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BGH, Urteil vom 9. August 2005 - 1 StR 99/05


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 9.8.2005 - 1 StR 99/05
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 99/05
vom
9.08.2005
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 9. August
2005, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter des Nebenklägers,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers
gegen das Urteil des Landgerichts Hechingen vom 13. Dezember
2004 werden verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem
Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen fallen der Staatskasse zur Last. Der Nebenkläger hat
die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten Totschlags
in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aus rechtlichen Gründen
freigesprochen, weil die Tathandlung durch Notwehr gerechtfertigt sei. Die
Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers richten sich mit der
Sachbeschwerde gegen den Freispruch und beanstanden die Bewertung der
Verteidigungshandlung als erforderlich.
Die im Ergebnis auch vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen
haben keinen Erfolg. Die Verfahrensrüge des Nebenklägers hinsichtlich der
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fehlenden Aufhebung des Unterbringungsbeschlusses ist unzulässig nach
§ 400 Abs. 1 StPO (vgl. BGH NStZ-RR 1998, 305).
1. Das Landgericht hat festgestellt:
a) Am 20. Februar 2004 gegen Mitternacht suchten der Angeklagte und
sein Freund T. eine Mc Donald's-Filiale in A. auf, um dort etwas
zu essen. Aus Furcht vor tätlichen Angriffen bewaffneten sie sich zuvor. Der
Angeklagte hatte zwei Bajonette mit einer Klingenlänge von je 24 cm in die Seitentaschen
seiner Military-Hose gesteckt, während der Freund vier Wurfmesser
am Gürtel an seiner Rückenseite trug. Als beide in dem Lokal ihre Mahlzeiten
verzehrten, trafen zwei junge Männer ein, die Zeugen U. und K. . Sie
nahmen ihr Essen an einem nicht weit entfernt stehenden Tisch ein. Zwischen
den vier Personen, den alleinigen Gästen, gab es immer wieder Blickkontakt.
Als der Angeklagte mit der flachen Hand eine Verpackung zusammenschlug,
bezog U. dies auf sich, ging zum Tisch der beiden anderen und fragte wutentbrannt,
ob sie Stress suchten. Diese antworteten, dass sie in Ruhe essen
wollten. U. entgegnete, man werde die Sache nachher draußen klären. U.
und K. verließen das Lokal. Die beiden anderen aßen in Ruhe zu Ende
und hofften, dass U. und K. sich entfernt hätten. Diese warteten jedoch
draußen. Als der Angeklagte und sein Freund sie beim Verlassen des Lokals
erblickten, zückten sie ihre Messer und hielten sie in Abwehrhaltung vor sich,
um sich einer drohenden Schlägerei zu entziehen. U. , der nach wie vor auf
eine gewaltsame Auseinandersetzung aus war, forderte seine Kontrahenten
wiederholt auf, die Messer wegzulegen. Diese erwiderten, dass sie sich wohl
"die Falschen" ausgesucht hätten, sie sollten ihres Weges gehen, dann sei die
Sache vergessen. Erst als aus den Reihen der Bediensteten des Lokals das
Wort "Polizei" fiel, zogen U. und K. sich in Richtung Parkplatz zurück.
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Der Angeklagte und sein Freund steckten die Messer wieder ein und begaben
sich auf den Weg zur Wohnung des Angeklagten. Für sie war der Vorfall erledigt.
b) U. dagegen, der wegen Körperverletzungsdelikten mehrfach verurteilt
worden war und der zur Tatzeit wegen eines solchen Deliktes unter Bewährung
stand, wollte das Vorgefallene nicht auf sich sitzen lassen, sondern
eine tätliche Auseinandersetzung herbeiführen. Er verfolgte mit dem nur widerwillig
ihn begleitenden K. die beiden Kontrahenten schnellen Schrittes -
teils in leichtem Lauf -, um sie einzuholen. An einer ca. 150 m von Mc Donald's
entfernt liegenden Total-Tankstelle erblickte er drei Bekannte, die Zeugen
F. , Ko. und R. . Diesen erklärte er, dass eben zwei vorbeigegangen
seien, die Messer hätten und mit denen er "Stress habe". Seinen Bekannten
war klar, dass U. eine Schlägerei beabsichtigte und sie waren bereit, ohne
weitere Nachfrage ihm beizustehen. F. fand die Aussicht auf eine Schlägerei
attraktiver als sofort zum Tanz zu gehen. Sie kamen überein, dass Ko.
und R. zunächst das Fahrzeug betanken und dann den beiden Personen mit
dem Fahrzeug den Weg abschneiden sollten. Ko. und R. waren auch bereit,
unterstützend zur Hilfe zu kommen. F. nahm sofort mit U. die Verfolgung
auf. K. zog sich zurück, weil seine Hilfe nicht mehr erforderlich
war.
F. wollte für den bevorstehenden Kampf Waffengleichheit herstellen.
Als er im Hofbereich einer Firma Baumaterialien erblickte, ergriff er eine
ca. 1,60 m lange Holzlatte und U. eine deutlich kürzere Eisenstange. Mit diesen
Schlagwerkzeugen bewaffnet rannten sie ihren Kontrahenten hinterher.
U. rief ihnen zu, sie sollten stehen bleiben und ihre Messer wegwerfen. Diese
drehten sich um, zogen ihre Messer heraus und hielten sie in Abwehrhal-
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tung vor sich, um deren Einsatz anzudrohen. Da U. nun eine weitere Person
bei sich hatte und beide mit Schlagwerkzeugen bewaffnet auf sie zueilten, befürchteten
sie für den Fall des Weglegens ihrer Waffen Schläge. U. hieb
auch sofort mit einer Eisenstange mehrfach auf T. ein, wobei beide
sich im Bereich des Gehweges befanden. Der Angeklagte bewegte sich vom
Gehweg weg auf die Straße und wurde von F. verfolgt. Zwischen ihnen
und den beiden anderen Kämpfern befand sich ein abgestellter Lkw, so dass
sie diese nicht mehr sehen konnten. Der Angeklagte stellte sich seinem Verfolger.
F. beabsichtigte, mit der Holzlatte dem Angeklagten die Bajonette aus
den Händen zu schlagen. Er ging auf ihn los, schlug mit der Latte zu und traf
ihn am linken Oberschenkel. Dann glitt F. auf der nassen und rutschigen
Fahrbahn aus und fiel zu Boden, wobei ihm auch die Holzlatte entglitt. Als er
sich wieder aufrichtete, um sich erneut zu bewaffnen und weiter auf den Angeklagten
einzudringen, stieß dieser zur Abwehr mit Wucht das Bajonett in den
linken oberen Brustbereich seines Angreifers. Der Angeklagte rechnete damit,
dass er ihn tödlich verletzen konnte und nahm dies zur Unterbindung weiterer
Angriffe in Kauf. Der mit heftiger Wucht geführte Stoß durchdrang das Revers
und den darunter befindlichen Stoff einer dicken Winterjacke aus Lammfellimitat
und führte zu einer rund 10 cm tiefen Stichverletzung unterhalb des Schlüsselbeins
parallel zur Thoraxwand. Dadurch wurden eine aus der Aorta kommende
Arterie und die Lunge verletzt.
Nach Beibringung dieser konkret lebensgefährlichen Verletzung ließ der
Angeklagte von seinem Angreifer ab. F. bewegte sich rückwärts in Richtung
Gehweg. Ko. und R. waren mittlerweile mit dem Fahrzeug eingetroffen,
nahmen U. und F. auf und brachten den nun schon deutlich blutenden
F. ins Krankenhaus. In einer zweistündigen Notoperation konnte
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er außer Lebensgefahr gebracht werden. Als Verletzungsfolgen klagt er lediglich
über gelegentliche Schmerzen an der Narbe und geringere Ausdauer bei
körperlicher Betätigung.
2. Zu Recht geht der Tatrichter davon aus, dass die vom Angeklagten
gewählte Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich
war.
a) Die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger sind der Auffassung,
diese Bewertung des Landgerichts stütze sich auf widersprüchliche und lückenhafte
Feststellungen zur Beschaffenheit, insbesondere Gefährlichkeit der
vom Angreifer F. verwendeten Holzlatte und zur andauernden Notwehrlage.
Die Urteilsgründe ließen nicht erkennen, wie F. sich nach dem
Sturz hätte erneut bewaffnen können, wenn nicht festgestellt ist, wo die Latte
gelegen habe.
Die Urteilsfeststellungen weisen weder Widersprüche noch Lücken auf.
Bei der Beurteilung der Gefährlichkeit der gegnerischen Bewaffnung
kommt es nicht auf den bisherigen Einsatz der Holzlatte in Richtung Hand des
Angegriffenen zur Entwaffnung an - wie die Revisionsführer meinen - sondern
auf einen möglichen Einsatz - z.B. nach Entwaffnung -. Die Einstufung der
Holzlatte durch den Tatrichter als gefährliches Werkzeug, welches bei einem
Schlag auf den ungeschützten Kopf eines Kontrahenten schwere bis hin zu
tödliche Verletzungen herbeiführen kann (UA S. 17, 18), erfolgte zu Recht und
ohne Widersprüche. Eine sachlich-rechtliche Pflicht, eine zwar theoretisch
mögliche, jedoch fern liegende Fallgestaltung zu erörtern, dass der Angreifer
F. sich etwa mit einer morschen Latte bewaffnet haben könnte, besteht
nicht (BGH, Urteil vom 5. November 2003 - 1 StR 287/03). Es liegt vielmehr
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nahe, dass die vom Angreifer verwendete Holzlatte geeignet ist, die dargestellten
Verletzungen herbeizuführen. Eine Aufklärungsrüge hinsichtlich der Beschaffenheit
der Holzlatte ist nicht erhoben.
Das Landgericht geht ohne Rechtsfehler von einer andauernden Notwehrlage
aus. Dabei verkennt es nicht, dass F. zum Zeitpunkt der Zufügung
des Stiches die Holzlatte verloren hatte (UA S. 17). Einer Erörterung oder
Feststellung, wo die Latte konkret gelegen hat, bedurfte es nicht. Der Angriff
dauert so lange an, wie eine Wiederholung unmittelbar zu befürchten ist. Entscheidend
sind die Absichten des Angreifers (BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff
5). Das Landgericht hat festgestellt, dass F. nach seinen eigenen Äußerungen
den Angriff fortgesetzt hätte und der Angeklagte schon aus dem gesamten
Geschehensablauf davon ausgehen musste, dass F. sich sofort
wieder mit der Holzlatte bewaffnen und den Angriff fortsetzen werde. Das genügt.
b) Die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger meinen, der Tatrichter
hätte sich bei der Erörterung milderer Verteidigungsmittel damit auseinandersetzen
müssen, ob es nicht ausreichend gewesen wäre, wenn der Angeklagte
dem Angreifer die Spitze seines Bajonettes auf den Körper aufgesetzt hätte.
Der Generalbundesanwalt vermisst Erörterungen zum Einsatz der Stichwaffe
als Schlagwerkzeug. Mit dem Griff des Bajonettes hätte der Angeklagte nach
Auffassung des Generalbundesanwalts wuchtige Schläge zur Abwehr ausführen
können.
Auch insoweit weist das Urteil keinen Rechtsfehler auf.
Ob die Verteidigungshandlung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich
ist, hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Dabei darf
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sich der Angegriffene grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur
Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten
lässt. Das schließt auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel ein. Zwar
kann dieser nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf auch nur das
letzte Mittel der Verteidigung sein; doch ist der Angegriffene nicht genötigt, auf
die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen,
wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. Auf einen Kampf mit ungewissem
Ausgang braucht er sich nicht einzulassen (st. Rspr., vgl. BGH NStZ
2002, 140 m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben durfte der Angeklagte sich mit einem wuchtigen
Messerstich verteidigen. Das Aufsetzen einer oder beider Bajonettspitzen auf
den Körper des sich wieder aufrichtenden - wenn auch zu diesem Zeitpunkt
unbewaffneten - Angreifers hätte nach den getroffenen Feststellungen den Angriff
nicht zweifelsfrei endgültig beendet. Die Kampflage wird hier bestimmt
durch das Vortatgeschehen, die andauernde Intensität, mit der die tätliche
Auseinandersetzung gesucht wurde, das Nebentatgeschehen - der Kampf zwischen
U. und T. - und das mögliche jederzeitige Eintreffen von Verstärkung
für F. . Dieser war ohne eigene Veranlassung dem streitsüchtigen
U. , der bereits bei Mc Donald's aus nichtigem, missdeutetem Anlass die
Schlägerei gesucht hatte, zu Hilfe geeilt und beide waren mit Schlagwerkzeugen
bewaffnet in den Kampf gegangen. Der Einsatz des Messers war dem Angreifer
durch Vorhalten angedroht worden, was ihn aber nicht vom Angriff abhielt.
Das endgültige Ausscheiden des K. , des früheren Kampfgefährten
des U. , war dem Angeklagten zur Zeit der Verteidigungshandlung nicht bekannt.
Auch kannte er die Kampflage zwischen U. und T. nicht. Er
wusste also nicht, ob er von U. weitere Bedrohung bzw. Verstärkung für
F. befürchten musste. Bei dieser Bedrohungslage konnte er nicht erwar-
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ten, dass ein Aufsetzen von Bajonettspitzen auf den Körper die Gefahr endgültig
beseitigt hätte. Ein solches Aufsetzen wäre im Übrigen, wie der Tatrichter es
für einen gezielten Stich in andere Körperteile ausgeführt hat, auch aus tatsächlichen
Gründen nicht möglich gewesen. F. war dabei, sich wieder
aufzurichten, er und der Angeklagte befanden sich in einem bewegten Geschehensablauf
und die Lichtverhältnisse bei Dunkelheit - Beleuchtung nur
durch Straßenlaternen - ermöglichten lediglich eine eingeschränkte Sicht.
Auf den Einsatz der Stichwaffe als Schlagwerkzeug muss der Angeklagte
sich nicht verweisen lassen.
Bei mehreren Einsatzmöglichkeiten des vorhandenen Abwehrmittels hat
der Verteidigende nur dann das für den Angreifer am wenigsten gefährliche zu
wählen, wenn ihm Zeit zum Überlegen zur Verfügung steht und durch die weniger
gefährliche Abwehr dieselbe, oben beschriebene Wirkung erzielt wird
(BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 5). Beides trifft hier nicht zu. Das eigentliche
Tatgeschehen spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab (UA
S. 12). Als F. ausrutschte, blieb dem Angeklagten keine Zeit, sich Gedanken
über verschiedene Einsatzmöglichkeiten seiner Bajonette zu machen
und diese - wie auch immer - als Schlagwerkzeuge zu ergreifen. Er musste angesichts
der Bedrohungslage sofort reagieren.
Aus seiner und auch objektiver Sicht konnte er die Gefahrenlage durch
wuchtige Schläge mit dem Griff eines Bajonettes auch nicht ohne Zweifel endgültig
beenden. Die Gesamtlänge des Bajonettes mit einer Klingenlänge von
24 cm ist zwar nicht bekannt, aber bei einer Verwendung als Schlagwerkzeug
auf den Körper des Angreifers wäre der Angeklagte in eine solche Nähe seines
Kontrahenten gelangt, dass dieser ihn mit Faustschlägen hätte attackieren können.
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Mit möglichen anderen Einschränkungen des Notwehrrechts hat das
Landgericht sich auseinandergesetzt (UA S. 18) und diese rechtsfehlerfrei verneint.
Nack Wahl Kolz
Hebenstreit Elf



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