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BGH, Urteil vom 2. März 2004 - 1 StR 574/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 2.3.2004 - 1 StR 574/03
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 574/03
vom
2.03.2004
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 2.03.2004,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin
als Verteidigerin,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts München II vom 17. September 2003 mit den
Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zur
Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision
des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
Das Landgericht hat das Ablehnungsgesuch des Angeklagten, das
wegen Besorgnis der Befangenheit gegen den Vorsitzenden der Strafkammer
gerichtet war, zu Unrecht zurückgewiesen (§ 338 Nr. 3, § 24 Abs. 1 und 2
StPO).
I.
1. Der Rüge liegt nach dem Vortrag der Revision folgender
Verfahrenssachverhalt zugrunde:
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Am ersten Hauptverhandlungstag, dem 10. September 2003, unterbrach
der Vorsitzende der Strafkammer den Angeklagten bei der Einlassung zur
Sache und äußerte:
"Sie wären der erste Albaner, der sich seine Frau nicht
zurechtschnitzt."
Im weiteren Verlauf dieses Verhandlungstages während der
Vernehmung der Geschädigten bemerkte er:
"Es ist bei Albanern keine Seltenheit, daß sie im Falle der
Bedrohung ein Messer ziehen."
Am Abend dieses Hauptverhandlungstages kollabierte der Angeklagte.
Ein Notarzt wurde herbeigerufen. Der Angeklagte wurde in die
Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt überstellt, konnte aber die Nacht
wieder in seiner Zelle verbringen. Bei Fortsetzung der Hauptverhandlung am
11. September 2003 nach 13.30 Uhr erklärte der Angeklagte, es gehe ihm nicht
gut, er sehe schwarz vor den Augen, zittere am ganzen Körper, habe nicht
geschlafen und nichts gegessen und bemühe sich, "nicht vom Stuhl zu kippen";
er könne der Verhandlung nicht folgen. Die Frage des Vorsitzenden, ob er - am
Vormittag - beim Arzt gewesen sei, verneinte der Angeklagte. Darauf äußerte
sich der Vorsitzende wie folgt:
"Es ist immer leicht, nicht zum Arzt zu gehen, der dann feststellt,
daß einem nichts fehlt und dafür später dem Richter zu sagen,
man könne der Verhandlung nicht folgen. Hören Sie auf, sich
selbst zu bemitleiden. Dann sehen Sie mal, wie es Ihrer Frau
ergangen ist, als sie drei- bis viermal die Woche neben dem Bett
stehen mußte oder in eiserner Kälte die ganze Nacht an einem
Stuhl angebunden war. Offensichtlich haben Sie die Zeit
zwischen gestern Abend und heute nicht genutzt, um sich zu
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überlegen, etwas zur Sache zu sagen, statt dessen haben Sie
sich selbst bemitleidet."
Der Angeklagte erklärte nun, daß er heute nichts sagen könne, da er
glaube, daß sich sein Zustand nicht bessern werde. Der Strafkammervorsitzende
reagierte mit folgender Bemerkung:
"Es wird Ihnen nahe gelegt, über den gestrigen Tag
nachzudenken. Es gab keinen Zeugen, der Sie entlastet hat. Die
Glaubwürdigkeit der Zeugin ... (die Geschädigte) wird wohl auch
durch die Sachverständigen bestätigt werden. Frau
Dr. W. wird die Aussage Ihrer Ehefrau noch stützen,
insbesondere wird sie darlegen, wie der psychische Knick Ihrer
Frau zustande gekommen ist. Der Karren, den Sie vor sich
herschieben, ist Ihnen wohl entglitten, Sie werden ihn nicht unter
Kontrolle kriegen, er ist auf Bergabfahrt und wird wohl gegen die
Wand fahren. Ihre Landsleute legen sehr ungern Geständnisse
ab. Wenn sie verurteilt werden, fangen sie das Weinen und
Zähneknirschen an. Jetzt haben Sie es noch in der Hand, etwas
zu beeinflussen. Nicht mehr, wenn alle Zeugen gehört sind. Sie
haben bereits zehn Stunden verhandeln lassen, allein vier
Stunden das Opfer vernehmen lassen und wenn erst die letzte
Zeugin gehört wird, die aller Wahrscheinlichkeit nach ihre
Aussage wiederholen wird, ist es schon zu spät. Pflegen Sie
nicht Ihren selbstmitleidigen Zustand, sondern nutzen Sie die
Zeit; reden Sie vielleicht mit Ihrer Anwältin über den gestrigen
Tag."
2. Zu dem daraufhin angebrachten Ablehnungsgesuch erklärte der
Vorsitzende dienstlich, auf die beiden zuerst angeführten Äußerungen brauche
er eine Stellungnahme nicht abzugeben, weil diese als Ablehnungsgrund nicht
unverzüglich vorgebracht worden seien. Ohne daß er die
Sachverhaltsschilderung im Ablehnungsgesuch in Abrede stellte, erklärte er
weiter, aufgrund der am ersten Verhandlungstag erfolgten zehnstündigen
Beobachtung des Angeklagten habe festgestellt werden können, daß der
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Gesundheitszustand des Angeklagten keineswegs so habe sein können, wie
dieser das behauptet habe. Hierauf seien mehrere Fragen und Vorhaltungen
erfolgt. Im folgenden habe er dann aufgrund der Fürsorgepflicht und im Blick
auf die Beweislage nach dem ersten Sitzungstag dem Angeklagten nahegelegt,
seine Einlassung zu überdenken, nachdem sämtliche sieben der am ersten
Verhandlungstag vernommenen Zeugen den Angeklagten belastet hätten.
Dabei habe er den Angeklagten auch auf die zu erwartende Aussage der
letzten Zeugin hingewiesen, die bereits in ihrer ausführlichen polizeilichen
Vernehmung die Bekundungen der Geschädigten aus ihrer Sicht als
Psychiaterin gestützt habe.
3. Das Landgericht hat den Ablehnungsantrag als unbegründet
zurückgewiesen. Hinsichtlich der beiden Äußerungen vom 10. September 2003
sei die Ablehnung verspätet und deshalb unzulässig. Die Bemerkungen vom
11. September 2003 seien kein Grund, an der Unbefangenheit des
Vorsitzenden ernstlich zu zweifeln. Es gehöre zur Fürsorgepflicht des Gerichts,
nach der Vernehmung fast aller Zeugen auf die Beweislage hinzuweisen und
dem Angeklagten auch ein Geständnis nahezulegen, das zu einer erheblichen
Strafmilderung führen könne. Es habe zudem Grund bestanden, an den
Angaben des Angeklagten zu seinem Gesundheitszustand zu zweifeln.
II.
Die Richterablehnung mußte für durchgreifend erachtet werden. Die
Bemerkungen des Vorsitzenden der Strafkammer in der Hauptverhandlung am
11. September 2003 waren geeignet, Mißtrauen gegen seine Unparteilichkeit zu
rechtfertigen (§ 24 Abs. 2 StPO).
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1. Der Senat legt der Beurteilung der Äußerungen des abgelehnten
Vorsitzenden - die nach Beschwerdegrundsätzen zu erfolgen hat (BGHSt 18,
200) - denjenigen Sachverhalt zugrunde, den die Revision vorgetragen hat und
der schon im Ablehnungsantrag dargestellt worden war. Der abgelehnte Richter
ist dem in seiner Dienstlichen Erklärung in den Einzelheiten nicht
entgegengetreten. Auch der zur Entscheidung über das Ablehnungsgesuch
berufenen Kammer lag dieser Sachverhalt so vor. Die Staatsanwaltschaft hat
eine Revisionsgegenerklärung dazu nicht abgegeben. Die Nebenklage ist der
Sachdarstellung - auch in der Revisionshauptverhandlung - ebenfalls nicht
entgegengetreten.
2. Die Bemerkungen des abgelehnten Richters am ersten
Hauptverhandlungstag haben nicht unverzüglich zu einem Ablehnungsantrag
geführt (§ 25 Abs. 2 StPO). Ein solcher Antrag hätte spätestens zu Beginn der
Fortsetzung der Hauptverhandlung am folgenden Tag um 13.30 Uhr gestellt
werden müssen. Das ist nicht geschehen. Die Äußerungen können deshalb das
hier in Rede stehende Ablehnungsgesuch vom 11. September 2003 für sich
gesehen nicht rechtfertigen. Das hat das Landgericht rechtlich zutreffend
gewürdigt.
3. Hinsichtlich der Bemerkungen des abgelehnten Richters vom
11. September 2003 gilt:
a) Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes ist grundsätzlich vom
Standpunkt des Angeklagten aus zu beurteilen. Ob der Richter tatsächlich
parteiisch oder befangen ist, spielt keine Rolle. Mißtrauen in die Unparteilichkeit
eines Richters ist dann gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger
Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, der
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Richter nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die seine
Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (vgl.
Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. § 24 Rdn. 6, 8 m.w. Nachw.). Dabei ist der
Sachverhalt auch unter Berücksichtigung der Dienstlichen Erklärung des
abgelehnten Richters zu beurteilen; zunächst berechtigt erscheinendes
Mißtrauen ist danach möglicherweise zu überwinden (vgl. BGHSt 4, 264, 269,
270; BGH wistra 2002, 267 m.w.N.; BGH, Beschl. vom 18. November 2003
- 1 StR 481/03).
Aus der Verhandlungsführung des Richters kann sich ein solches
Mißtrauen in die Unvoreingenommenheit ergeben, wenn dieser in grob
unsachlicher Weise seinen Unmut zum Ausdruck bringt, wenn er den
Angeklagten bedrängt, zur Sache auszusagen oder ein Geständnis abzulegen
oder wenn er den Angeklagten sonst unter Verletzung des richterlichen
Verhandlungsstils in unangemessener oder gar ehrverletztender Weise
behandelt (vgl. Meyer-Goßner aaO Rdn. 17 mit Rechtsprechungsnachw.). Nicht
zu beanstanden ist es hingegen, wenn er dem Angeklagten in nachdrücklicher
Form Vorhalte macht, sich in nach Sachlage noch verständlichen
Unmutsäußerungen ergeht ("Unmutsaufwallungen"), auf das nach dem
gegebenen Sachstand zu erwartende Verfahrensergebnis hinweist oder die
Bedeutung eines Geständnisses für die Strafzumessung hervorhebt (vgl.
Meyer-Goßner aaO Rdn. 18 mit Rechtsprechungsnachw.).
b) Die kritischen und nachdrücklichen Bemerkungen des Vorsitzenden
zum Gesundheitszustand des Angeklagten konnten hier bei vernünftiger
Betrachtung eine Voreingenommenheit des Vorsitzenden ebensowenig
besorgen lassen wie die Hinweise auf das bisherige Ergebnis der
Beweisaufnahme und deren voraussichtlichen weiteren Verlauf. Einem Richter
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ist es unbenommen, situationsangemessen und auf das Naturell des jeweiligen
Angeklagten eingehend, entsprechende Erklärungen und Fragen auch mit
Nachdruck und in klarer, dem jeweiligen Angeklagten sicher verständlicher
Sprache zu formulieren. Dabei darf er auch Worte wählen, mit denen er den
jeweiligen Angeklagten wirksam erreicht ("individuelle Ansprache"). Wenn dies
situationsbedingt in der Formulierung mit einem gewissen Unmut verbunden ist,
so muß das unter den vorliegend gegebenen Umständen auch aus Sicht des
Betroffenen grundsätzlich noch als nachvollziehbar erscheinen.
Hier jedoch gehen die Äußerungen des Vorsitzenden darüber hinaus. Er
hat sie sicher als helfende Ansprache des Angeklagten und nicht etwa
diskriminierend gemeint. Darauf aber kommt es nicht an. Entscheidend ist, wie
sie sich aus Sicht eines vernünftigen Angeklagten darstellen. Auch im Lichte
der dazu abgegeben, allgemein gehaltenen Dienstlichen Äußerung konnten sie
für diesen den Eindruck erwecken, der Vorsitzende wahre nicht mehr das
gebotene und unverzichtbare Maß an Distanz und Neutralität. Das ergibt sich
aus der Summe verschiedener Anhaltspunkte. So hat der Vorsitzende den
Angeklagten aufgefordert, er solle mal sehen, wie es seiner Frau ergangen sei,
als sie drei- bis viermal in der Woche neben dem Bett habe stehen oder in
eisiger Kälte die ganze Nacht an einen Stuhl angebunden habe ausharren
müssen; offensichtlich habe der Angeklagte die Zeit zwischen den beiden
Verhandlungstagen nicht genutzt, um sich zu überlegen, etwas zur Sache zu
sagen; statt dessen habe er sich selbst bemitleidet. Zu diesem Zeitpunkt hatte
der Angeklagte sein Teilgeständnis noch nicht abgelegt. Die Äußerung
vermittelte unter diesen Umständen - wörtlich genommen - den Eindruck, der
Vorsitzende habe sich hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme
bereits festgelegt. Selbst wenn sie mit dem unausgesprochenen Vorbehalt
aufgenommen worden wäre, daß die weitere Beweisaufnahme und die
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Beratung kein abweichendes Ergebnis mehr zutage fördere, kommt ein
weiteres hinzu: Der Vorsitzende hat dem Angeklagten vorgehalten, er habe
"bereits zehn Stunden verhandeln lassen". Das konnte naheliegender Weise
dahin verstanden werden, dem Angeklagten werde vorwurfsvoll
entgegengehalten, daß er von seinem Recht zum Leugnen Gebrauch mache
und das Tatgericht damit zu einer längeren Beweisaufnahme zwinge.
c) Schließlich können hier ausnahmsweise die Äußerungen vom ersten
Hauptverhandlungstag ("Sie wären der erste Albaner, der sich seine Frau nicht
zurechtschnitzt.", "Es ist bei Albanern keine Seltenheit, daß sie im Falle der
Bedrohung ein Messer ziehen.") unbeschadet ihrer Präklusion nicht gänzlich
außer Betracht bleiben. Diese Wendungen haben zwar nicht unverzüglich zu
einem Ablehnungsgesuch geführt (§ 25 Nr. 2 StPO). Ihnen kommt jedoch
deshalb noch Bedeutung zu, weil dieses frühere, am Folgetag präkludierte
Geschehen dem weiteren, grundsätzlich berechtigten Ablehnungsgrund ein
erhöhtes Gewicht verleiht (vgl. dazu BGHR StPO § 24 Abs. 2 Vorsitzender 4).
Denn der Vorsitzende hat dem Angeklagten auch am 11. September 2003
entgegengehalten, "seine Landsleute" legten "sehr ungern Geständnisse ab". In
Verbindung mit den Äußerungen am vorangegangenen Hauptverhandlungstag
deutete das auch für einen überlegt reagierenden Angeklagten darauf hin, der
Vorsitzende könne Vorbehalte gegen Angeklagte der Volksgruppe hegen, der
der Angeklagte angehört. Mit dieser Formulierung hat der Vorsitzende bei
seiner Verhandlungsführung die verallgemeinernden, sachlich verfehlten
Formulierungen des ersten Verhandlungstages wieder aufgegriffen und - im
Empfinden des Angeklagten - belebt. Sie sind deshalb bei der Bewertung der
Äußerungen vom 11. September 2003 - obwohl präkludiert - nicht völlig ohne
Bedeutung. Unter all diesen Umständen konnte auch ein besonnener
Angeklagter in nachvollziehbarer Weise besorgen, der Richter bringe nicht das
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gebotene Maß an Distanz und Neutralität ihm gegenüber mit. Da die fraglichen
Äußerungen des Vorsitzenden sich nach den verschiedenen Abschnitten der
Beweisaufnahme summierten, kommt auch eine Bewertung unter dem
Gesichtspunkt verständlicher Unmutsaufwallung nicht mehr in Betracht.
4. Das Ablehnungsgesuch durfte nach allem nicht zurückgewiesen
werden. Deshalb liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO vor.
Dies zwingt den Senat nach dem Willen des Gesetzgebers, das angefochtene
Urteil mit den Feststellungen aufzuheben. Es kommt demnach nicht mehr
darauf an, ob das Urteil in der Sache auf dem Mangel der Mitwirkung des zu
recht abgelehnten Vorsitzenden beruhen kann und ob es sachlich-rechtlich
bedenkenfrei ist.
Nack Boetticher Schluckebier
Hebenstreit Frau Richterin am BGH Elf befindet
sich in Urlaub und ist deshalb an der
Unterschrift gehindert
Nack



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