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BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 364/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 364/03
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 364/03
vom
21.01.2004
in der Strafsache
gegen
wegen sexueller Nötigung u.a.
- 2 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung am
20. Janaur 2004 in der Sitzung vom 21.01.2004, an der teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt ,
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin D. P.
- in der Verhandlung am 20.01.2004 -,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
- 3 -
für Recht erkannt:
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Ellwangen vom 8. April 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.
II. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete
Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
1. soweit der Angeklagte im Fall 2 der Urteilsgründe (Tat zum
Nachteil D. P. ) verurteilt worden ist und
2. im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
III. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten der
Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung in Tateinheit
mit Bedrohung und versuchter Nötigung sowie wegen sexueller Nöti-
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gung in Tateinheit mit Raub zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und
sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge
Erfolg. Ebenfalls begründet ist die wirksam auf die Verurteilung im Fall 2 der
Urteilsgründe sowie den Ausspruch über die Gesamtstrafe beschränkte, zuungunsten
des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft.
Nach den Feststellungen des Landgerichts griff der Angeklagte am
11. August 2000 die joggende Zeugin G. W. auf einem Radweg zwischen
zwei Ortschaften an, packte sie von hinten am Genick und drückte sie zu
Boden. Er legte ihr einen Arm um den Hals und drückte ihr mit der anderen
Hand den Kopf so gegen den Arm, daß ihr Genick überdehnt wurde und sie
dabei erhebliche Schmerzen erlitt. Er drohte, ihr das Genick zu brechen, falls
sie schreie, und verklebte ihr den Mund und die Augen mit Klebeband. Sodann
versuchte er, der sich heftig wehrenden Zeugin mit einer Schnur die Hände auf
dem Rücken festzubinden. Infolge der massiven Gegenwehr der Zeugin gelang
ihm dies nicht. Deshalb ließ der Angeklagte nach wenigen Minuten von ihr ab,
nachdem er erkannt hatte, daß er sein Ziel - nur dieses hat das Landgericht
festgestellt -, "die Geschädigte an einen anderen Ort zu bringen", nicht erreichen
konnte (Fall 1 der Urteilsgründe).
Am 12. Januar 2001 packte der Angeklagte die gegen 6.35 Uhr auf dem
Schulweg befindliche 14jährige Schülerin D. P. , hielt ihr den Mund
zu und befahl ihr, ruhig zu sein und sich nicht umzudrehen. Er hielt ihr einen
nicht näher identifizierten spitzen Gegenstand gegen den Hals und die rechte
Schläfe, knebelte die Zeugin mittels eines von ihm mitgeführten weißen Stofftuchs
und zerrte sie ca. 50 m weit über eine angrenzende Streuobstwiese. Dort
stieß er sie zu Boden und befahl ihr, sich auszuziehen. Nachdem die Zeugin
auch ihre Hose bis zu den Knien heruntergezogen hatte, fesselte der Ange-
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klagte mit einer von ihm mitgeführten Paketschnur die Arme der vor ihm knienden
Zeugin auf den Rücken, wickelte die Schnur um ihre Fußgelenke und anschließend
um den Hals, um sie von dort wieder über den Rücken abwärts zur
Handfesselung zu führen. Dort verschnürte er sie erneut. Er fragte die Zeugin,
ob sie Geld habe. Diese deutete auf ihren Rucksack, in dem der Angeklagte
jedoch zunächst nichts fand. Hierüber verärgert schlug er der Zeugin mit der
Hand "ins Gesicht gegen das linke Auge", wodurch das Auge anschwoll und
sich ein Hämatom bildete. Schließlich fand der Angeklagte den Geldbeutel der
Geschädigten und entnahm hieraus einen Bargeldbetrag in Höhe von 60 DM,
den er einsteckte. Er befahl der am Boden knienden Zeugin nun, ihr Gesäß
hochzuheben und ihre Beine zu spreizen, durchtrennte schließlich mit einem
nicht näher erkannten scharfen Gegenstand ihren Slip, so daß Gesäß und Geschlechtsteil
entblößt waren. Darauf stach er mit einem nicht identifizierten
spitzen Gegenstand mehrmals in die rechte Gesäßhälfte der Zeugin, "um sich
daran sexuell zu erregen". Die Zeugin hörte ein Reißverschlußgeräusch beim
Angeklagten, dann Rascheln seiner Kleidung. Nach wenigen Minuten und ohne
daß es zu weiteren sexuellen Handlungen an der Zeugin gekommen wäre,
brach der Angeklagte ab und entfernte das weiße Stofftuch aus dem Mund der
Zeugin; stattdessen steckte er ihr den Kragen ihrer Strickjacke in den Mund
und entfernte sich (Fall 2 der Urteilsgründe).
Die Strafkammer hat den bestreitenden Angeklagten für überführt erachtet
und sich dabei insbesondere auf ein DNA-Analyse-Gutachten gestützt.
Diesem liegen DNA-Anhaftungen zugrunde, die an dem vom Täter im Falle 1
verwendeten Klebeband und an der im Falle 2 benutzten Schnur gesichert
werden konnten.
I. Die Revision des Angeklagten
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1. Die Revision beanstandet zu Recht als Verstoß gegen den Grundsatz
der Selbstbelastungsfreiheit, daß die Strafkammer in ihrer Beweiswürdigung
hervorhebt, der Angeklagte habe über einen Zeitraum von sechs Monaten die
(freiwillige) Abgabe einer Speichelprobe hinausgezögert, obwohl er gewußt
habe, daß ihm ein schweres Verbrechen zur Last gelegt werde und er diesen
Vorwurf "bei reinem Gewissen umgehend durch die Abgabe einer Speichelprobe
hätte ausräumen können" (UA S. 16). Zuvor hatte der Angeklagte auf Anfrage
der Polizei zweimal die freiwillige Abgabe einer Speichelprobe zugesagt,
war entsprechenden Bitten jedoch dann nicht nachgekommen. Der mit der
Sachrüge geltend gemachte Fehler der Beweiswürdigung des Landgerichts ist
durch die Urteilsgründe erwiesen; der Senat vermag nicht sicher auszuschließen,
daß die Verurteilung des Angeklagten in beiden Fällen darauf beruhen
kann.
a) Die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO findet ihre
Grenze an dem Recht eines jeden Menschen, nicht gegen seinen Willen zu
seiner Überführung beitragen zu müssen (Grundsatz des "nemo tenetur se
ipsum prodere" oder "nemo tenetur se ipsum accusare"). Danach ist ein Beschuldigter
im Strafverfahren grundsätzlich nicht verpflichtet, aktiv die Sachaufklärung
zu fördern. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist deshalb
anerkannt, daß ein Beschuldigter nicht gehalten ist, zur eigenen Überführung
tätig zu werden und an einer Untersuchungshandlung eines Strafverfolgungsorgans
oder eines Sachverständigen aktiv mitzuwirken. Seine Beweisfunktion
darf gegen seinen Willen nur durchgesetzt werden, sofern er lediglich
passiv Beteiligter bleibt. Er selbst hat darüber zu befinden, ob er an der Aufklärung
des Sachverhalts aktiv mitwirken will oder nicht. Demgemäß darf er nicht
zu Tests, Tatrekonstruktionen, Schriftproben oder zur Schaffung ähnlicher, für
die Erstattung eines Gutachtens notwendiger Anknüpfungstatsachen gezwun-
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gen werden. Daraus folgt, daß die Verweigerung der aktiven Mitwirkung dem
Beschuldigten auch nicht als belastendes Beweisanzeichen entgegengehalten
werden darf. Er hat die Freiheit, sich auch auf diese Weise zu verteidigen; er
muß nicht seine Unschuld beweisen (vgl. BGHSt 34, 39, 45, 46; siehe weiter
BGHSt 32, 140, 144 f.; 34, 324, 326; 45, 363, 364 m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht
hat im Blick auf die Beweisbedeutung der Nichtabgabe einer
Speichelprobe in einem Kammerbeschluß ausgeführt, zur Begründung des
Tatverdachts dürfe nicht der Umstand herangezogen werden, daß ein Beschuldigter
eine freiwillige Teilnahme an einer DNA-Untersuchung abgelehnt
habe. Eine solche Erwägung verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze
(BVerfG, Kammer, NJW 1996, 1587, 1588; 1996, 3071, 3072).
b) Der vorliegende Fall weist die Besonderheit auf, daß ein prozessuales
Verhalten des Angeklagten im Ermittlungsverfahren in Rede steht, welches
eine Mitwirkung an der Erhebung von Anknüpfungstatsachen für ein Sachverständigengutachten
zum Gegenstand hat, die mit den Mitteln der Strafprozeßordnung
auch erzwingbar ist und hier - nach entsprechender richterlicher
Anordnung - letztlich auch erzwungen worden ist (§§ 81a, 81e StPO). Das unterscheidet
die Fragestellung etwa von der Ausübung des Schweigerechts, der
Nichtentbindung eines Zeugen von der Schweigepflicht und der des gezielten
Ablieferns von Sprechproben und Schriften (wenn diese also nicht als Beweismittel
anderweit gesichert worden sind); hierbei handelt es sich um prozessuales
Verhalten, dem nicht in zulässiger Weise mit Zwang begegnet werden
darf. Überdies hatte der Angeklagte hier die Freiheit, selbst über die Frage einer
freiwilligen Mitwirkung bei einer Speichelprobe zu befinden: Er hat seine
aktive Bereitschaft dazu zweimal gegenüber der Polizei erklärt.
- 8 -
c) Diese Besonderheiten rechtfertigen jedoch keine Abweichung von der
bisherigen Spruchpraxis zur indiziell belastenden Verwertung prozessualen
Verhaltens eines Beschuldigten. Im Vordergrund stand hier - wie der Senat
dem Zusammenhang der Urteilsgründe entnimmt - die tatsächliche Weigerung
des Angeklagten, aktiv an der Speichelprobe mitzuwirken. Daß er zuvor - dem
entgegenstehend - seine Bereitschaft dazu bekundet hatte, ändert nichts daran,
daß er durch sein Verhalten letztlich die freiwillige Teilnahme konkludent
abgelehnt hat. Hinzu kommt, daß das Landgericht ihm indiziell nicht nur das
Hinauszögern der Probe angelastet hat. Es hat weiter ausgeführt, daß er die
Probe doch - wenn er "reinen Gewissens" gewesen sei - zu seiner Entlastung
schon früher hätte abgeben können, da er gewußt habe, daß es um den Verdacht
eines schweren Verbrechens gehe. Daß er dies jedoch nicht getan hat,
war ihm prozeßrechtlich möglich. Er war zur aktiven Teilnahme an der Sachverhaltsaufklärung
insoweit nicht verpflichtet. Die Erwägung des Landgericht
läuft deshalb darauf hinaus, dem Angeklagten als Hinweis auf seine Täterschaft
entgegenzuhalten, daß er nicht aktiv an dem Versuch des Nachweises
seiner Unschuld mitgewirkt hat. Dazu ist ein Beschuldigter indessen nicht verpflichtet.
Deshalb darf grundsätzlich nicht einmal der späte Zeitpunkt einer Beweisantragstellung
für einen Entlastungsbeweis als Beweisanzeichen für seine
Schuld gewertet werden (vgl. BGHSt 45, 367). Anderes kann allerdings nach
Auffassung des Senats dann gelten, wenn sich der Beschuldigte der Anordnung
einer Speichelprobe nach §§ 81a, 81e StPO - durch ein anordnungsbefugtes
Organ - entzieht.
Schließlich liegt hier auch keiner derjenigen Fälle vor, in denen das Prozeßverhalten
in einem engen und einer isolierten Bewertung unzugänglichen
Sachzusammenhang mit dem Inhalt der Einlassung steht und schon deshalb
einer Würdigung im Zusammenhang mit den entsprechenden Angaben unter-
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zogen werden muß (siehe dazu BGHSt 45, 367, 369 f.; vgl. auch BGHSt 20,
298, 301). Die Einlassung des Angeklagten auch mit ihren Alibibehauptungen
war grundsätzlich unabhängig davon zu würdigen, wie es mit seiner Bereitschaft
zur freiwilligen Mitwirkung an einem DNA-Test bestellt war.
d) Nach allem ergibt sich, daß hier der praktischen Verweigerung der
aktiven Mitwirkung bei einer Speichelprobe mit der vom Landgericht gegebenen
Begründung ("reines Gewissen") keine der Verurteilung des Angeklagten
dienende Beweisbedeutung beigemessen werden durfte. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht
(NJW 1996, 3071, 3072) den Verstoß einer solchen
Erwägung gegen rechtsstaatliche Grundsätze für die Begründung eines Tatverdachts
und der Beschuldigten-Stellung angenommen; für die Überzeugungsbildung
des erkennenden Gerichts aber kann nichts anderes gelten.
Ob es hingegen im Ermittlungsverfahren einen Tatverdacht im Sinne der
Anordnungsvoraussetzungen für die Entnahme einer Speichelprobe verstärken
kann, wenn aus einer Menge nach abstrakten Grundsätzen Tatverdächtiger
(z.B. die männliche Bevölkerung eines Dorfes zwischen 14 und 45 Jahren) sich
ein kleiner Teil zu einer freiwilligen Speichelprobe nicht bereit erklärt, ist eine
Frage des Einzelfalles. Wenn andere verdachtsbegründende Kriterien angeführt
werden können und sich der Kreis der grundsätzlich Verdächtigen durch
die Abgabe einer Vielzahl freiwilliger Speichelproben verdichtet hat, wird auch
jemand zur Entnahme einer solchen Probe durch strafprozessuale Anordnung
gezwungen werden können, der bis dahin keine abgegeben hat (vgl. BVerfG,
Kammer, NJW 1996, 3071).
e) Auf dem Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung kann das Urteil beruhen.
Das Landgericht hat zwar insbesondere auf die Ergebnisse des DNAGutachtens
abgehoben. Diese weisen auf den Angeklagten als Spurenverur-
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sacher mit einem Häufigkeitswert von 1 zu 22.000 im Fall 1 und von 1 zu
250 Millionen im Fall 2 hin. Die Beweiswürdigung könnte deshalb auch ohne
die rechtsfehlerhafte Erwägung tragfähig gewesen sein (neben dem
DNA-Gutachten u.a.: modus operandi, Täterbeschreibungen, Tatorte, Taxi in
Tatortnähe). Dessen ungeachtet kann der Senat aber ein Beruhen des Urteils
auf der rechtsfehlerhaften Erwägung nicht sicher ausschließen, weil das Landgericht
neben anderen Umständen ausdrücklich als "weiteres Indiz für die Täterschaft
des Angeklagten" nicht nur das sechsmonatige Hinauszögern der angekündigten
Abgabe der Speichelprobe anführt, sondern darauf abhebt, daß
der Angeklagte "bei reinem Gewissen" den Vorwurf eines schweren Verbrechens
umgehend hätte ausräumen können (UA S. 16). Das spricht dafür, daß
es meinte, sich für seine Überzeugungsbildung auch hierauf stützen zu müssen.
Dies zwingt zur Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten in beiden
Fällen.
2. Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils auf die auch allgemein
erhobene Sachrüge hin deckt weitere rechtliche Mängel auf:
a) Die Strafkammer hat bei der Beweiswürdigung zum Fall 1 im Rahmen
einer Gesamtschau aller Indizien unter anderem in dem vom Angeklagten vor
der Kriminalpolizei nur sechs Tage nach der ersten Tat vorgebrachten "falschen
Alibi" einen belastenden Umstand gesehen (UA S. 13). Das begegnet
hier rechtlichen Bedenken, die im Ergebnis jedoch dahingestellt bleiben können.
Der Angeklagte hatte vor der Polizei zunächst behauptet, zur Tatzeit als
Taxifahrer mit einem vom Flughafen Stuttgart abgeholten Gast unterwegs gewesen
zu sein. Als dies widerlegt werden konnte, hat er in der Hauptverhand-
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lung erklärt, er sei - wohl hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs - einem Irrtum unterlegen
(UA S. 8).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann ein objektiv
widerlegtes, aber auch ein nachweislich erlogenes Alibi für sich allein
und ohne Rücksicht auf Gründe und Begleitumstände seines Vorbringens nicht
als Beweisanzeichen für die Überführung des Angeklagten gewürdigt werden.
Auch ein Unschuldiger kann meinen, seine Aussichten auf einen Freispruch
seien besser, wenn er nicht nur auf die Wahrheit setze, sondern überdies versuche,
auf ein unwahres, konstruiertes Alibi zu bauen, also mit dem Mittel der
Lüge ein übriges tun zu sollen, um seinen Freispruch gleichsam abzusichern.
Ebensowenig ist der lediglich gescheiterte Alibibeweis - bei dem die Lüge nicht
erwiesen ist - für sich allein ein Beweisanzeichen für die Täterschaft. Der Angeklagte
ist nicht gehalten, sein Alibi zu beweisen. Daß er dies versucht hat,
wenn auch im Ergebnis erfolglos, darf ihm nicht ohne weiteres zum Nachteil
gereichen.
Freilich muß ein widerlegtes Alibi deshalb bei der Beweisführung nicht
stets außer Betracht bleiben. Treten besondere Umstände hinzu, so darf berücksichtigt
werden, daß der Angeklagte sich bewußt wahrheitswidrig auf ein
Alibi berufen hat (vgl. zu alldem BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 11,
30). Die Gründe und Begleitumstände der Alibibehauptung sind dabei zu bewerten
(BGHSt 41, 153; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 30; BGH StV
1982, 158). Will der Tatrichter eine erlogene Entlastungsbehauptung als zusätzliches
Belastungsanzeichen werten, so muß er sich bewußt sein, daß eine
wissentlich falsche Einlassung hierzu ihren Grund nicht darin haben muß, daß
der Angeklagte die Tat begangen hat, vielmehr auch eine andere Erklärung
finden kann. Deshalb hat er in solchen Fällen darzutun, daß eine andere, nicht
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auf die Täterschaft hindeutende Erklärung im konkreten Fall nicht in Betracht
kommt oder - obgleich denkbar - nach den Umständen jedenfalls so fernliegt,
daß sie ausscheidet (BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 13).
Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht
uneingeschränkt gerecht. Es hat nicht ausdrücklich klargestellt, ob es von einem
erlogenen oder nur von einem schlicht widerlegten Alibi ausgeht. Der Angeklagte
hat sich im Blick auf seine zeitliche Angabe bei der polizeilichen Vernehmung
später auf einen Irrtum berufen. Hiermit hat sich das Landgericht
nicht näher auseinandergesetzt und dem Angeklagten ohne weiteres das "falsche
Alibi" als Indiz für seine Täterschaft im Fall 1 entgegengehalten. Das wäre
allenfalls dann rechtlich hinnehmbar, wenn man dem Urteil noch entnehmen
könnte, daß das Landgericht meinte, auch einen Irrtum des Angeklagten ausschließen
zu können und sich die dafür erforderliche Begründung in noch
tragfähiger Weise aus dem Urteilszusammenhang ergäbe.
b) Das Landgericht hat weiter im Fall 1 der Urteilsgründe die Konkurrenzverhältnisse
nicht in jeder Hinsicht zutreffend gewürdigt: Es hat den Angeklagten
wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung und
versuchter Nötigung schuldig gesprochen und ist damit daran vorbeigegangen,
daß der Bedrohungstatbestand (§ 241 Abs. 1 StGB) hinter denjenigen der Nötigung
zurücktritt, wenn, wie hier, die Bedrohung sich als Teil der Nötigung erweist.
Das gilt auch für den Fall des bloßen Nötigungsversuchs (BGHR StGB
§ 240 Abs. 3 Konkurrenzen 2; BGH bei Holtz MDR 1979, 280 f.; vgl. Träger/
Schluckebier in LK 11. Aufl. § 241 Rdn. 27 m.w.N.).
II. Die Revision der Staatsanwaltschaft
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Die Revision der Staatsanwaltschaft ist wirksam auf den Fall 2 der Urteilsgründe
(Tat zum Nachteil D. P. ) sowie den Ausspruch über die
Gesamtstrafe beschränkt.
Zu Recht beanstandet die Beschwerdeführerin, daß die Beweiswürdigung
des Landgerichts einen durchgreifenden rechtlichen Mangel ausweist.
Die Würdigung des festgestellten Sachverhalts ist zudem in tatsächlicher wie
rechtlicher Hinsicht nicht erschöpfend.
1. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen hat das Landgericht
bei seiner rechtlichen Würdigung nicht bedacht, daß der Angeklagte bei der
Tat ein Mittel bei sich geführt hat, um den Widerstand der Geschädigten durch
Gewalt zu verhindern und zu überwinden (§ 177 Abs. 3 Nr. 2, § 250 Abs. 1 Nr.
1 Buchst. b StGB). Diese Voraussetzung ist schon dadurch erfüllt, daß der Angeklagte
eine Paketschnur mitführte, die er zur Fesselung seines Opfers einsetzte,
und überdies ein von ihm mitgebrachtes Tuch zur Knebelung der Geschädigten
verwandte (UA S. 6).
2. Mit Erfolg wendet sich die Beschwerdeführerin auch gegen die Würdigung
des Landgerichts, der vom Angeklagten eingesetzte nicht näher identifizierbare
spitze Gegenstand könne nicht als "gefährliches Werkzeug" im Sinne
des Gesetzes gewertet werden (UA S. 18; vgl. § 177 Abs. 4 Nr. 1, § 224 Abs. 1
Nr. 2, § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB). Die Beweiswürdigung hierzu ist unklar und
lückenhaft. Die Kammer hat festgestellt, der Angeklagte habe der Zeugin P.
mit dem spitzen Gegenstand mehrmals "in ihre rechte Gesäßhälfte" gestochen
(UA S. 6), hat dann aber bei der Darstellung der von der Zeugin erlittenen
Verletzungen kein dementsprechendes Verletzungsbild angeführt: Stichverletzungen
am Gesäß der Zeugin sind nicht festgestellt (UA S. 7). Damit bleibt offen,
ob durch diese Stiche Verletzungen bewirkt worden sind. Deren Vorliegen
- 14 -
könnte dafür sprechen, daß der nicht identifizierte Gegenstand nach seiner
objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall
("verwendungsspezifisch") geeignet war, erhebliche Körperverletzungen zu
bewirken. Auch hat der Angeklagte mit einem nicht näher bekannten scharfen
Gegenstand den Slip der Zeugin "durchtrennt" (UA S. 6). Sollte dies nicht nur
ein "Durchreißen" gewesen sein, könnte das für einen der objektiven Beschaffenheit
nach sehr wohl zu erheblichen Körperverletzungen geeigneten Gegenstand
sprechen, der als gefährliches Werkzeug zu qualifizieren sein könnte,
wenn er auch als Drohmittel gegenüber der Zeugin verwendet worden wäre
und es sich nicht etwa - was eher fernliegen dürfte - um einen anderen als den
gegen die Zeugin eingesetzten Gegenstand gehandelt hätte. Mit diesen Umständen
hätte sich die Kammer in ihrer Würdigung auseinandersetzen müssen,
bevor sie sich auf die Nichterweislichkeit der Verwendung eines gefährlichen
Werkzeugs zurückzog.
3. Darüber hinaus hätte die Strafkammer prüfen müssen, ob die vom
Angeklagten zur Fesselung des Opfers verwendete Paketschnur hier ebenfalls
als gefährliches Werkzeug im Sinne der Qualifiktationstatbestände gemäß
§ 177 Abs. 4 Nr. 1; § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB zu bewerten war. Zwar ist eine Paketschnur
für sich gesehen und generell kein gefährliches Werkzeug. Ihre Gefährlichkeit
kann sich aber aus der tatsächlichen, konkreten Verwendung ergeben.
Gerade für Fesselungsmittel hat der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung
wiederholt auf die Bedeutung der Art ihrer Verwendung hingewiesen
(vgl. nur Senat, Beschl. vom 3. April 2002 - 1 ARs 5/02 - in: NStZ-RR 2002,
265 = StraFo 2002, 239, m.w. RsprN). Wird jemand nur mit Klebeband ohne
weitere Folgen an einen Stuhl gefesselt oder werden ihm die Hände mit Kabelbinder
zusammengebunden, wird die Benutzung des Fesselungsmittels konkret
kaum geeignet sein, erhebliche Verletzungen zu bewirken (vgl. BGH StV 1999,
- 15 -
91; Beschl. vom 12. Januar 1999 - 4 StR 688/98). Hier indessen verwandte der
Angeklagte die Schnur zu einer besonderen Art der Fesselung seines Opfers.
Er fesselte diesem nicht nur die Hände auf dem Rücken und die Füße, sondern
führte die Schnur auch um den Hals und verband sie mit der übrigen Fesselung.
Im Ergebnis führte das zu einer ca. 1 cm breiten "Strangulationswunde"
am Hals, die bis zu beiden Halsseiten reichte (UA S. 7). Dies deutet darauf hin,
daß die besondere Art der Verwendung der Paketschnur diese dazu geeignet
erscheinen ließ, auch eine erhebliche Körperverletzung zu bewirken. Sie wäre
dann als "gefährliches Werkzeug" im Sinne der genannten Tatbestände verwendet
worden.
4. Weiter hätte sich der Tatrichter damit befassen müssen, ob im Blick
auf die Strangulationswirkung der Fesselung eine gefährliche Körperverletzung
anzunehmen ist. In Betracht kommt die Tatbegehung mittels eines gefährlichen
Werkzeuges (siehe oben, § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB), möglicherweise aber auch
mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB).
In subjektiver Hinsicht könnte ein wenigstens bedingter Vorsatz des Angeklagten
insoweit selbst dann zu bejahen sein, wenn die Strangulationswunde letztlich
erst dadurch bewirkt worden wäre, daß sich die Geschädigte "in gefesseltem
Zustand hüpfend zu ca. 50 m entfernten Häusern bewegte" (UA S. 7), wo
sie von ihrer Fesselung befreit wurde. Da der Angeklagte sie in besonderer
Weise gefesselt 50 m abseits des Weges auf einer Streuobstwiese zurückgelassen
hatte (vgl. UA S. 5) und die Tat im Winter um 6.35 Uhr begangen wurde,
mußte er wohl auch damit rechnen, daß die Geschädigte in der festgestellten
Weise ihre Befreiung suchen und sich die Fesselung strangulierend auswirken
könnte, wenn nicht schon das Anbringen der Fesseln selbst die beschriebenen
Halsverletzungen verursacht haben sollte.
- 16 -
5. Die aufgeführten, für durchgreifend erachteten rechtlichen Mängel
erfassen im Fall 2 der Urteilsgründe auch den Schuldspruch. Dieser kann keinen
Bestand haben. Das führt zum Fortfall der - ohnehin niedrigen - Einzelstrafe
und zur Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtfreiheitsstrafe.
III. Hinweise:
Der neue Tatrichter wird folgendes zu bedenken haben:
1. Die bisherige Würdigung der Strafkammer zum Fall 1 der Urteilsgründe
erweist sich in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht deshalb als lückenhaft,
weil die Kammer lediglich annimmt, Nötigungsziel des Angeklagten sei es gewesen,
die Geschädigte "an einen anderen Ort zu bringen" (UA S. 5). Sie setzt
sich nicht damit auseinander, ob der Täter auch sexuelle Ziele verfolgte. Das
lag hier angesichts des Tatbildes und des Zusammenhangs zwischen den beiden
Taten bei lebensnaher Betrachtung nahe. Dadurch ist der Angeklagte zwar
nicht beschwert und die Staatsanwaltschaft hat dies nicht angegriffen. Der
neue Tatrichter ist aber durch das Verschlechterungsverbot nicht gehindert,
den Schuldspruch dennoch zu verschärfen, wenn er aufgrund neuer Bewertung
wiederum die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewinnen
sollte, die eigentliche Zielsetzung des Täters näher festzustellen vermag und
diese im Sexuellen gründen sollte. Das Verschlechterungsverbot gilt im Grundsatz
nur hinsichtlich der Art und der Höhe der Rechtsfolgen der Tat (§ 358
Abs. 2 Satz 1 StPO). Die wegen des Falles 1 verhängte Einzelstrafe dürfte indes
nicht erhöht werden, weil insoweit lediglich auf die Revision des Angeklagten
hin neu zu befinden sein würde.
2. Der neue Tatrichter wäre schließlich von Rechts wegen nicht gehindert,
die Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB zu prüfen (vgl. § 358
- 17 -
Abs. 2 Satz 2 StPO), wenn sich - abweichend vom angefochtenen Urteil - die
Voraussetzungen des § 21 StGB sicher feststellen ließen. Dafür bietet sich allerdings
auf der Grundlage des vorliegenden Urteils kein Anhalt. Der Senat
schließt angesichts der Tatabläufe aus, daß Schuldunfähigkeit in Betracht
kommen könnte. Da das angefochtene Urteil im Fall 2 und im Ausspruch über
die Gesamtstrafe auch auf die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision
der Staatsanwaltschaft hin aufgehoben wird, kann sich gar eine Lage ergeben,
in welcher der neue Tatrichter die Anordnung der Sicherungsverwahrung
zu prüfen haben könnte (vgl. § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB).
Nack Boetticher Schluckebier
Hebenstreit Elf



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