; 23,
- 9 -
221, 222). Dem Zustimmungserfordernis kommt daher eine ausschließlich negative
Bedeutung zu: Versagt der gesetzliche Vertreter seine Zustimmung, darf
das Kind auch dann nicht vernommen werden, wenn es zur Aussage bereit wäre;
stimmt der gesetzliche Vertreter einer Vernehmung zu, kann das Kind dennoch
das Zeugnis rechtswirksam verweigern (BGHSt 23, 221, 222).
Diese für die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts entwickelten
Grundsätze müßten - falls der Entscheidung BGHSt 45, 203 zu folgen wäre -
für die Gestattung der Verwertung früherer Aussagen in gleicher Weise gelten.
Mirsad ist aber nicht befragt worden, ob er mit einer Vorführung und Verwertung
des Videos einverstanden war oder nicht. Eine Vorführung der Videoaufzeichnung
nach § 255 a Abs. 1 StPO kam deshalb nicht in Betracht.
c) Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Regelung des § 255 a Abs. 1
StPO, soweit sie für die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung
nicht nur die §§ 251, 253 und § 255 StPO, sondern auch § 252
StPO als anwendbar erklärt, für Fälle, in denen die Aufzeichnung einer richterlichen
Vernehmung betroffen ist, nicht stimmig in die bestehende Rechtslage
einfügt. Danach kann zwar bei Zeugnisverweigerung gemäß § 52 StPO in der
Hauptverhandlung - entsprechend der ausdrücklichen Anordnung des § 252
StPO - das Protokoll einer früheren Zeugenvernehmung, auch das einer richterlichen
Vernehmung, nicht verlesen werden. Auch kann die frühere Aussage
grundsätzlich nicht durch Vernehmung der Verhörsperson in die Hauptverhandlung
eingeführt werden. Eine Ausnahme gilt indes für den Fall einer früheren
richterlichen Vernehmung. Nach ständiger Rechtsprechung hindert § 252
StPO nicht, über den Inhalt einer Aussage, die ein Zeuge bei einer richterlichen
Vernehmung nach ordnungsgemäßer Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht
gemacht hat, durch Vernehmung des Richters Beweis zu er-
10 -
heben, wenn der Zeuge sich in der Hauptverhandlung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht
beruft (BGHSt 2, 99; 21, 218; 36, 384; 46, 189, 195).
aa) Diese Einschränkung des aus § 252 StPO abzuleitenden umfassenden
Verwertungsverbots wird mit dem Unterschied begründet, den das Strafverfahrensrecht
zwischen richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungen
macht. In älteren Entscheidungen hat sich der Bundesgerichtshof in erster Linie
darauf berufen, daß der Richter - anders als der vernehmende Polizeibeamte
oder Staatsanwalt - verpflichtet sei, Zeugen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht
hinzuweisen (BGHSt 2, 99, 106). Seit Inkrafttreten des § 163 a
Abs. 5 StPO, der auch für Vernehmungen durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft
eine Belehrung der Zeugen über ihr Zeugnisverweigerungsrecht
vorschreibt, sieht die Rechtsprechung das tragende Argument für die unterschiedliche
Behandlung richterlicher und nichtrichterlicher Vernehmungen
darin, daß das Gesetz
- wie aus § 251 Abs. 1 und Abs. 2 StPO zu entnehmen ist - richterlichen Vernehmungen
ganz allgemein höheres Vertrauen entgegenbringt (BGHSt 21,
218, 219; 36, 385, 386).
Dieser Beschränkung der Reichweite des sich aus § 252 StPO ergebenden
Verwertungsverbots durch die Rechtsprechung ist zwar vielfach entgegengehalten
worden, daß sie mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift, die vorrangig
dem Zeugenschutz diene, nicht in Einklang zu bringen sei. Indes kann dieser
Einwand nicht überzeugen. Auch mit Blick auf den Konflikt des zeugnisverweigerungsberechtigten
Zeugen zwischen einerseits der Wahrheitspflicht und andererseits
dem Interesse, den Angehörigen nicht zu belasten, läßt sich die Zulässigkeit
der Vernehmung des Richters über die frühere Aussage des Zeugen
erklären. Sie rechtfertigt sich auch dadurch, daß dem Zeugen wegen der für
- 11 -
ihn erkennbaren und regelmäßig von ihm empfundenen erhöhten Bedeutung
der richterlichen Vernehmung für das Strafverfahren nach der Belehrung durch
den Richter deutlicher als bei einer polizeilichen Vernehmung vor Augen steht,
daß er sich zwar aus dem ihn treffenden Interessenwiderstreit durch Gebrauchmachen
von dem Zeugnisverweigerungsrecht befreien, aber, falls er
aussagt, diese Angaben vor einem Richter nicht ohne weiteres wieder beseitigen
kann.
bb) Vor diesem Hintergrund ist die in § 255 a Abs. 1 i. V. m. § 252 StPO
getroffene Regelung wenig verständlich, soweit sie auch die Vorführung der
Videoaufzeichnung einer richterlichen Vernehmung untersagt. Während das
schriftliche Protokoll die Aussage des Zeugen in der Regel nicht wörtlich wiedergibt,
vermittelt die Videoaufzeichnung die frühere Aussage des Zeugen
- einschließlich der nonverbalen Vernehmungsinhalte und der erfolgten Interaktionen
- in allen Einzelheiten sehr viel genauer, als der auf der Grundlage
seiner Erinnerung aussagende Richter es könnte. Ihre Unverwertbarkeit in den
Fällen des § 252 StPO führt deshalb zu dem mit Blick auf die Qualität der Wiedergabe
der früheren Aussage schwer verständlichen Ergebnis, daß die Verwertung
des qualitativ höherwertigen Beweismittels untersagt, der Rückgriff auf
ein weniger zuverlässiges aber gestattet ist. Der darin liegende Wertungswiderspruch
vergrößert sich noch, wenn zur Unterstützung des Gedächtnisses
des Richters als Vorhalt nicht nur die Vernehmungsniederschrift verlesen (vgl.
BGHSt 11, 338, 341; 21, 149, 150), sondern auch eine Bild-Ton-Aufzeichnung
der früheren Vernehmung vorgespielt werden darf, - was in konsequenter
Übertragung dieser Rechtsprechung naheliegt - (vgl. Meyer-Goßner, StPO
46. Aufl. § 255 a Rdn. 3), jedoch nicht unbestritten ist (kritisch hierzu Rieß
StraFo 1999, 1, 3).
- 12 -
cc) Angesichts dieser Widersprüche könnte es naheliegen, den in
§ 255 a Abs. 1 StPO enthaltenen Verweis auf § 252 StPO einschränkend dahin
auszulegen, daß die Vorführung von Videoaufzeichnungen richterlicher Vernehmungen
stets zulässig ist, wenn der Richter über den Inhalt der früheren
Aussage als Zeuge vernommen werden darf. Im Ergebnis scheidet eine solche
Auslegung des § 255 a Abs. 1 StPO jedoch aus. Zwar finden sich in den Gesetzesmaterialien
zum Zeugenschutzgesetz keine Anhaltspunkte dafür, daß
der Gesetzgeber der ihm bekannten Rechtsprechung, nach der bei nachträglicher
Zeugnisverweigerung eine Vernehmung des Richters über den Inhalt der
früheren Aussage zulässig ist, die Grundlage entziehen wollte. Einer restriktiven
Auslegung des § 255 a Abs. 1 StPO steht aber der eindeutige Gesetzeswortlaut
entgegen: Der Gesetzgeber hat die Vorführung einer Bild-Ton-
Aufzeichnung bewußt den strafprozessualen Vorschriften unterworfen, die sich
auf die Verlesung der Niederschrift über eine Zeugenvernehmung beziehen
(BTDrucks. 13/7165 S. 11). Macht ein Zeuge nachträglich von seinem Zeugnisverweigerungsrecht
Gebrauch, darf deshalb die Videoaufzeichnung seiner
früheren richterlichen Vernehmung ebensowenig vorgeführt werden, wie eine
Verlesung der Vernehmungsniederschrift in Betracht käme; in diesem Fall kann
nur auf das weniger zuverlässige Beweismittel einer Vernehmung des Richters
als Zeuge zurückgegriffen werden.
Eine Korrektur dieses mit Blick auf die Qualität der Beweismittel widersprüchlichen
Ergebnisses muß dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Zur
Prüfung, ob die aufgezeigten Unstimmigkeiten um den Preis einer nachhaltigen
Verschlechterung der Beweissituation in einer Vielzahl von Verfahren dadurch
ausgeräumt werden muß, daß die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Vernehmung
der richterlichen Verhörsperson aufgegeben wird, besteht im gegebenen
Fall kein Anlaß. Der Senat würde indes auch dazu neigen, an der bishe-
13 -
rigen Rechtsprechung festzuhalten, gegen die sich der Gesetzgeber nicht ausgesprochen
hat, und damit die Systemunstimmigkeit hinzunehmen.
2. Auf § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO, der es unter weitergehender Durchbrechung
des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in Verfahren wegen bestimmter
Straftaten gestattet, die persönliche Vernehmung eines noch nicht 16 Jahre
alten Zeugen durch das Abspielen der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren
richterlichen Vernehmung zu ersetzen, ließ sich die Vorführung der Videoaufzeichnung
im vorliegenden Fall ebenfalls nicht stützen.
a) Die Anwendung der Vorschrift scheitert allerdings nicht bereits daran,
daß der den Angeklagten zur Last gelegte Straftatbestand der Körperverletzung
mit Todesfolge (§ 227 StGB) im Deliktskatalog des § 255 a Abs. 2 Satz 1
StPO nicht ausdrücklich genannt wird. Diese Aufzählung ist zwar abschließend;
eine Videovorführung nach § 255 a Abs. 2 StPO wird aber nicht dadurch
ausgeschlossen, daß sich der Anklagevorwurf auch auf eine andere, tateinheitlich
begangene, in diesem Katalog nicht enthaltene Straftat erstreckt
(BTDrucks. 13/4983 S. 8; Schlüchter in SK-StPO 19. Lfg. § 255 a Rdn. 11;
Gollwitzer in
Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 255 a Rdn. 10 f.; Diemer in KK 5. Aufl.
§ 255 a Rdn. 8; Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 255 a Rdn. 8). Andernfalls
verfehlte die Regelung ihren Zweck, in Verfahren wegen bestimmter, das Kindeswohl
schwer beeinträchtigender Straftaten junge Zeugen vor den zusätzlichen
psychischen Belastungen oder gar Schädigungen durch eine erneute
Vernehmung in der Hauptverhandlung zu schützen (BTDrucks. 13/4983 S. 5;
Diemer in KK 5. Aufl. § 255 a Rdn. 7; Meyer-Goßner aaO). Aus demselben
Grund muß die Vorführung einer Videoaufzeichnung nach dieser Vorschrift
auch dann möglich sein, wenn eine tatbestandlich verwirklichte Katalogtat im
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Wege der Gesetzeskonkurrenz durch das angeklagte Delikt verdrängt wird.
Das war hier der Fall: Der den Beschwerdeführern zur Last gelegte Tatbestand
der Körperverletzung mit Todesfolge schließt stets den im Katalog des § 255 a
Abs. 2 StPO aufgeführten Tatbestand der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) mit
ein (BGHSt 8, 54).
b) Der Verwertung der Videoaufzeichnung gemäß § 255 a Abs. 2 Satz 1
StPO steht aber die einschränkende Voraussetzung des letzten Halbsatzes
dieser Vorschrift entgegen. Die Beschwerdeführer hatten keine Gelegenheit
gehabt, an der auf Videoband aufgezeichneten ermittlungsrichterlichen Vernehmung
Mirsads mitzuwirken, da sie gemäß § 168 c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit
bei dieser Vernehmung ausgeschlossen worden waren.
Die von § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO vorausgesetzte Gelegenheit zur Mitwirkung
umfaßt neben dem Recht auf Anwesenheit bei der Vernehmung insbesondere
die Befugnis, dem Zeugen Fragen zu stellen (vgl. Art. 6 Abs. 3 Buchst.
d MRK) und Vorhalte zu machen (Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO
25. Aufl. § 255 a Rdn. 12; Diemer in KK 5. Aufl. § 255 a Rdn. 10). Zwar hatten
hier die Verteidiger der Angeklagten in dem beschriebenen Sinn die Gelegenheit,
an der ermittlungsrichterlichen Vernehmung Mirsads mitzuwirken. Dagegen
war den Angeklagten selbst, nachdem der Ermittlungsrichter sie gemäß
§ 168 c StPO von der Vernehmung ausgeschlossen hatte, diese Möglichkeit
verschlossen. Damit waren die Voraussetzungen einer Vorführung nach
§ 255 a Abs. 2 StPO nicht gegeben. Der vollständige Ausschluß eines Angeklagten
gemäß § 168 c Abs. 3 StPO - bzw. ein Absehen von der Benachrichtigung
vom Vernehmungstermin nach § 168 c Abs. 5 StPO - entzieht einer späteren
Vorführung der Videoaufzeichnung in der Hauptverhandlung gemäß
§ 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO stets die Grundlage, ohne daß es darauf ankäme,
- 15 -
ob der Ausschluß im konkreten Fall rechtlich zulässig war oder nicht (ebenso
Gollwitzer aaO; Wache in KK 5. Aufl. § 168 e Rdn. 7; Meyer-Goßner aaO
§ 255 a Rdn. 8 a; Julius in HK-StPO 4. Aufl. § 255 a Rdn. 9).
In der Literatur wird zwar abweichend auch die Auffassung vertreten,
daß der zulässige Ausschluß des Beschuldigten von der Vernehmung nach
§ 168 c Abs. 3 StPO durch die Teilnahme seines - gegebenenfalls zu bestellenden
- Verteidigers kompensiert werden könne (Diemer in KK 5. Aufl. § 255 a
Rdn. 10; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 4. Aufl. Rdn. 1328 l; Pfeiffer, StPO
4. Aufl. § 255 a Rdn. 3). Eine Auslegung des § 255 a Abs. 2 Satz 1 letzter
Halbs. StPO dahin, daß die Mitwirkungsmöglichkeit nur nach Maßgabe der von
§ 168 c StPO getroffenen, auch einschränkenden Regelungen gewährleistet
gewesen sein mußte, ist indes schon mit dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes
nicht in Einklang zu bringen. Danach setzt § 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO
- abweichend von der zwischen Verteidigung und Angeklagten differenzierenden
Regelung des § 168 c StPO - eine kumulative Mitwirkungsmöglichkeit des
Angeklagten und seines Verteidigers voraus; von einer Gelegenheit zur Mitwirkung
des Angeklagten kann aber nicht ausgegangen werden, wenn er - wie im
gegebenen Fall - von der Anwesenheit bei der Vernehmung ausgeschlossen
ist. Eine andere Auslegung des § 255 a Abs. 2 Satz 1 letzter Halbs. StPO widerspräche
auch den Vorstellungen des Gesetzgebers, der den Anwendungsbereich
der Vorschrift bewußt auf Bild-Ton-Aufzeichnungen richterlicher Zeugenvernehmungen
beschränkt hat, weil nur bei diesen (gemäß § 168 c Abs. 2
StPO) dem Beschuldigten die Anwesenheit gestattet ist (vgl. BTDrucks.
13/4983 S. 8; Schlüchter in SK-StPO 19. Lfg. § 255 a Rdn. 13). Eine § 168 c
Abs. 3 StPO berücksichtigende, restriktive Auslegung von § 255 a Abs. 2
Satz 1 letzter Halbs. StPO wäre schließlich auch mit Blick auf die schutzwürdigen
Interessen des Angeklagten an einer effektiven Wahrnehmung seiner
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Verteidigung nicht in Einklang zu bringen. Gerade da § 255 a Abs. 2 Satz 1
StPO in weitergehender Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zum
Schutze junger Zeugen eine Ersetzung ihrer Vernehmung und damit gleichsam
die Vorverlagerung eines Teiles der Hauptverhandlung aus ihr heraus in das
Ermittlungsverfahren zuläßt, muß sichergestellt sein, daß dem Zeugen schon
bei dieser Vernehmung Fragen gestellt werden können, die etwaige Schwächen
seiner Aussage verdeutlichen oder ihren Beweiswert erschüttern. Dazu ist
der Verteidiger, der in dieser Phase des Ermittlungsverfahrens regelmäßig
noch keine Akteneinsicht hatte, im allgemeinen aber nur in der Lage, wenn
gleichzeitig auch der Angeklagte bei der Vernehmung anwesend ist. Nicht erforderlich
ist, daß Angeklagter und Verteidiger sich dabei im gleichen Raum
wie der Zeuge aufhalten; es genügt zur Wahrung der Mitwirkungsbefugnisse
vielmehr, daß die Vernehmung gemäß § 168 e StPO zeitgleich in Bild und Ton
in einen anderen Raum übertragen wird, von dem aus die Anwesenheitsberechtigten
durch Vermittlung des Richters Fragen an den Zeugen richten können
(Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 255 a Rdn. 12; Meyer-
Goßner, StPO 46. Aufl. § 255 a Rdn. 8 a).
c) Da die Vorführung der Videoaufnahme nach § 255 a Abs. 2 Satz 1
StPO schon mangels Mitwirkungsmöglichkeit des Angeklagten unzulässig war,
kann offenbleiben, ob ihr - wie die Revisionen meinen - auch entgegenstand,
daß die Mitarbeiterin des Jugendamtes die erforderliche Zustimmung zur Vernehmung
Mirsad B. s nicht erteilt hatte (§ 252 i. V. m. § 52 Abs. 2 StPO;
s. oben 1.). Der Senat neigt allerdings der Auffassung zu, daß dies nicht der
Fall gewesen wäre (aA Gollwitzer aaO § 255 a Rdn. 20; Diemer in KK 5. Aufl.
§ 255 a Rdn. 11; Meyer-Goßner aaO § 255 a Rdn. 8):
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§ 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO nimmt im Unterschied zu Absatz 1 dieser
Vorschrift auf § 252 StPO nicht Bezug. Zwar wurde in einem frühen Stadium
des Gesetzgebungsverfahrens, das zu dem nunmehr geltenden § 255 a StPO
führte und in welchem zunächst eine dem heutigen § 255 a Abs. 2 StPO vergleichbare
Regelung als neuer § 250 Abs. 2 StPO vorgesehen war, die Auffassung
vertreten, daß § 252 StPO im Hinblick auf die beabsichtigte Neuregelung
keiner Änderung bedürfe, da es sich von selbst verstehe, daß in den Fällen der
Unzulässigkeit einer Protokollverlesung auch eine Bild-Ton-Aufzeichnung einer
früheren richterlichen Vernehmung nicht abgespielt werden dürfe (vgl. den Gesetzentwurf
des Bundesrates zur Änderung der StPO vom 19. Juli 1996, BTDrucks.
13/4983 S. 8). Diese Überlegungen betrafen indes noch eine Gesetzeskonzeption,
die mit der schließlich Gesetz gewordenen Regelung des
§ 255 a Abs. 2 Satz 1 StPO nicht vergleichbar war. Diese ist maßgeblich von
dem Bestreben bestimmt, in der Hauptverhandlung die Verwertbarkeit von Videoaufzeichnungen
früherer richterlicher Vernehmungen junger Zeugen zu erleichtern,
um solche Zeugen soweit wie möglich vor den mit wiederholten Vernehmungen
verbundenen Belastungen zu bewahren. Die mehrmalige persönliche
Vernehmung solcher Zeugen sollte deshalb zur Ausnahme gemacht werden
(vgl. jetzt § 255 a Abs. 2 Satz 2 StPO). Um dieses Ziel zu erreichen, hat
der Gesetzgeber im weiteren Gesetzgebungsverfahren Regelungen geschaffen,
die im Ergebnis dazu führten, daß ein Teil der Hauptverhandlung, nämlich
die persönliche Vernehmung des jungen Zeugen, in das Ermittlungsverfahren
vorverlagert wurde. Dies hat er verfahrensrechtlich dadurch sichergestellt, daß
er dem Beschuldigten und seinem Verteidiger die nicht einschränkbare Gelegenheit
der Mitwirkung an der ermittlungsrichterlichen Vernehmung des Zeugen
garantierte, um damit die Verwertbarkeit der Videoaufzeichnung in der
Hauptverhandlung zu gewährleisten. Gerade diese Garantie der Gelegenheit
- 18 -
zur Mitwirkung des Beschuldigten und seines Verteidigers an der richterlichen
Vernehmung war in dem zitierten vorangegangenen Entwurf eines neuen § 250
Abs. 2 StPO nicht vorgesehen.
Handelt es sich aber bei der aufgezeichneten ermittlungsrichterlichen
Zeugenvernehmung um einen vorverlagerten Teil der Hauptverhandlung, kann
der Zeuge seine hierbei gemachte Aussage und damit auch die gefertigte Aufzeichnung
durch eine nachträgliche Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts
ebensowenig unverwertbar machen, wie es ihm möglich wäre, bei
mehrfacher Vernehmung in der Hauptverhandlung durch nachträgliche Zeugnisverweigerung
seine Angaben, die er an einem früheren Hauptverhandlungstag
gemacht hatte, der Verwertung durch das Gericht zu entziehen. Er ist
daher auch nicht zu befragen, ob er nachträglich von seinem Zeugnisverweigerungsrecht
Gebrauch macht oder nicht. Gleiches müßte im übrigen auch gelten,
wenn der Zeuge sich erstmals bei einer Nachvernehmung gemäß § 255 a
Abs. 2 Satz 2 StPO auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft.
3. Auf der unzulässigen Vorführung und Verwertung der Videoaufzeichnung
beruht das angefochtene Urteil, weil die Strafkammer ihre Überzeugung
von der Täterschaft der Angeklagten maßgeblich auf die vorgespielte Videoaufnahme
gestützt hat. Das Beruhen kann nicht mit der Erwägung ausgeschlossen
werden, daß die Strafkammer den Inhalt der früheren Aussage Mirsad
B. s in zulässiger Weise auch durch die Vernehmung des Ermittlungsrichters
zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht hat; denn auf das
Zeugnis des Ermittlungsrichters, das allein Grundlage der Beweiswürdigung
sein könnte, nimmt das Urteil an keiner Stelle Bezug.
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Tolksdorf Miebach Winkler
Becker Hubert



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