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BGH, Urteil vom 16. Februar 2005 - 5 StR 14/04


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 16.2.2005 - 5 StR 14/04
BGHSt : ja
Veröffentlichung: ja
StGB §§ 30, 211
Befehl zur Tötung eines Demonteurs von Selbstschußanlagen
an der innerdeutschen Grenze.
BGH, Urt. v. 16.02.2005 5 StR 14/04
SchwG Berlin
5 StR 14/04
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
16.02.2005
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
- 2 -
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 16. Februar
2005, an der teilgenommen haben:
Richter Basdorf als Vorsitzender,
Richter Häger,
Richter Dr. Raum,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin K
als Verteidigerin,
Rechtsanwalt H
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 10. April 2003 wird mit der Maßgabe
verworfen, daß der Angeklagte freigesprochen wird.
Die Staatskasse trägt die Kosten des gesamten Verfahrens
und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen
Auslagen.
- Von Rechts wegen -
G r ü n d e
Die zugelassene Anklage wirft dem Angeklagten einen Totschlag vor:
Er habe in der Zeit vom 26. bis 30. April 1976 - gemeinschaftlich und durch
andere handelnd - die Tötung des G an der innerdeutschen
Grenze organisiert und herbeigeführt. Das Landgericht hat durch das
angefochtene Urteil das Verfahren gegen den Angeklagten wegen eingetretener
Verfolgungsverjährung eingestellt. Die hiergegen gerichtete, auf die
Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft bleibt ohne Erfolg, soweit
das Rechtsmittel zuungunsten des Angeklagten eingelegt ist, führt vielmehr
nach § 301 StPO zur Änderung des angefochtenen Urteils dahin, daß
der Angeklagte freigesprochen wird.
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I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Zur Perfektionierung der am 13. August 1961 begonnenen Absperrmaßnahmen
hatte die Regierung der DDR im Herbst 1961 damit begonnen,
weite Teile der innerdeutschen Grenze mit Minensperren zu versehen, um
Flüchtlinge noch wirksamer von einer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland
abzuhalten. Nachdem anfangs hierzu Erdminen installiert worden waren,
wurden zur Erhöhung der Wirksamkeit dieser Minensperren ab 1970
zunächst vereinzelt, ab Anfang 1972 systematisch bis zu ihrem Abbau ab
dem Jahre 1983 Splitterminen des Typs SM-70 als sogenannte Anlage 501
zur Grenzsicherung installiert. Dabei handelte es sich um Selbstschußanlagen,
die auf der der DDR zugekehrten Seite des Metallgitterzauns angebracht
waren und bei Belastung von verspannten Drähten auf mechanischelektrischem
Weg eine Detonation auslösten. Darauf breitete sich eine kegelförmige
Salve von etwa 90 scharfkantigen Metallsplittern parallel zum Metallgitterzaun
aus, wobei die kinetische Energie ausreichte, um Menschen mit
Sicherheit schwer zur verletzen oder auch zu töten. Viele Flüchtlinge erlitten
durch diese Minen schwerste Verletzungen oder wurden getötet. Die Regierung
der DDR bestritt damals die Existenz derartiger Anlagen.
G , der im Alter von 17 Jahren in der DDR wegen
„Diversion im schweren Fall, staatsgefährdender Gewaltakte, staatsgefährdender
Propaganda sowie Hetze im schweren Fall“ zu lebenslangem Zuchthaus
verurteilt, nach Verbüßung von neun Jahren und zehn Monaten dieser
Strafe von der Bundesregierung „freigekauft“ und 1971 in die Bundesrepublik
Deutschland entlassen worden war, sann, geprägt von den in der DDR herrschenden
unmenschlichen Haftbedingungen, darauf, die DDR durch Präsentation
der Selbstschußanlagen in der Weltöffentlichkeit bloßzustellen. In Verfolgung
dieses Ziels montierte G in der Nacht zum
1. April 1976 und in der Nacht zum 23. April 1976 jeweils in der Nähe zum
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späteren Tatort eine Splittermine ab. Die abgebauten Splitterminen präsentierte
G verschiedenen Behörden der Bundesrepublik Deutschland,
zwei Zeitschriften und der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“. Diese
Vorgänge versetzten die Dienststellen der DDR bis hin zur ministeriellen
Spitze in helle Aufregung. Die DDR, die 1972 den Grundlagenvertrag mit der
Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen und 1975 an der Konferenz in
Helsinki teilgenommen hatte und um internationale Anerkennung bemüht
war, war durch den Abbau und die Verbringung der Minen in die Bundesrepublik
Deutschland in aller Welt bloßgestellt und der Lüge überführt. Deshalb
sollten weitere derartige Aktionen mit allen Mitteln unterbunden und der oder
die Täter unter allen Umständen ein für allemal ausgeschaltet werden. Spätestens
durch einen am 16. April 1976 in dem Magazin „Der Spiegel“ erschienenen
Artikel wurde dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR bekannt,
daß es G war, der in der Nacht zum
1. April 1976 die erste der beiden Minen abgebaut hatte. Spätestens daraufhin
gab der Minister für Staatssicherheit Mielke den Befehl, weitere Minendemontagen
um jeden Preis zu verhindern und G bei einem
neuerlichen Versuch, eine Mine SM-70 abzubauen, nicht nur möglichst festzunehmen,
sondern ihn ein für allemal endgültig auszuschalten und, wenn
eine Festnahme, die vorrangig bezweckt war, um Informationen über mögliche
Mittäter, Hintermänner oder Auftraggeber zu erhalten, nicht möglich sein
würde, G keinesfalls entkommen zu lassen, sondern ihn notfalls
zu „vernichten“, also zu töten. Die Einzelheiten der Umsetzung dieser
Anordnung überließ Mielke seinen Untergebenen.
Der Angeklagte war Kompaniechef einer speziellen Einsatzkompanie
des Ministeriums für Staatssicherheit. Deren Hauptaufgabe bestand in der
„Wahrnehmung politisch-operativer und operativ-militärischer Einsätze“, insbesondere
an der innerdeutschen Grenze. Die Kompanie wurde vor allem in
sogenannten „provokationsgefährdeten Abschnitten“ der Grenze eingesetzt,
so bei Fahnenfluchten, zur Beobachtung innerhalb und außerhalb militärischer
Objekte in den Streitkräften, zu Fotodokumentationen an der Grenze,
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bei spektakulären Grenzzwischenfällen oder zur Beseitigung von „pioniertechnischen
Anlagen“ an der Grenze, wobei häufig in dem der Grenzbefestigung
vorgelagerten, aber noch zur DDR gehörenden - als „feindwärts“ bezeichneten
- Gelände, etwa bei Schleusungsmaßnahmen, unter konspirativen
Bedingungen Öffnungen im Metallgitterzaun geschaffen werden mußten.
Die Kompanie wurde konspirativ geführt. Jeder Angehörige dieser Einheit,
als „Kämpfer“ bezeichnet, hatte zur Tarnung einen Decknamen und eine individuelle
Legende. Die Einsatzkompanie galt nach außen als selbständige
Einheit der Grenztruppen, war wie eine solche uniformiert, strukturiert und
bewaffnet, jedoch in Wahrheit der Abteilung Äußere Abwehr, einer Unterabteilung
der Abteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit, unterstellt. Deren
Leiter war der rechtskräftig - aus tatsächlichen Gründen mangels effektiver
Mitwirkung an dem Tötungsbefehl - freigesprochene Mitangeklagte He
. Leiter der Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit und
damit unmittelbarer Vorgesetzter He s war Generalleutnant Kl . Die
Hauptabteilung I war direkt dem Stellvertreter des Ministers Mielke unterstellt.
Während im Ministerium für Staatssicherheit noch die vorhandenen
Unterlagen über G ausgewertet wurden, erhielt man
dort Kenntnis vom zweiten Minenabbau, der in der Nacht zum 23. April 1976
erfolgt war. Namentlich aufgrund eines Hinweises ging man davon aus, daß
wiederum G gehandelt habe und daß er vorhabe, im gleichen
Bereich der Grenze weitere Minen abzubauen. Generalleutnant Kl
berichtete dem Minister Mielke und beauftragte den Oberstleutnant T , den
Leiter des Bereichs Abwehr der Hauptabteilung I im Grenzkommando Nord,
mit der Leitung des „Einsatzes SM-70“. Hierbei gab Kl die von Mielke
erteilte Weisung weiter, G bei einem neuerlichen Versuch, eine
Mine abzubauen, unter allen Umständen möglichst festzunehmen und
- wenn dies nicht gelingen sollte - ihn keinesfalls entkommen zu lassen,
sondern ihn dann gegebenenfalls zu „vernichten“. Die Befehlskette verlief
mithin vom Minister Mielke über Generalleutnant Kl an Oberstleutnant
T . Letzterer war damit nach dem im Ministerium für Staatssicherheit gel-
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tenden Prinzip der Einzelleitung am Ort verantwortlich für diesen Einsatz und
hatte dort das Kommando.
Am 24. April 1976 erteilte der frühere Mitangeklagte He - auf Anordnung
Kl s - dem Angeklagten S den Befehl, mit von ihm auszuwählenden
Kräften seiner Einsatzkompanie sofort zum Grenzregiment 6
nach Schönberg zu Oberstleutnant T zu fahren, um dort entsprechend
dem vorgegebenen Einsatzziel, „Grenzprovokationen“ unter allen Umständen
zu verhindern und den oder die Täter unbedingt festzunehmen und - wenn
dies nicht gelingen würde - diese notfalls zu töten, sofort zum Einsatz zu
kommen. Der Angeklagte wurde auch in groben Zügen darüber informiert,
daß im Sicherungsabschnitt XII des Grenzregiments 6 zuvor Splitterminen
SM-70 abgebaut und entwendet worden waren und daß mit Hilfe der
Einsatzkompanie „feindwärts“ ein Hinterhalt angelegt werden sollte. Ob ihm
dabei auch der Name G genannt wurde, hat das Landgericht
nicht feststellen können. Die vom Minister Mielke gegebene Anordnung wurde
dem Angeklagten im Kern vom früheren Mitangeklagten He als Zielvorgabe
mitgeteilt. Der Angeklagte wählte daraufhin aus seiner Einsatzkompanie
die nach seiner Einschätzung für das vorgegebene Einsatzziel am besten
geeigneten elf „Kämpfer“ aus und begab sich mit ihnen sogleich nach
Schönberg. Jeder „Kämpfer“ war mit einer Maschinenpistole der Marke „Kalaschnikow“
ausgerüstet, die Gruppe zudem mit zwei leichten Maschinengewehren.
Noch am 24. April 1976 fanden zunächst eine Ortsbesichtigung des
in Betracht kommenden Grenzabschnitts, an der auch der Angeklagte teilnahm,
sowie eine anschließende Besprechung, an der sowohl der Angeklagte
als auch Oberstleutnant T teilnahmen, statt. Bei dieser Besprechung
wurden die Maßnahmen festgelegt, die getroffen werden sollten, um den von
Minister Mielke über Generalleutnant Kl an Oberstleutnant T gegebenen
Befehl zu erfüllen. Die bei dieser Besprechung beschlossenen
Maßnahmen wurden Grundlage des folgenden Einsatzes am Ort. Dies war
der „Große Grenzknick“ bei der Grenzsäule 231 der Bundesrepublik
Deutschland. Hier verlief die Grenze in einem rechten Winkel, dessen inne-
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res Viertel - südöstlich - zur DDR gehörte. Gegenüber der im Westen und
Norden verlaufenden Grenze war der Metallgitterzaun mit den Selbstschußanlagen
um 30 Meter rückwärts gebaut, so daß sich vor diesem Zaun ein
30 Meter breiter Streifen von DDR-Gebiet erstreckte. Man rechnete damit,
daß G in den nächsten Tagen wieder versuchen würde, mit
Hilfe einer Anlegeleiter an eine Mine heranzukommen, um diese abzubauen.
Man rechnete mit zwei bis drei Begleitern G s und einer Bewaffnung
aller Personen. Deshalb sollte „feindwärts“ des Metallgitterzauns ein
Hinterhalt gelegt werden, um G dort zu überraschen, festzunehmen
und an einer eventuellen Flucht zurück auf das Territorium der Bundesrepublik
Deutschland zu hindern, wobei als letzte Möglichkeit seine Tötung
ins Auge gefaßt war. Sollte die Staatsgrenze der DDR durch „provokatorische
Handlungen“ an den „pioniertechnischen Anlagen“ verletzt oder sollten
diese sichtbar angegriffen werden, waren die Personen festzunehmen; die
Schußwaffe war anzuwenden, wenn keine andere Möglichkeit zur Realisierung
der vorgenannten Zielstellung vorhanden sein würde. Die Feuerführung
sollte parallel zur Staatsgrenze erfolgen.
Der Angeklagte akzeptierte bei dieser Besprechung das vorgegebene
Ziel „festzunehmen bzw. zu vernichten“, also gegebenenfalls „zu töten“. Als
Chef der Einsatzkompanie hatte er bei der Besprechung einen gewichtigen
und für die Ausgestaltung der Einzelheiten des Einsatzes maßgeblichen
Einfluß, wenngleich Oberstleutnant T den Einsatz am Ort leitete. Der Angeklagte
war am Ort der „Mann der Praxis“, der seinen Sachverstand einbrachte
und wußte, wie man am besten Hinterhalte legte. Er brachte bei der
Besprechung auch eigene Verbesserungsvorschläge ein. Wie in der Besprechung
beauftragt, rekrutierte er aus seiner Einsatzkompanie einen weiteren
Zugführer und sieben weitere „Kämpfer“.
In einer „Information“ vom 25. April 1976 teilte Oberstleutnant T
dem Generalleutnant Kl das Ergebnis der Beratung vom Vortage mit.
Auch darin ist die „Festnahme bzw. Vernichtung der Täter“ genannt. Kl
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war mit diesen Maßnahmen einverstanden. Der Angeklagte diktierte am
25. April 1976 einen internen „Maßnahmeplan“, der zu Dokumentationszwecken
gefertigt wurde und den am Ort eingesetzten „Kämpfern“ nicht im Wortlaut
mitgeteilt wurde. Darin ist als Einsatzziel benannt, „den oder die Täter
festzunehmen bzw. zu vernichten“. Ferner heißt es dort: „Die Anwendung der
Schußwaffe erfolgt, wenn keine andere Möglichkeit zur Realisierung der vorgenannten
Zielstellung vorhanden ist. Die Feuerführung erfolgt parallel zur
Staatsgrenze.“
Am 26. April 1976 verdichteten sich die Hinweise, daß ein neuerlicher
Versuch G s, im relevanten Grenzbereich erneut eine Splittermine
abzubauen, unmittelbar bevorstand. Oberstleutnant T sandte daraufhin
an Generalleutnant Kl zwei chiffrierte Telegramme, in denen
die „Festnahme oder Vernichtung des zu erwartenden Täters“ als Ziel der
Operation genannt ist.
G beobachtete am 29. April 1976 nachmittags in der Nähe
der Grenzsäule 231 das Gelände mit einem Fernglas und wurde dabei
von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit beobachtet und fotografiert.
In der Tatnacht zum 1. Mai 1976, einer dunklen Neumondnacht, waren
die Splitterminen im Bereich des Grenzknicks abgeschaltet, um eine Gefährdung
der „Kämpfer“ auszuschließen. Der Metallgitterzaun war „freundwärts“
durch zwei am Grenzknick angebrachte Scheinwerfer erleuchtet, die parallel
zum Zaun ausgerichtet waren und den „freundwärts“ befindlichen Geländestreifen
am Zaun erleuchteten. Das vorgelagerte Gelände lag völlig im Dunkeln.
„Feindwärts“ des Zaunes, etwa fünf Meter von diesem entfernt, lagen
vier Mitglieder der Einsatzkompanie im Gras, nämlich die Zeugen L
, R , Wi und Li . „Freundwärts“ waren zahlreiche Kräfte
eingesetzt, die über einen zentralen Führungspunkt durch eine Telefonverbindung
mit Oberstleutnant T verbunden waren.
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G hatte zwei Helfer gewonnen, um mit ihnen zum dritten
Mal eine Splittermine abzubauen, die Zeugen Lie und U . Sie begaben
sich zu dritt am 30. April 1976 gegen 22.30 Uhr zur Grenzsäule 231. Alle
drei waren mit scharfen Schußwaffen ausgerüstet, G und Lie
jeweils mit einer geladenen Pistole, U mit einer geladenen abgesägten
Schrotflinte. G führte ferner diverses Werkzeug zum Abbau
einer Mine mit und war mit einem langen schwarzen Mantel bekleidet. Alle
drei hatten sich ihre Gesichter, Hände und Turnschuhe mit Schuhcreme geschwärzt.
Bei Beobachtung der Grenzsicherungsanlagen fiel ihnen als Veränderung
auf, daß Scheinwerfer installiert worden waren, die das Gelände
hinter dem Zaun ausleuchteten, während das vorgelagerte Gelände zwischen
Grenze und Zaun völlig im Dunkeln lag. U wollte zudem verdächtige
Geräusche wie ein metallisches Klicken oder Schritte gehört haben. Lie
und U konnten mit der Äußerung ihrer Bedenken angesichts der ihnen
„unheimlich“ erscheinenden Situation G nicht zur Aufgabe
des Plans, sondern lediglich zu dessen Modifizierung bewegen. G
hatte nunmehr die Idee, die Mine an der Ecke des Zaunes - statt
sie abzubauen - wenigstens zu zünden, um der DDR zu signalisieren, „daß
er wieder einmal zugeschlagen“ habe. Damit, daß sich in dem DDR-Gelände
vor dem Zaun Grenzposten aufhalten oder dort gar einen Hinterhalt gelegt
haben würden, rechnete keiner der drei Männer. Lie und U postierten
sich in der Nähe zur Grenzsäule 231, voneinander getrennt. Zwischen
G und ihnen war abgesprochen, daß sie beide beim Erscheinen
von Grenzsoldaten „Halt! Grenzschutz!“ oder etwas ähnliches rufen und
notfalls G s Rückzug durch den Einsatz ihrer Waffen sichern
sollten. G schlich sich nun gebückt auf den Grenzknick und die
Ecke des Zaunes zu. „Da man wegen der zuvor wahrgenommenen Geräusche
Argwohn geschöpft hatte“ und das Vorhaben nun wegen der Nähe zum
Zaun ganz besonders gefährlich wurde, zog G seine durchgeladene
Pistole hervor.
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Der Zeuge Li , der seine Maschinenpistole befehlswidrig neben sich
gelegt hatte, möglicherweise zwischenzeitlich auch eingeschlafen war, bemerkte
als erster der „feindwärts“ eingesetzten Posten G , der
sich in gebückter Haltung bis auf etwa fünf bis zehn Meter der Ecke des Metallgitterzaunes
genähert hatte. Li griff daraufhin nach seiner abgelegten
Maschinenpistole, wobei er ein metallisches Geräusch, möglicherweise
durch Anstoßen der Waffe gegen einen Stein, verursachte. Das Landgericht
hat nicht ausschließen können, daß G das metallische Geräusch,
dessen Ursache nur wenige Meter entfernt war, wahrnahm und ihm
nun klar war, daß er in einen Hinterhalt der Grenzposten geraten war. Das
Landgericht hat weiterhin nicht ausschließen können, daß G in
dieser Situation jedenfalls als erster mindestens einen, nicht ausschließbar
aber auch einen zweiten Schuß in Richtung des Geräusches und damit der
Posten abgab. Wie weiterhin nicht ausschließbar, werteten die vier „feindwärts“
eingesetzten Posten diesen Schuß - möglicherweise auch zwei
Schüsse - G s als Angriff auf ihr Leben; sie schossen daraufhin
zurück. Als erster schoß - nahezu zur gleichen Zeit wie G -
Li mit seiner Maschinenpistole auf G , wobei der zeitliche Abstand
so gering war, daß sich die Schußgeräusche der Pistole und der Maschinenpistole
akustisch überlagerten. Auch die drei anderen Posten eröffneten
nun sofort das Feuer auf G . Alle vier schossen mit Dauerfeuer.
G wurde noch in aufrechter oder gebückter Haltung von
drei Kugeln im Oberkörper getroffen, wobei ein Geschoß Herz, Lunge und
Rückenmark durchschlug, was zum Zusammenbruch des Kreislaufs und zum
Herztod führte, so daß G sofort zusammensackte. Danach gaben
die vier Posten weitere, mehrere Sekunden dauernde Feuerstöße in
Richtung des liegenden G ab, der von zahlreichen Schüssen
getroffen wurde. Nach dieser ersten Schußfolge trat eine kurze Pause ein.
Ein Scheinwerfer an der Ecke des Zaunes wurde auf das vorgelagerte Gelände
geschwenkt.
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Bei Beginn der Schießerei waren Lie und U aus Angst, selbst
beschossen zu werden, in das Hinterland geflüchtet. Lie trat dabei auf
einen Ast und verursachte ein knackendes Geräusch. Das Landgericht hat
nicht ausschließen können, daß der Posten L dieses Knacken
wahrnahm und befürchtete, auf westlichem Gebiet könnten sich bewaffnete
Komplizen G s befinden. Möglicherweise rief L , um im
Scheinwerferlicht nicht selbst ein leichtes Ziel abzugeben und ein freies
Schußfeld zu haben: „Licht aus! Weg da vorne!“ Währenddessen hatte U
den Eindruck, von Seiten der DDR kämen zwei Scheinwerfer, die er für Autoscheinwerfer
hielt, auf ihn zu. Er gab daher mit der abgesägten Schrotflinte
einen Schuß in Richtung dieser vermeintlichen Autoscheinwerfer ab. Möglicherweise
als Reaktion auf diesen Schuß gab der Posten L in
Richtung des Standorts U s einen oder zwei kurze Feuerstöße ab. Mehrere
Geschosse schlugen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im
Baumwerk ein. Lie und U flüchteten.
Sofort nach dem Tatgeschehen setzten von höchster Stelle angeordnete
Vertuschungsmaßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit ein.
Insbesondere wurde die Leiche G s anonym und ohne Eintragung
in das Sektionsbuch obduziert. Alle Schützen wurden mit dem „Kampforden
in Silber“ ausgezeichnet, den sie jedoch nicht tragen durften.
Das Landgericht hat das festgestellte Geschehen im wesentlichen folgendermaßen
rechtlich gewürdigt:
Es ist sowohl hinsichtlich der ersten als auch hinsichtlich der zweiten
Schußfolge der DDR-Schützen zur Annahme von Notwehr gelangt, weil zum
ersten Handlungsteil nicht auszuschließen sei, daß G als erster
schoß, und die zweite Schußfolge eine Reaktion auf den Schuß des Zeugen
U gewesen sei. Deshalb hat das Landgericht unter dem Gesichtspunkt
der „überholenden Kausalität“ angenommen, daß eine vom Angeklagten
nicht geplante Kausalkette in Gang gesetzt worden sei, weshalb ein vollen-
13 -
detes Tötungsdelikt (Mord nach § 112 StGB-DDR) nicht vorliege. Der Angeklagte
habe lediglich eine erfolglose Aufforderung zur Begehung eines Mordes
(nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112 StGB-DDR) begangen. Da die Verfolgung
dieses Deliktes verjährt sei, sei das Verfahren nach § 260 Abs. 3 StPO
einzustellen.
Eine etwa fortbestehende Verfolgbarkeit der Tat nach dem Recht der
Bundesrepublik Deutschland ist im Urteil nicht erörtert.
II.
Die Revision der Staatsanwaltschaft führt allein zu einer Änderung des
Urteils zugunsten des Angeklagten.
1. Das angefochtene Urteil enthält keinen sachlich-rechtlichen Fehler
zum Vorteil des Angeklagten, soweit es die Beweiswürdigung und die Subsumtion
der getroffenen Feststellungen unter das sachliche Recht betrifft.
a) Die Beweiswürdigung ist rechtsfehlerfrei.
Namentlich geht die Einzelbeanstandung der Beschwerdeführerin fehl:
Die sachlich-rechtlichen Einwände gehen allein dahin, daß die Feststellung,
der Zeuge U habe nach der ersten Schußfolge mit der abgesägten
Schrotflinte einen Schuß in Richtung der Scheinwerfer abgegeben (UA
S. 51), einzig auf die Bekundungen dieses Zeugen gestützt wird (UA S. 99 f.,
108), während sich aus der schriftlichen Erklärung des Zeugen L ,
die dieser als Beschuldigter in dem Verfahren vor dem Landgericht Schwerin
unter dem 9. November 1999 abgegeben hat (UA S. 83 bis 86), die Wahrnehmung
eines solchen Schusses nicht ergebe. Der Zeuge U hat einen
solchen von ihm abgegebenen Schuß kontinuierlich - in der polizeilichen
Vernehmung vom 1. Mai 1976, in der staatsanwaltschaftlichen Vernehmung
vom 20. Oktober 1992 sowie in der Hauptverhandlung - und jeweils detail-
14 -
reich geschildert. Es begründet keinen sachlich-rechtlichen Fehler, daß das
Landgericht diesem substantiierten Eingeständnis des Schützen U gefolgt
ist, ohne in diesem Zusammenhang darauf Bezug zu nehmen, daß der
Zeuge L diesen Schuß in einer früheren Erklärung nicht geschildert
hat. Soweit die Revision darüber hinaus an das Protokoll der landgerichtlichen
Hauptverhandlung anknüpft, ist dies - angesichts der allein erhobenen
Sachrüge - unbeachtlich.
b) Auch die rechtliche Würdigung enthält keinen Rechtsfehler zum
Vorteil des Angeklagten.
aa) Das gilt zunächst für die Würdigung nach dem Recht der DDR.
Eine Strafbarkeit des Angeklagten würde (auch) voraussetzen, daß er
sich mit der in der DDR begangenen Tat nach dem dort zur Tatzeit geltenden
Recht strafbar gemacht hätte (§ 2 StGB i.V. mit Art. 315 Abs. 1 EGStGB).
Eine Beteiligung an einem Tötungsdelikt gegen G oder
seine Begleiter in Form der Täterschaft, Anstiftung oder Beihilfe liegt nach
den Feststellungen nicht vor: Die vier Schützen schossen zunächst - nicht
ausschließbar - in der ersten Schußfolge als Reaktion auf den einen Schuß
oder die zwei von G möglicherweise zuerst auf sie selbst abgegebenen
Schüsse. Die in der zweiten Schußfolge von L in Richtung
des Standorts U s abgegebenen Schüsse waren - nicht ausschließbar
- eine Reaktion auf den Schuß U s mit der Schrotflinte. Danach kann
in allen Schüssen der DDR-Schützen, weil in Notwehr nach § 17 Abs. 1
StGB-DDR begangen, „keine Straftat“ gefunden werden. Dies hat zur Folge,
daß der Angeklagte an diesen Taten weder als Täter (§ 22 Abs. 1 StGBDDR),
noch als Mittäter (§ 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR), noch als Anstifter
(§ 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR) oder als Gehilfe (§ 22 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR)
beteiligt sein kann.
- 15 -
Vielmehr liegt im Verhalten des Angeklagten lediglich eine erfolglose
Aufforderung zur Begehung eines Mordes nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112
StGB-DDR. Es sei angemerkt, daß das Landgericht Schwerin unter dem Gesichtspunkt
der Notwehr oder der Putativnotwehr drei der Schützen vom
Vorwurf des versuchten Mordes rechtskräftig (vgl. BGH, Beschluß nach
§ 349 Abs. 2 StPO vom 24. April 2001 - 4 StR 410/00) freigesprochen hat,
nachdem das Verfahren gegen den vierten Schützen nach § 170 Abs. 2
StPO eingestellt worden war.
Die Tat des Angeklagten war nicht gerechtfertigt.
Zur Tatzeit war der Schußwaffengebrauch der hier tätig gewordenen
speziellen Einsatzkompanie des Ministeriums für Staatssicherheit allein
durch die vom Minister für Staatssicherheit erlassene Ordnung über den
Gebrauch von Schußwaffen für die Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit
- Schußwaffengebrauchsordnung - vom 5. Februar 1976 geregelt.
Diese entsprach in den hier in Betracht kommenden Teilen nahezu gleichlautend
der für die regelmäßig den Dienst an der Grenze versehenden Grenztruppen
geltenden Dienstvorschrift DV 018/0/008 „Einsatz der Grenztruppen
zur Sicherung der Staatsgrenze - Grenzkompanie“ vom 5. August 1974.
Diese allein internen Verwaltungsvorschriften waren schon als solche nicht
geeignet, vorsätzliches tödliches Schießen an der innerdeutschen Grenze zu
rechtfertigen. Entsprechend hat der Senat bereits im Urteil BGHSt 39, 353,
366 f. - zu der „Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung
in der Grenzkompanie“ (DV - 30/10) vom 8. Februar 1964 - entschieden.
Eine anderweitige Rechtfertigung ergibt sich aus dem Recht der
DDR nicht.
Vielmehr gilt folgendes: Die Staatspraxis der DDR, die die vorsätzliche
Tötung von Flüchtlingen durch Schußwaffen, insbesondere auch durch
Selbstschußanlagen und Minen zur Vermeidung einer Flucht aus der DDR in
Kauf nahm, war wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen
- 16 -
elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte
Menschenrechte nicht geeignet, die Täter zu rechtfertigen (BGHSt 40, 218,
232 m.w.N.). Diese für die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen entwickelten
Grundsätze müssen auch auf den vorliegenden Fall Anwendung finden, in
dem versucht wurde, eine Selbstschußanlage zu demontieren. Wenngleich
es hier nicht um die Verhinderung einer Flucht aus der DDR im Einzelfall
geht, steht das Tun des Angeklagten im Gesamtzusammenhang der Sicherung
der eben beschriebenen Staatspraxis der DDR. Es muß daher der entsprechenden
rechtlichen Bewertung unterfallen.
Die Verfolgung des Deliktes nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112 StGBDDR,
das mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht war und für das
nach § 82 Abs. 1 Nr. 2 StGB-DDR eine Verjährungsfrist von fünf Jahren galt,
ist jedoch mit Ablauf des 2. Oktober 2000 verjährt (§ 315a Abs. 2 EGStGB
i.d.F. des 3. Verjährungsgesetzes vom 22. Dezember 1997, BGBl I 3223).
Gleichzeitig ist die absolute Verjährung eingetreten (§ 78c Abs. 3 Satz 2
StGB i.V. mit Art. 315a Abs. 1 Satz 3 letzter Halbsatz EGStGB).
bb) Auch begründet es keinen durchgreifenden Rechtsfehler, daß das
Landgericht nicht erörtert hat, ob die Tat im Hinblick auf einen etwaigen
Strafanspruch der Bundesrepublik Deutschland noch geahndet werden kann.
Im Ausgangspunkt zutreffend hat der Generalbundesanwalt darauf
hingewiesen, daß ein Strafanspruch der Bundesrepublik Deutschland entstanden
ist, der möglicherweise nicht verjährt sei. Indes greift dieser Gesichtspunkt
im Ergebnis nicht durch.
(1) Allerdings findet auf die Tat das Strafrecht der Bundesrepublik
Deutschland schon deshalb Anwendung, weil das Tatopfer ein Bürger der
Bundesrepublik Deutschland sein sollte (§ 7 Abs. 1 StGB).
- 17 -
Danach kommt es auf die weiterhin vom Generalbundesanwalt angestellte
Erwägung im Ergebnis nicht an, daß sich die Anwendung des Strafrechts
der Bundesrepublik Deutschland auch aus §§ 3, 9 Abs. 1 StGB etwa
daraus ergeben könnte, daß der Angeklagte die Vorstellung gehabt hätte, es
würde über die Grenze der DDR hinaus geschossen werden, so daß der
Tatort (auch) in der Bundesrepublik Deutschland liegen sollte. Hierzu ist zu
bemerken: Es liegt fern, daß der Angeklagte mit der Möglichkeit rechnete, die
Tötung G s oder seiner Helfer würde auf dem Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland erfolgen. Vor dem Metallgitterzaun lag ein 30 Meter
breiter zum Territorium der DDR gehöriger Geländestreifen. Die Planung
ging dahin, G und seine Begleiter unmittelbar vor dem Zaun,
also auf dem Gelände der DDR zu stellen. Dabei wollte man - offenbar zur
Vermeidung politischer Komplikationen - Schüsse auf das Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland vermeiden. So wurde schon in der Besprechung am
24. April 1976 beschlossen, daß die Feuerführung parallel zur Staatsgrenze
erfolgen sollte (UA S. 26). Ebenso heißt es im „Maßnahmeplan“ vom
26. April 1976: „Die Feuerführung erfolgt parallel zur Staatsgrenze“ (UA
S. 35). Daß schließlich gleichwohl Schüsse auf dem Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland einschlugen, kann einen entsprechenden Vorsatz des Angeklagten
nicht näherliegend erscheinen lassen.
(2) Eine nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland strafbare
Tat wäre hier nur dann noch verfolgbar, wenn es sich um eine versuchte
Anstiftung zu einem Mord (§ 30 Abs. 1 i.V. mit § 211 StGB) handeln würde
(§ 78 Abs. 2 StGB). Indes ergibt sich aus den Feststellungen die versuchte
Anstiftung zu einem Mord, zu dessen Begründung allein das Merkmal der
Heimtücke in Betracht kommt, nicht.
Heimtückisch handelt, wer eine zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende
Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zur Tat ausnutzt (Tröndle/
Fischer, StGB 52. Aufl. § 211 Rdn. 16 m.N. der st. Rspr.). Jedoch entfällt
die Arglosigkeit des Opfers dann, wenn es im Tatzeitpunkt mit einem schwe-
18 -
ren oder doch erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit
rechnet (BGHSt 33, 363, 365; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 13, 27,
29; BGH NStZ-RR 2004, 14, 15). So liegt es hier. G und seine
Helfer, die nach dem vorangegangenen zweimaligen Abbau von Minen eine
höchste Wachsamkeit der DDR-Organe voraussetzten, rechneten - auf realer
Grundlage und konkret - mit einem Angriff, als sie sich zu dritt scharf bewaffnet
und mit geschwärzten Gesichtern, Händen und Turnschuhen der
Grenze näherten. Ihre Skepsis steigerte sich, als U „verdächtige Geräusche
wie ein metallisches Klicken oder Schritte gehört haben wollte“ (UA
S. 45). Daher hebt das Landgericht zu Recht ausdrücklich hervor, daß sie
„Argwohn“ hegten, gar als G gebückt mit gezogener und
durchgeladener Pistole auf den Grenzknick zuschlich (UA S. 47). Nichts
spricht für hiervon abweichende Vorstellungen des Angeklagten bei seinen
Befehlen.
Die Verfolgung wegen versuchter Anstiftung zum Totschlag (§ 30
Abs. 1 i.V. mit § 212 StGB) ist verjährt. Die am 30. April 1976 beginnende
Verjährungsfrist von 20 Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB) endete am
29. April 1996. Diejenigen Vorschriften, die die Verjährung von nach dem
Strafrecht der DDR begangenen Straftaten ergänzend regeln ([1.] Verjährungsgesetz
vom 26. März 1993, BGBl I 392; 2. Verjährungsgesetz vom
27. September 1993, BGBl I 1657, und 3. Verjährungsgesetz vom 22. Dezember
1997, BGBl I 3223), berühren den nach dem Recht der Bundesrepublik
Deutschland entstandenen Strafanspruch nicht, dessen Verjährung unter
keinem Gesichtspunkt gehemmt ist. Die erste etwa unterbrechungstaugliche
Handlung erfolgte mit der Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens
gegen den Angeklagten am 8. Juli 1996 (Sachakten Bd. V Bl. 464 ff.).
2. Die Überprüfung des angefochtenen Urteils nach § 301 StPO führt
jedoch zur Freisprechung des Angeklagten.
- 19 -
a) Allerdings hat das Landgericht ohne einen den Angeklagten benachteiligenden
sachlich-rechtlichen Fehler zu den getroffenen Feststellungen
und zu der rechtlichen Würdigung gefunden. Dabei hat es insbesondere die
Planungen und organisatorischen Vorkehrungen der Organe der DDR und
die dazu beitragenden Handlungen des Angeklagten rechtsfehlerfrei festgestellt.
Namentlich ist es dabei ohne Rechtsfehler zu der Feststellung gelangt,
daß die beteiligten Führungskräfte der DDR einschließlich des Angeklagten
die - in den Dokumenten hinter dem Wort „vernichten“ kaum verborgene -
Tötung G s und seiner Helfer für den Fall geplant hatten, daß
diese Personen nicht würden festgenommen werden können (vgl.
BVerfGE 95, 96, 139; BGHSt 40, 218, 223 f. und 241, 242).
b) Indes war nicht, wie geschehen, das Verfahren einzustellen, sondern
auf Freispruch zu erkennen. Dies holt der Senat - mit der geänderten
Kostenfolge nach § 467 Abs. 1 StPO (vgl. BGH, Beschluß vom 4. Mai 2004
- 3 StR 126/04) - nach.
Kann bei tateinheitlichem oder sonst rechtlichem Zusammentreffen
eines schwereren und eines leichteren Tatvorwurfs der schwerere nicht
nachgewiesen werden und ist der leichtere wegen Vorliegens eines unbehebbaren
Verfahrenshindernisses nicht mehr verfolgbar, so hat die Sachentscheidung
Vorrang vor der Verfahrensentscheidung, weil der schwerer wiegende
Vorwurf den Urteilsausspruch bestimmt (st. Rspr.: BGHSt 1, 231, 235;
7, 256, 261 und 13, 268; BGH GA 1959, 17; BGH bei Pfeiffer/Miebach
NStZ 1985, 495; BGH, Beschluß vom 4. Mai 2004 - 3 StR 126/04; ebenso
schon RGSt 66, 51; zustimmend das Schrifttum: Gollwitzer in Löwe/
Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 260 Rdn. 103 bis 105; Schoreit in KK 5. Aufl.
§ 260 Rdn. 51; Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl. § 260 Rdn. 46). So liegt es
hier. Die dem Angeklagten durch die Anklage vorgeworfene vorsätzliche Tötung
G s, Mord nach § 112 StGB-DDR, Totschlag nach § 212
StGB, die nicht verjährt wäre (vgl. nur BGHSt 42, 332, 336 m.w.N.), konnte
nicht festgestellt werden. Die allein festgestellte erfolglose Aufforde-
20 -
rung zur Begehung einer Tat nach § 227 Abs. 1 i.V. mit § 112 StGB-DDR ist
verjährt.
Basdorf Häger Raum
Brause Schaal



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