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BGH, Urteil vom 21. Februar 2002 - 1 StR 538/01


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 21.2.2002 - 1 StR 538/01
1 StR 538/01
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 538/01
vom
21. Februar 2002
in der Strafsache gegen
wegen Mordes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat aufgrund der Verhandlung am 19. Februar 2002 in der Sitzung vom 21. Februar 2002, an denen teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr. Schäfer und die Richter am Bundesgerichtshof Nack, Dr. Wahl, Schluckebier, Dr. Kolz, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt , Rechtsanwalt als Verteidiger, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 30. Mai 2001 wird verworfen.
Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den nunmehr 90 Jahre alten Angeklagten wegen Mordes und wegen versuchten Mordes - die Taten verübte er 1943 und 1944 als etwa 30jähriger Aufseher des Gestapo-Gefängnisses bei Theresienstadt - unter Freispruch im übrigen zu lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
I.
Der Angeklagte war von 1940 bis 1945 Aufseher in dem in der Nähe von Leitmeritz befindlichen Gestapo-Gefängnis "Kleine Festung" bei Theresienstadt (damaliges Protektorat Böhmen und Mähren). In diesem Zeitraum waren dort über 30.000 Häftlinge - Menschen jüdischer Abstammung, Angehörige von Widerstandsgruppen und Kriegsgefangene - unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht, von denen nachweislich 2.500, wahrscheinlich aber wesentlich mehr, ums Leben kamen. Insbesondere gegen Kriegsende entwickelte sich das Gestapo-Gefängnis zu einem Vernichtungslager.
1. Unter dem Lagerkommandanten J. mißhandelte der überwiegende Teil der Aufseher aus Rassenhaß die Häftlinge; die Tötung der Häftlinge "gehörte zum Alltag der Kleinen Festung"; erwähnt seien nur drei vom Landgericht festgestellte Vorfälle:
Im Jahre 1943 wurde in einer "jüdischen Zelle" ein provisorischer Galgen aufgebaut. Mehrere Häftlinge mußten sich unter dem Galgen mit einer Schlinge um den Hals auf eine Bank stellen, unter ihnen ein Häftling namens A. . Dessen Sohn wurde sodann befohlen, die Bank wegzustoßen und so seinen Vater zu erhängen. Nachdem der Sohn sich weigerte, mußte er sich selbst mit der Schlinge um den Hals auf die Bank stellen. Die Aufseher zwangen den Vater, die Bank wegzustoßen, so daß sein Sohn erhängt wurde.
Im März 1945 wurden zwei Häftlinge, deren Flucht gescheitert war, über mehrere Tage grausam gefoltert. Aufseher banden sie auf leiterähnliche Gestelle und zerschlugen ihnen mit Stöcken die Gliedmaßen. Die um den Gnadentod flehenden Häftlinge blieben mehrere Tage auf den Gestellen hängen. Die Aufseher befahlen sodann anderen Häftlingen, die Mißhandelten zu steinigen. Um die Qualen zu verlängern, sollten mit den Steinen zunächst nur die Beine zertrümmert werden. Schließlich "erbarmte" sich ein Häftling und zertrümmerte mit einem Stein die Schädel der Opfer.
An einem kalten Januartag im Jahre 1945 befahl der Lagerkommandant J. zwei jüdischen Häftlingen, sich im Hof nackt auszuziehen. Ein dritter Häftling mußte die beiden nackten Häftlinge unter dem Gejohle der herbeigerufenen Aufseher - unter denen sich auch der Angeklagte befand - mit einem Schlauch so lange mit Wasser bespritzen, bis die um ihr Leben flehenden Opfer schließlich zusammenbrachen und an Unterkühlung starben. Insoweit wurde der Angeklagte, dem der Befehl zur Tötung der Häftlinge angelastet worden war, freigesprochen. Das Landgericht konnte ihm weder eine Täterschaft durch aktives Tun oder durch Unterlassen noch eine Beihilfe nachweisen.
2. Der Angeklagte - er war zur Tatzeit Wachhabender, dem die Wachstube unterstand - hatte die Ideologie des Rassenhasses verinnerlicht und ließ sich hiervon im Umgang mit den Häftlingen leiten. Er galt unter den Aufsehern als einer der gefürchtetsten und grausamsten, gerierte sich als Herrscher über Leben und Tod und nahm nichtige Anlässe zum Vorwand für Quälereien und Tötungen. Zwei Vorfälle sind Gegenstand seiner Verurteilung.
a) Im September 1943 waren jüdische Häftlinge als Erntearbeiter auf dem Feld zur Blumenkohlernte eingesetzt. Der Angeklagte - der die Aufsicht führte - bemerkte, wie ein namentlich nicht bekannter Häftling einen Blumenkohlkopf unter seinem Hemd versteckte. Er schlug mit einem Stock auf den Kopf des Häftlings ein und schoß mindestens zweimal mit (bedingtem) Tötungsvorsatz aus kurzer Entfernung auf den Brust- und Bauchbereich des Gefangenen. Er ließ den Häftling, im Bewußtsein, ihn getötet zu haben, liegen und entfernte sich. Das weitere Schicksal des Häftlings, dem niemand half, ist nicht bekannt. Diese Tat hat das Landgericht als versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen bewertet und eine Freiheitsstrafe von elf Jahren verhängt.
b) Im September 1944 meldete sich der jüdische Ingenieur H. vom Arbeitseinsatz im sog. "Urnenkommando" - dieses mußte Asche von im Krematorium Bohuvice verbrannten Leichen von Häftlingen in die Eger kippen - versehentlich nicht bei der Wachstube zurück. Der Angeklagte veranlaßte, daß der Häftling vor die Wachstube gebracht wurde. Er ließ sich einen Schlagstock aus Haselnußholz bringen und schlug mehrmals mit voller Wucht auf den Kopf und die Schultern des Häftlings, der reaktionslos kopfüber nach vorne stürzte. Dann trat er mit (bedingtem) Tötungsvorsatz mit seinen Stiefeln dem Gefangenen mehrmals wuchtig gegen dessen Kopf, Hals und Brustkorb. Er befahl anderen Häftlingen, den Mißhandelten in die "Totenkammer" zu bringen, wo dieser verstarb. Diese Tat hat das Landgericht als Mord aus niedrigen Beweggründen bewertet und eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt.
II.
Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg; der Erörterung bedarf nur folgendes:
1. Die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten in der Tatsacheninstanz hat das von drei Sachverständigen beratene Landgericht im Wege des Freibeweises festgestellt: Der geistige Zustand des Angeklagten ist altersgemäß; eine psychische Störung liegt nicht vor. Allerdings leidet er an körperlichen Gebrechen. Er hat Durchblutungsstörungen, ein Prostatakarzinom, dessen Behandlung eine Osteoporose hervorgerufen hat, und muß infolge von Schluckstörungen pürierte Kost und Flüssignahrung zu sich nehmen. Diesem Zustand hat das Landgericht - ärztlicher Empfehlung folgend - dadurch Rechnung getragen, daß die Hauptverhandlung auf zwei Stunden pro Tag mit einer längeren Pause beschränkt wurde.
Die - gleichfalls freibeweisliche - Überprüfung durch den Senat ergibt, daß der Angeklagte in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht verhandlungsfähig war. Da das Landgericht die Verhandlungsfähigkeit sorgfältig geprüft, daran keinen Zweifel hatte, und da hierbei keine Rechtsfehler erkennbar sind, kann auch das Revisionsgericht ohne Bedenken von der Verhandlungsfähigkeit ausgehen (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Verhandlungsfähigkeit 1; BGH, Urteil vom 22. Oktober 1992 - 1 StR 575/92; BGH, Beschlüsse vom 9. November 1993 - 1 StR 697/93 -, vom 17. Januar 1995 - 1 StR 804/94 - und vom 22. November 2000 - 1 StR 375/00 -).
Auch die - anders zu beurteilende - Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten für das Revisionsverfahren (vgl. BGHSt 41, 16) ist gegeben. Der Angeklagte hatte, aus denselben Umständen, die seine Verhandlungsfähigkeit vor dem Landgericht begründeten, die Fähigkeit, über die Einlegung des Rechtsmittels der Revision verantwortlich zu entscheiden. Zudem ist nicht zweifelhaft, daß der Angeklagte während der Dauer des Revisionsverfahrens wenigstens zeitweilig zu einer Grundübereinkunft mit seinem Verteidiger über die Fortführung oder Rücknahme des Rechtsmittels in der Lage war. Das entnimmt der Senat den vom Landgericht getroffenen Feststellungen und zudem der Stellungnahme des ärztlichen Dienstes der JVA München-Stadelheim vom 2. Januar 2002, die unter anderem durch den Anstaltsarzt Dr. F. , der das Landgericht bei der Frage der Verhandlungsfähigkeit in der Tatsacheninstanz beraten hat, verfaßt wurde. Danach hat sich der Zustand des Angeklagten seit seiner Inhaftierung nicht verschlechtert.
2. Die Rüge, das Landgericht habe das Protokoll der kommissarischen Vernehmung des Zeugen L. vor dem österreichischen Bezirksgericht Josefstadt - an dieser Vernehmung durfte der Verteidiger Dr. W. nicht teilnehmen - zu Unrecht verwertet, ist schon nicht zulässig erhoben. So wird insbesondere nicht mitgeteilt, ob der Verteidiger der Verwertung (rechtzeitig) widersprochen hat (BGHR StPO § 168c Anwesenheitsrecht 1; BGH, Beschluß vom 20. November 2001 - 1 StR 470/01). Die Rüge ist jedenfalls unbegründet, da das Landgericht sich ausschließlich auf die Bekundungen dieses Zeugen in der Hauptverhandlung gestützt hat. Zwar wurde dem Zeugen auch das Protokoll seiner kommissarischen Vernehmung vorgehalten, weil er dort mehrere in der Hauptverhandlung bekundete Einzelheiten nicht erwähnt hatte. Für diese Aussageerweiterung in der Hauptverhandlung hat das Landgericht aber eine plausible Erklärung gefunden und sich deshalb allein auf die Aussage in der Hauptverhandlung gestützt. Damit beruht das Urteil nicht auf der kommissarischen Vernehmung.
3. Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Prüfung stand.
Das gilt auch für die Überzeugung des Landgerichts von der Zuverlässigkeit der Angaben der Belastungszeugen. Zu beiden Taten hat das Landgericht jeweils einen Augenzeugen der Tat gehört und bei beiden Zeugen sowohl einen Irrtum als auch eine bewußte Falschaussage rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Zudem wurden deren Angaben durch weitere Beweismittel zumindest mittelbar bestätigt.
a) Die erste Tat hat der damals etwa 17jährige Zeuge K. - er war damals Gast der Familie, die das Feld bewirtschaftete - bekundet. Er war von seinem Freund und anderen Dorfbewohnern auf den als besonders brutal bekannten Angeklagten aufmerksam gemacht worden. Auf einer kleinen Anhöhe stehend, hat er aus einer Entfernung von 35 bis 45 Metern plötzlich Geschrei wahrgenommen, dabei die Tat des Angeklagten gesehen, und gehört, wie der Angeklagte "jüdische Schweine, Schweine, Sauhaufen" brüllte. Er hat den Angeklagten in der Hauptverhandlung wiedererkannt. Dieser Vorfall hatte sich auch im Gestapo-Gefängnis herumgesprochen und der ehemalige Häftling M. hat bekundet, daß davon die Rede war, der Angeklagte habe einen Häftling wegen eines "blöden Blumenkohls" erschossen.
b) Die zweite Tat hat der damals etwa 23jährige Häftling M. bekundet, der über ein nahezu fotografisches Gedächtnis verfügt und deshalb präzise Angaben bis hin zu kleinsten Details machen konnte. Dem Zeugen war befohlen worden, auf dem Hof vor der Wachstube "Strafe zu stehen", indem er mit ausgestreckten Armen mit dem Gesicht zur Wand Ziegelsteine halten mußte. Dabei konnte er aus einer Entfernung von 15 Metern die Tat beobachten und exakt wiedergeben. Der Zeuge schilderte zudem ein Gespräch zwischen dem Hofkommandanten und den Mitgliedern des "Urnenkommandos" vom folgenden Tag, aus dem sich der Name des Getöteten ergibt ("H. hin, H. her, ihr seit jetzt zu fünft".) Ferner erfuhr der Zeuge nach Kriegsende von einem Mithäftling, dieser habe gesehen, wie der Leichnam des Opfers des Angeklagten in der Leichenverbrennungshalle verbrannt worden sei.
4. Auch die Strafzumessung ist rechtsfehlerfrei.
Die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe für den vollendeten Mord war rechtlich geboten. Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die als eigenständiger Strafmilderungsgrund zu einer exakt zu bestimmenden Herabsetzung der Strafe führen muß, liegt nicht vor. Auch die lange Verfahrensdauer, der außergewöhnlich lange Abstand zwischen Tat und Urteil von 56 Jahren und sonstige Milderungsgründe können nicht zu einer außergewöhnlichen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB führen.
a) Soweit es den Zeitaspekt betrifft, ist zu differenzieren zwischen Verfahrensverlängerungen, die durch rechtsstaatswidrige Verzögerungen der Justizorgane verursacht worden sind, der Gesamtdauer des Verfahrens und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13; BVerfG - Kammer -, Beschluß vom 5. Juni 2000 - 2 BvR 814/00;).
Artikel 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes garantiert dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. Dieses Prozeßgrundrecht fordert eine angemessene Beschleunigung des Verfahrens (BVerfG - Kammer - NJW 1995, 1277; NStZ 1997, 591). Auch Artikel 6 Abs. 1 Satz 1 MRK garantiert das Recht des Angeklagten auf gerichtliche Entscheidung innerhalb angemessener Frist.
Die "angemessene Frist" beginnt, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wird, und endet mit dem rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens. Für die Angemessenheit ist dabei auf die gesamte Dauer von Beginn bis zum Ende der Frist abzustellen und es sind Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen neben dem eigenen Verhalten des Beschuldigten sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastungen des Beschuldigten zu berücksichtigen (BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 9 unter Bezugnahme auf BVerfG NJW 1992, 2472; vgl. auch BGH StV 1994, 652; StV 1992, 452).
Schon im Hinblick auf das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK normierte Beschleunigungsgebot und dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, aber auch im Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung müssen aus einem durch eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkten Konventionsverstoß Folgen gezogen werden; dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. nur BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 1, 7; BGH wistra 1992, 66). Diese Folgen bestehen darin, daß die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich festzustellen und das Maß dieses eigenständigen Strafmilderungsgrundes rechnerisch exakt zu bestimmen ist (BVerfG - Kammer - NJW 1995, 1277; NStZ 1997, 591).
Unabhängig von dem Strafmilderungsgrund eines Konventionsverstoßes durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung kommt auch einer überdurchschnittlich langen Verfahrensdauer eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zu, bei der insbesondere die mit dem Verfahren selbst verbundenen Belastungen des Angeklagten zu berücksichtigen sind. Dieser Strafmilderungsgrund kann auch dann gegeben sein, wenn die außergewöhnlich lange Verfahrensdauer sachliche Gründe hatte und von den Strafverfolgungsorganen nicht zu vertreten ist (BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13).
Schließlich ist auch eine lange Zeitspanne zwischen Begehung der Tat und ihrer Aburteilung neben der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der langen Verfahrensdauer ein wesentlicher Strafmilderungsgrund, ohne daß es dabei auf die Dauer des Strafverfahrens ankommt (BGH StV 1992, 452; StV 1994, 652; StV 1998, 377; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 6, 13; BGH, Beschlüsse vom 3. März 1993 - 5 StR 67/93; vom 15. September 1993 - 5 StR 523/93; und vom 6. November 2001 - 4 StR 461/01). Die Strafe ist selbst dann zu mildern, wenn die Tat aus tatsächlichen Gründen lange Jahre unbekannt geblieben ist (BGH NStZ 1998, 133).
Danach gilt hier:
aa) Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung liegt nicht vor. Die Staatsanwaltschaft Dortmund - Zentralstelle in Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen - ermittelte schon seit 1970 gegen den Angeklagten wegen der in Theresienstadt verübten Verbrechen. Zwar waren die hier abgeurteilten Taten noch nicht bekannt, sie standen jedoch im Zusammenhang mit der Aufsehertätigkeit des Angeklagten und gehörten somit zum selben Ermittlungskomplex. Schon der Umstand, daß zwischen 1979 und April 1999 die Ermittlungen fünfmal eingestellt und - ersichtlich wegen jeweils neu bekannt gewordener Tatsachen - wieder aufgenommen worden sind, verdeutlicht, daß die Ermittlungsbehörden bemüht waren, den Sachverhalt mit dem gebotenen Nachdruck aufzuklären. Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die hier abgeurteilten Taten wurden erstmals durch die Aussage des Zeugen K. vor der Staatsanwaltschaft in Prag am 8. Oktober 1999 bekannt. Drei Monate später, am 4. Januar 2000, leitete die Staatsanwaltschaft München I das Ermittlungsverfahren ein. Nicht ganz ein weiteres Jahr darauf, am 12. Dezember 2000, erhob sie Anklage und schon am 30. Januar 2001 eröffnete das Landgericht das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung begann drei Monate später, am 23. April 2001, und am 30. Mai 2001 erging das Urteil. Bei diesem Sachverhalt scheidet eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung nicht nur aus; das Verfahren wurde - im Gegenteil - seit Bekanntwerden der Taten vielmehr zügig betrieben.
bb) Allerdings liegt - beginnend ab 1970 - eine überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer des Gesamtkomplexes vor, auch wenn diese sachliche Gründe hatte. Zu den mit diesem Verfahrenskomplex verbundenen Belastungen - insbesondere den mehrfachen Einstellungen und Wiederaufnahmen der Ermittlungen - kommen Strafverfahren durch ausländische Behörden hinzu. Der Angeklagte wurde 1948 vom außerordentlichen Volksgericht in Litomerice in Abwesenheit zum Tode verurteilt; dieses Urteil wurde erst 1969 vom Kreisgericht in Usti Nad Labem in einem Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben. Ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Graz wurde 1963 wegen unbekannten Aufenthalts eingestellt. Diese Umstände hätten sich bei einer zeitigen Freiheitsstrafe mildernd auswirken müssen.
cc) Bei einer zeitigen Freiheitsstrafe wäre die lange Zeitspanne zwischen Tat und Aburteilung von fast 60 Jahren gleichfalls ein bestimmender Strafmilderungsgrund gewesen.
b) Die lange Verfahrensdauer, die lange Zeitspanne zwischen Tat und Aburteilung und die Milderungsgründe aufgrund der Lebensumstände des Angeklagten (Gesundheitszustand, Alter und bisherige Straffreiheit) können bei Taten der vorliegenden Art jedoch nicht dazu führen, außergewöhnliche Umstände anzunehmen, die das Ausmaß der Täterschuld so erheblich mindern, daß anstelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB treten müßte.
aa) Das Bundesverfassungsgericht hat am 21. Juni 1977 (BVerfGE 45, 187) entschieden, daß die absolut angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich ist, wenn dem Richter von Gesetzes wegen die Möglichkeit offenbleibt, bei der Subsumtion konkreter Fälle unter die abstrakte Norm zu einer Strafe zu kommen, die mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Den konkreten Fall - ein Polizeibeamter, der mit Rauschgift handelte, hatte den ihn erpressenden Abnehmer heimtückisch und um eine andere Straftat zu verdecken erschossen - bewertete das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht als so außergewöhnlich, daß die verwirkte lebenslange Freiheitsstrafe unverhältnismäßig gewesen wäre. Die Entscheidung betraf "insbesondere" die Mordmerkmale "heimtückisch" und "um eine andere Straftat zu verdecken". Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesgerichtshof die Aufgabe übertragen, eine Lösung zu finden, die diesen Vorgaben gerecht wird.
bb) Mit Beschluß vom 19. Mai 1981 hat der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofes (BGHSt 30, 105) mit Hilfe des Kriteriums der "außergewöhnlichen Umstände, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig erscheint", eine Ergänzung der Rechtsfolgenseite des Mordparagraphen vorgenommen. In Heimtückefällen - dieses Mordmerkmal war Gegenstand des Vorlageverfahrens - tritt auf der Rechtsfolgenseite des Mordes an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Ausmaß der Täterschuld erheblich mindern.
Im konkret entschiedenen Fall hatte der Angeklagte, dessen Ehefrau von seinem Onkel vergewaltigt worden war, den Onkel, der sich auch noch der Tat berühmt hatte, heimtückisch erschossen. Zu der Frage, in welchen Fällen solche außergewöhnlichen Umstände anzunehmen sind, hat der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofes ausgeführt: "Eine abschließende Definition oder Aufzählung der in Fällen heimtückischer Tötung zur Verdrängung der absoluten Strafdrohung des § 211 Abs. 1 StGB führenden außergewöhnlichen Umstände ist nicht möglich. Durch eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation motivierte, in großer Verzweiflung begangene, aus tiefem Mitleid oder aus ´gerechtem Zorn´ auf Grund einer schweren Provokation verübte Taten können solche Umstände aufweisen, ebenso Taten, die in einem vom Opfer verursachten und ständig neu angefachten, zermürbenden Konflikt oder in schweren Kränkungen des Täters durch das Opfer, die das Gemüt immer wieder heftig bewegen, ihren Grund haben."
cc) In solchen Fallgestaltungen hat der Bundesgerichtshof dann in der Folgezeit eine Strafrahmenverschiebung gebilligt bzw. als rechtlich geboten angenommen (NStZ 1990, 490: Heimtückemord durch die Ehefrau, die vom Ehemann schwer mißhandelt worden war, und die sich in einer ausweglos erscheinenden Situation befand; NStZ 1995, 231: Heimtückemord am gewalttätigen und körperlich überlegenen Erpresser).
Hingegen hat der Bundesgerichtshof bei einem Habgiermord (BGHSt 42, 301: ein Arzt hatte eine vermögende Rentnerin getötet) eine Strafrahmenverschiebung abgelehnt: "In den Fällen des Mordes wegen Tötung aus Habgier kann die lebenslange Freiheitsstrafe nicht wegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von BGHSt 30, 105 durch eine zeitige Freiheitsstrafe nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB ersetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich bei den Mordmerkmalen der Heimtücke und der Verdeckung einer Straftat eine Kollision mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für möglich gehalten ...".
In einem Fall, bei dem ein Grenzsoldat der DDR einen Bürger der Bundesrepublik Deutschland, der vom Westen aus die Grenze überschritten hatte, erschoß, hat der Bundesgerichtshof (NStZ-RR 2001, 296) das Mordmerkmal der Heimtücke verneint und auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils selbst auf Totschlag erkannt. Ob die 25 Jahre zurückliegende Tat durch außergewöhnliche Umstände geprägt war, die eine Strafrahmenverschiebung geboten hätten, bedurfte deshalb - so der Bundesgerichtshof - keiner Entscheidung.
Beim Heimtücke-Mord am Bülow-Platz im Jahre 1931 (BGHSt 41, 72, 93: Freiheitsstrafe von sechs Jahren) hat der Bundesgerichtshof die Strafmaßrevision der Staatsanwaltschaft verworfen. Er hat dabei offen gelassen, ob an der seitherigen Rechtsprechung, die für die Strafrahmenverschiebung ausschließlich auf tatbezogene Umstände abgestellt hat, auch für Ausnahmefälle festzuhalten sei, in denen - wie im entschiedenen Fall - zwischen Tat und Urteil mehr als 60 Jahre liegen. Da zweifelhaft war, ob der Angeklagte für eine erneute Verhandlung vor dem Landgericht verhandlungsfähig sein würde, hätte eine Zurückverweisung der Sache mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Einstellung des Verfahrens geführt. Bei einer solchen Sachlage habe die Rechtskraft Vorrang.
c) Hier kann offen bleiben, ob bei dem täterbezogenen Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe überhaupt eine Strafrahmenverschiebung in Betracht kommen kann.
aa) Der Zeitaspekt der langen Verfahrensdauer und der lange zurückliegenden Tatzeit ist in Fällen der vorliegenden Art kein außergewöhnlicher Umstand, auf Grund dessen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre.
Derartige Taten sind durch schwierige Ermittlungen gekennzeichnet, die zu einer langen Verfahrensdauer führen können. Gerade deshalb können die Taten oft erst nach vielen Jahren aufgeklärt werden. Auch aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber zunächst die Verjährungsfristen für die Verfolgung solcher Taten mehrfach verlängert (Berechnungsgesetz vom 14. April 1965 - BGBl. I S. 315; 9. StrÄndG vom 4. August 1969 - BGBl. I S. 1065) und schließlich die Verjährung von Taten der vorliegenden Art gänzlich beseitigt (16. StrÄndG vom 16. Juli 1979 - BGBl. I S. 1046). Dem ist zu entnehmen, daß der Gesetzgeber in Kenntnis dieser Umstände - und auch der typischen Lebensumstände der voraussehbar hochbetagten Angeklagten - nicht nur eine unverjährbare Verfolgbarkeit, sondern auch keine Milderung der absolut angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord gewollt hat. Dieser gesetzgeberische Wille zeigt sich besonders deutlich daran, daß das 16. StrÄndG zwei Jahre nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 21. Juni 1977 (BVerfGE 49, 187) beschlossen wurde, ohne daß der Gesetzgeber einen Anlaß sah, die absolute Strafdrohung für Mord zu ändern.
bb) Zudem verbietet sich eine Vergleichbarkeit des vorliegenden Falles mit den Fallgestaltungen, bei denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesgerichtshofes eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen erheblich geminderter Schuld - von Verfassungs wegen - unverhältnismäßig wäre.
Schäfer Nack Wahl
Schluckebier Kolz



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