BGH,
Urt. v. 9.5.2006 - 1 StR 37/06
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 37/06
vom
9.5.2006
in der Strafsache
gegen
wegen Sachbeschädigung u.a.
- 2 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
9.05.2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts München I vom 18.08.2005 mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte
freigesprochen worden ist.
Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Sachbeschädigung zu
einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30 €
verurteilt. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Dem
Angeklagten war weiterhin vorgeworfen worden, im Jahr 2004 bis zum 14.
Juni 2004 in vier Fällen an den Zeugen S. jeweils zwischen 20
und 48,06 g Heroingemisch gewinnbringend veräußert
zu haben.
1
Gegen den Teilfreispruch wendet sich die Revision der
Staatsanwaltschaft mit einer Verfahrensrüge und der
Sachbeschwerde. Mit der Sachbeschwerde hat sie Erfolg.
2
I.
Der Senat braucht deshalb nicht zu entscheiden, ob die
Aufklärungsrüge durchgreift. Die
Beschwerdeführerin beanstandet, dass das Landgericht es
unterlassen habe, in der Hauptverhandlung Kurznachrichten (SMS) in
Augen-
3
- 4 -
schein zu nehmen. Die SMS waren bei
Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen, bezogen
auf ein vom Angeklagten benutztes Mobiltelefon, aufgezeichnet worden.
Die Beschwerdeführerin meint, das Landgericht habe zu Unrecht
die Telefonüberwachung nach § 100a StPO für
rechtswidrig und die Erkenntnisse daraus für unverwertbar
gehalten. Zugleich teilt die Revision mit, dass der Sitzungsvertreter
der Staatsanwaltschaft deswegen von einem entsprechenden Beweisantrag
abgesehen habe, weil eine Polizeibeamtin, als Zeugin vernommen, die
identischen Kurznachrichten vom Mobiltelefon des Zeugen S. ausgelesen
und deren Inhalt in der Hauptverhandlung wiedergegeben habe. Da die
Kurznachrichten - nach dem Revisionsvortrag - somit auf andere Weise
als durch Augenschein in die Hauptverhandlung eingeführt
wurden, geht die Aufklärungsrüge fehl. Die
Nichtverwertung von eingeführten Beweismitteln ist vielmehr
mit einer Rüge der Verletzung des § 261 StPO zu
beanstanden, die darauf zielt, dass das Landgericht nicht das gesamte
Ergebnis der Hauptverhandlung seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat
(vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. §
261 Rdn. 176; Schoreit in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 20).
Inwieweit auch eine derartige Rüge erfolglos wäre, da
für das Revisi-onsgericht das Einführen der
Kurznachrichten durch Zeugenbeweis ohne Rekonstruktion der
Beweisaufnahme nicht feststellbar ist (vgl. Senatsbeschluss vom 25.
Januar 2006 - 1 StR 438/05 - Umdruck S. 6; Schoreit aaO Rdn. 52),
braucht der Senat ebenfalls nicht zu entscheiden.
II.
1. Folgendes ist - soweit im Rahmen der Revision von Bedeutung -
festgestellt:
4
Der Zeuge S. erwarb von Mitte April bis zu seiner Festnahme am 14. Juni
2004 von einer unbekannten Person in drei Fällen
Heroingemisch, und
5
- 5 -
zwar zwischen Mitte April und Mitte Mai 2004 mindestens 20 g
(entspricht Tatvorwurf 1 der Anklage), einige Tage später
nochmals mindestens 20 g (entspricht Tatvorwurf 2 der Anklage) sowie am
14. Juni 2004 weitere 48,06 g (entspricht Tatvorwurf 4 der Anklage).
Kurz vor der ersten Tat hatte ihm die Person gesagt, sie sei unter
einer von ihr bezeichneten Rufnummer erreichbar.
Der Angeklagte und der Zeuge S. hatten sich Anfang 2003 in einer
Justizvollzugsanstalt kennen gelernt. Der Angeklagte hatte
gegenüber dem Zeugen S. erklärt, dass er wegen
Heroinhandels in Untersuchungshaft sei.
6
2. Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen
Gründen freigesprochen.
7
Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung keine Angaben gemacht. Bei
seiner polizeilichen Vernehmung hatte er ausgesagt, den Zeugen S. nicht
zu kennen.
8
Der Zeuge S. hat die drei Taten - so wie vom Landgericht festgestellt -
in der Hauptverhandlung geschildert und angegeben, dass der Angeklagte
die Person sei, von der er das Heroingemisch erhalten habe. Was den
Tatvorwurf 3 der Anklage - ein weiteres Geschäft über
25 g Heroingemisch eine Woche nach der zweiten Tat - anbelangt, der auf
der polizeilichen Aussage des Zeugen S. beruhte, hat sich dieser in der
Hauptverhandlung trotz Vorhalts nicht erinnern können.
9
Das Landgericht hat sich zwar davon überzeugt, dass sich der
Angeklagte und der Zeuge S. kennen, nicht aber, dass der Angeklagte der
Heroinlieferant des Zeugen war und bereits vor Juni 2004 ein
Mobiltelefon mit der bezeichneten Rufnummer besaß. Im
Übrigen hat es den Angaben des Zeugen zu
10
- 6 -
den Taten, soweit er sich in der Hauptverhandlung hat erinnern
können, Glauben geschenkt.
III.
Die Beschwerdeführerin beanstandet mit der Sachrüge
zu Recht die Beweiswürdigung.
11
Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Kann er nicht
die erforderliche Gewissheit gewinnen und spricht er den Angeklagten
daher frei, so hat das Revisionsgericht dies
regelmäßig hinzunehmen. Demgegenüber kann
ein Urteil keinen Bestand haben, wenn die Beweiswürdigung
rechtsfehlerhaft ist (st. Rspr.; vgl. nur Senat NJW 2002, 2188, 2189;
NStZ-RR 2005, 147).
12
1. Das Urteil lässt besorgen, dass die Kammer der Reichweite
des Grundsatzes "in dubio pro reo" nicht hinreichend Rechnung getragen
hat.
13
Die Kammer hat festgestellt, dass der Heroinlieferant des Zeugen S.
diesem kurz vor der ersten Tat zwischen Mitte April und Mitte Mai 2004
sagte, er sei unter einer von ihm bezeichneten Rufnummer erreichbar (UA
S. 8). Diese Rufnummer wurde vom Mobiltelefon des Zeugen S. nach dessen
Festnahme infolge der Tat am 14. Juni 2004 ausgelesen (UA S. 16). Des
Weiteren hat der Angeklagte in einem Beweisantrag vortragen lassen,
dass er das Mobiltelefon mit der bezeichneten Rufnummer erst am 1. oder
2. Juni 2004 gekauft habe. Dazu führt das Urteil aus, dass die
Kammer die Behauptung nicht habe widerlegen können, da die
polizeilichen Ermittlungen Gegenteiliges nicht ergeben hätten.
Hieraus hat sie geschlossen: "Wenn der Angeklagte das Handy erst ab
Anfang Juni 2004 hatte, konnte S. den Angeklagten im Mai 2004 nicht auf
diesem Handy anrufen" (UA S. 17).
14
- 7 -
Unbeschadet des Umstands, dass die Tatsachenbehauptung in dem
Beweisantrag nicht ohne weiteres als Einlassung des Angeklagten
angesehen werden kann (vgl. BGH NStZ 1990, 447; NStZ 2000, 495, 496),
stellt es eine rechtsfehlerhafte Anwendung des Zweifelsatzes dar, dass
die Kammer die behauptete Tatsache allein deswegen ihrer Entscheidung
zugrunde gelegt hat, weil es für das Gegenteil keine
unmittelbaren Beweise gab, mittels derer die Behauptung sicher
widerlegt werden konnte.
15
Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist keine Beweis-, sondern eine
Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es
nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle
Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- und
Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu
gewinnen vermag (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung
24, 27). Es ist daher verfehlt, ihn isoliert auf einzelne Indizien
anzuwenden; er kann erst bei der abschließenden
Gesamtwürdigung zum Tragen kommen (vgl. BGHSt 49, 112, 122 f.;
BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 20; BGH NStZ 2001,
609; NStZ-RR 2004, 238, 239).
16
Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Kammer die
Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen S. anders beurteilt
hätte, wenn sie bei der Gesamtwürdigung aller
Indizien nicht von vornherein ausgeschlossen hätte, dass der
Angeklagte das Mobiltelefon mit der bezeichneten Rufnummer bereits vor
Juni 2004 besaß. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund,
dass das Urteil nicht mitteilt, was der Zeuge S. zur Vorbereitung oder
Abwicklung des Geschäfts vom 14. Juni 2004 mittels
Mobiltelefon ausgesagt hat.
17
2. Das Urteil weist zudem insoweit einen Erörterungsmangel
auf, als es die Aussage des Zeugen S. nicht erschöpfend
würdigt. Das Urteil schweigt nicht nur dazu, aus welchen
Gründen das Landgericht die Aussage des Zeugen
18
- 8 -
S. - unter Ausklammerung der Person des Lieferanten - für
glaubhaft erachtet hat, soweit er in der Hauptverhandlung die
Erwerbsvorgänge als solche schilderte. Es fehlt auch an einer
Beweiswürdigung zu dem Erwerbsvorgang, an den sich der Zeuge
S. in der Hauptverhandlung trotz Vorhalts nicht hat erinnern
können (Tatvorwurf 3), zumal das Landgericht selbst
festgestellt hat, dass der Zeuge S. Erinnerungslücken oft
vorgeschoben und später damit begründet hat, er habe
befürchtet, dass "er dann auch verraten werde" (UA S. 13). Das
Urteil teilt nicht mit, warum die Kammer den polizeilichen Angaben des
Zeugen S. zum Tatvorwurf 3 keinen Glauben geschenkt hat. Eine
Erörterung war insbesondere deshalb geboten, weil der Zeuge
aufgrund seines Geständnisses auch wegen dieser Tat selbst
rechtskräftig verurteilt wurde (UA S. 11). Das Schweigen der
Urteilsgründe hierzu lässt besorgen, dass die Kammer
die früheren Aussagen des Zeugen S. bei der Polizei und in
seiner eigenen Hauptverhandlung nicht in dem hier gebotenen Umfang
gewürdigt hat. Vor dem Hintergrund, dass die Kammer seine
Angaben zu den drei in der Hauptverhandlung geschilderten
Erwerbsvorgängen für glaubhaft erachtet hat, versteht
es sich nicht von selbst, dass die früheren Aussagen, aufgrund
derer der Zeuge seine eigene Verurteilung hinnahm, schon für
sich gesehen unglaubhaft waren (vgl. Senat, Urt. vom 21. Februar 2006 -
1 StR 278/05 - Umdruck S. 6).
3. Eine Gesamtschau der Urteilsgründe lässt besorgen,
dass das Landgericht an die zur Verurteilung erforderliche
Überzeugungsbildung überspannte Anforderungen
gestellt hat (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung
16; Schoreit in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 4 m.w.N.).
19
IV.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes
hin: Die neun Kurznachrichten, deren Verwertung die
Beschwerdeführerin mit der Ver-
20
- 9 -
fahrensrüge begehrt, sind, soweit sie - dem Revisionsvortrag
zufolge - vom Mobiltelefon des Zeugen S. ausgelesen und durch
Zeugenbeweis in die Hauptverhandlung eingeführt wurden, nach
der neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht durch
einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis erlangt; ein darauf
gestütztes Verwertungsverbot käme daher nicht in
Betracht (vgl. BVerfG, Urt. vom 2. März 2006 - 2 BvR 2099/04
[= StraFo 2006, 157]; die Kammerentscheidung vom 4. Februar 2005 - 2
BvR 308/04 [= NStZ 2005, 337] ist insoweit überholt). Die
Rechtmäßigkeit der
Telekommunikations-Überwachungsmaßnahmen aus dem
ermittlungsrichterlichen Beschluss vom 4. Juni 2004 ist
diesbezüglich ohne Bedeutung.
Nack Wahl Kolz Elf Graf |