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BGH, Urteil vom 12. September 2001 - 2 StR 172/01


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 12.9.2001 - 2 StR 172/01
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 172/01
vom
12. September 2001
in der Strafsache
gegen
wegen Nötigung u.a.
- 2 -
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 12. September
2001, an der teilgenommen haben:
Vizepräsident des Bundesgerichtshofes
Dr. Jähnke
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Bode,
Rothfuß,
Prof. Dr. Fischer,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin
wird das Urteil des Landgerichts Gießen vom
21. Dezember 2000 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts entwickelten sich bei dem
Angeklagten seit Sommer 1999 Phantasien, in denen er sich konkrete Situationen
vorstellte, die ihm durch Beobachtung von Angst und Hilflosigkeit anderer
ein Gefühl der Macht vermittelten, was bei ihm eine sexuelle Erregung erzeugte.
So stellte er sich vor, daß er in Häuser eindringe, Gartenhäuser anzünde,
Kinder entführe, sich ihrer bemächtige oder erwachsene Frauen vergewaltige.
Nach einigen Monaten begnügte er sich nicht mehr mit den Phantasien
allein, sondern suchte konkrete Situationen auf, um sich den gewünschten
"Kick" - die sexuelle Erregung - zu verschaffen. So fuhr er durch Gegenden mit
Gartenhäusern, beobachtete ihm geeignet erscheinende Objekte und stellte
sich vor, einzubrechen und sie in Brand zu setzen. Einige Male hielt er nach
Kindern Ausschau, die ihm besonders unterlegen schienen. Bei den konkreten
Begegnungen hatte er die Macht- und Ohnmachtsvorstellungen, aber niemals
die Vorstellung von sexuellen Handlungen in Bezug auf das jeweilige Kind.
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Am 24. Januar 2000 überkam ihn während einer Autobahnfahrt wieder
der Wunsch, sich durch Beobachten von Kindern, verbunden mit der Vorstellung,
sich eines Kindes zu bemächtigen bzw. es zu entführen, einen "Kick" zu
verschaffen. Er fuhr deshalb von der Autobahn ab und begegnete in Großen-
Buseck der 7-jährigen W. , der Nebenklägerin, die von der Schule
kommend auf dem Nachhauseweg war. Der Angeklagte fuhr zunächst eine
Strecke von 50 - 100 m langsam mit dem Auto hinter dem Mädchen her. Plötzlich
faßte er den Entschluß, sich des Kindes wirklich zu bemächtigen und es zu
entführen. Er fuhr an ihm vorbei, hielt kurz davor an, stieg aus, ging um den
Wagen herum und öffnete die hintere rechte Fahrzeugtür. Er packte das Mädchen
am Schulranzen, warf es auf die Rückbank des Autos, schlug die Tür zu
und stieg auf der Fahrerseite wieder ein, um weiterzufahren.
Dies mißlang jedoch, da der Zeuge Wi. , der das Geschehen beobachtet
hatte und dem es merkwürdig vorkam, sein Fahrzeug schräg vor den
Wagen des Angeklagten stellte. Als der Zeuge Wi. an die Scheibe klopfte,
ließ der Angeklagte sie herunter und antwortete auf die Frage des Zeugen, was
mit dem Kind sei, er sei der Onkel. Auf den Hinweis des Zeugen, daß das Kind
weine, erklärte er, das Mädchen sei "ausgebüchst", er wolle es zurückbringen.
W. war inzwischen durch die nicht verriegelte rechte hintere Fahrzeugtür
aus dem Auto gestiegen und stand auf dem Bürgersteig daneben.
Nachdem der Zeuge den Namen des Angeklagten aus dessen Ausweis und die
Fahrzeugnummer notiert hatte, bot der Angeklagte dem verstörten Mädchen
an, es nach Hause zu fahren, worauf dieses einging. Dem Angeklagten tat sein
Verhalten leid. Als W. einige Minuten später ausgestiegen war, lief
sie weinend ihrer Mutter entgegen und erzählte, was geschehen war. Die Mutter
erstattete Anzeige bei der Polizei. Diese konnte aufgrund der vom Zeugen
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Wi. erhaltenen Informationen den Angeklagten bereits am nächsten Tag
festnehmen.
Der Angeklagte war bei der Tat aufgrund einer Triebanomalie mit Suchtcharakter,
die als schwere andere seelische Abartigkeit einzustufen ist, in seiner
Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Nötigung in Tateinheit
mit versuchter Freiheitsberaubung und mit versuchter Kindesentziehung (richtig:
"Entziehung einer Minderjährigen") zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr
und zehn Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Seine Unterbringung
in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde angeordnet und deren
Vollstreckung ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt.
II.
1. Die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin wenden sich mit ihren
Revisionen gegen den Schuldspruch; sie erstreben eine Verurteilung des Angeklagten
auch wegen versuchten sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit
mit versuchter sexueller Nötigung. Sie rügen die Verletzung formellen
und materiellen Rechts. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Revisionen
zu verwerfen.
2. Die Rechtsmittel haben mit der Sachbeschwerde Erfolg. Die Beweiswürdigung
des Landgerichts ist nicht frei von Rechtsfehlern.
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a) Das Revisionsgericht ist zwar nur eingeschränkt zur Überprüfung der
Beweiswürdigung berufen und in der Lage. Es kann nur dann eingreifen, wenn
die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft ist, etwa weil sie Widersprüche, Unklarheiten
oder Lücken aufweist oder wenn sie gegen Denkgesetze oder gegen
gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.: BGH NStZ-RR 2000, 171 f.;
NStZ 2000, 436 f.; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33; Beweiswürdigung
2, 11, 13, 14). Liegen mehrere Beweisanzeichen vor, so genügt es nicht,
sie jeweils einzeln abzuhandeln, erforderlich ist vielmehr eine Gesamtwürdigung
(vgl. BGH NStZ 1983, 133, 134 m.w.N.; BGHR StPO § 261 Indizien 1, 2,
7). Auch bei entlastenden Angaben des Angeklagten hat der Tatrichter sich
eine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit aufgrund des gesamten
Beweisergebnisses der Beweisaufnahme zu bilden. Er darf solche Angaben,
deren Wahrheitsgehalt fraglich ist, nicht ohne weiteres als unwiderlegt
hinnehmen und seiner Entscheidung zugrundelegen, wenn für deren Richtigkeit
keine zureichenden Anhaltspunkte bestehen (BGHSt 34, 29, 34; BGHR
StPO § 261 Überzeugungsbildung 29). An diesen Maßstäben gemessen hat
das angefochtene Urteil keinen Bestand.
b) Nach den Feststellungen hat der Angeklagte sich dahin eingelassen,
er habe keine Vorstellung, wie das Geschehen weiter verlaufen wäre, wenn der
Zeuge Wi. ihn nicht aufgehalten hätte. Er habe sich bei seinem Tatentschluß
darüber keine Gedanken gemacht. Vermutlich hätte er das Kind irgendwo
wieder freigelassen, wie in einem 15 Jahre zurückliegenden Fall. Diese
Einlassung hält das Landgericht für nicht widerlegt. Es ist zwar der Auffassung,
daß die Angaben lebensfremd erscheinen, da nach allgemeiner Erfahrung
immer ein Sexualakt oder jedenfalls eine genital sexuelle Befriedigung am
Ende entsprechender sexualbezogener Handlungen stehe, meint jedoch, diese
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Angaben als unwiderlegt hinnehmen zu müssen, weil der psychiatrische Sachverständige
Professor Sch. dargelegt hat, daß die Einlassung des Angeklagten
zu seinem Sexualleben zu einer in der Wissenschaft bekannten präsexuellen
Triebdevianz passe. Außer dieser medizinisch aufgewiesenen Möglichkeit
führt das Urteil keine weiteren Indizien für die Richtigkeit der Einlassung
an.
Das Landgericht befaßt sich mit Beweisanzeichen für die Unrichtigkeit
der Einlassung und gelangt zu dem Ergebnis, daß diese nicht genügten, um
den Angeklagten der Planung sexueller Handlungen zu überführen. Dabei
handelt es die Äußerung des Angeklagten gegenüber dem Psychotherapeuten
K. unmittelbar nach der Tat, er wäre beinahe zum Sexualstraftäter geworden,
die eigenen Aufzeichnungen des Angeklagten vom Tattag über das Geschehen
sowie die ihn belastenden Angaben in seiner polizeilichen und richterlichen
Vernehmung jeweils einzeln ab und unterzieht sie einzeln einer Wertung. Das
Landgericht ist der Meinung, daß die Aussage des Angeklagten vor dem Haftrichter
- er habe sich keine Vorstellungen gemacht, welche sexuellen Handlungen
er an dem Kind vornehmen wollte - mehrdeutig sei und allein zur Überführung
des Angeklagten im Sinne des Versuchs eines sexuellen Mißbrauchs
bzw. des Versuchs einer sexuellen Nötigung nicht ausreiche. Das Urteil beschränkt
sich darauf, die Umstände, die für die Unrichtigkeit der Einlassung
sprechen, gesondert und einzeln zu erörtern und getrennt voneinander zu
prüfen. Es läßt eine zusammenschauende Würdigung aller dieser Beweisanzeichen
vermissen.
Darin liegt ein Rechtsfehler. Der Tatrichter hat nicht auf der Grundlage
des gesamten Beweisergebnisses entschieden, ob die entlastenden Angaben
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des Angeklagten geeignet sind, seine Überzeugungsbildung zu beeinflussen.
Er hätte im Rahmen einer Gesamtwürdigung nachvollziehbar darlegen müssen,
daß hinreichende Anhaltspunkte für die Richtigkeit der ihm lebensfremd erscheinenden
Einlassung bestehen. Nur dann darf er sie als unwiderlegt erachten.
Daran fehlt es hier, was zur Aufhebung des Urteils führt.
Jähnke Bode Rothfuß
Fischer Elf



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