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Eine Darstellung der BGH-Rechtsprechung in Strafsachen



 
§ 13 StGB
Begehen durch Unterlassen

(1) Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.

(2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
 
Strafgesetzbuch, Stand: 24.8.2017


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Allgemeines
    Echte und unechte Unterlassungsdelikte
§ 13 Abs. 1 StGB
    Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen
    Abgrenzung Mittäterschaft und Beihilfe durch Unterlassen
    Unterlassen bei abstrakten Gefährdungsdelikten
    Garantenstellung
    Garantenstellung aus der tatsächlichen Herbeiführung einer Gefahrenlage / Ingerenz
       Gefahrerhöhendes Vorverhalten
       Unterlassungsdelikt
       Ingerenz bei Anstiftungs- und Beihilfehandlungen
    Fallgruppen
       Ehegatten
       Schulleiter
       Anstaltsleiter einer JVA
       Leiter der Innenrevision einer Anstalt des öffentlichen Rechts
       Ärzte
       Eltern
          Mutter
       Gemeinschaftszugehörigkeit u. Hilfszusagen
       Wohnungsinhaber
       Vertrag
       Fürsorgepflicht des Arbeitgebers
       Faktische Auftragsübernahme
       Überwachungs- und Beschützergaranten
       Rettungssanitäter
       SED-Unrecht
       Garantenhaftung des Betriebsinhabers bzw. Vorgesetzten
       Garantenstellung alkoholisierter Kraftfahrer nach Verkehrsunfällen
       Dienstgruppenleiter der Polizei
    Erfolgsabwendungspflicht
    Ursächlichkeit
       Kumulatives Unterlassen
    Modalitätenäquivalenz
    Vorsatz
       Vorsatz bei unechten Unterlassungsdelikten
    Versuchsstrafbarkeit bei unechten Unterlassungsdelikten
       Untauglicher Versuch
    Sonstige Einzelfälle
§ 13 Abs. 2 StGB
    Milderungsmöglichkeit
Konkurrenzen
    Tateinheit
Prozessuales
    Gesetze
       Verweisungen





Allgemeines
 




Echte und unechte Unterlassungsdelikte

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Ob § 13 StGB anwendbar und damit auch (fakultativ) eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB möglich ist, richtet sich danach, ob ein "echtes" oder "unechtes" Unterlassungsdelikt vorliegt. Für "echte" Unterlassungsdelikte gilt § 13 StGB nicht (BGH, Beschl. v. 19.10.2011 - 1 StR 233/11; vgl. zusammenfassend Fischer, StGB, 58. Aufl., § 13 Rn. 3 mwN). "Echte" Unterlassungsdelikte müssen keinen Taterfolg aufweisen (vgl. BGH, Urt. v. 16.5.1960 - 2 StR 65/60 - BGHSt 14, 280, 281; BGH, Beschl. v. 19.10.2011 - 1 StR 233/11; BayObLG, Beschl. v. 22.1.1990 - RReg 1 St/5/90 - NJW 1990, 1861; Fischer, StGB, 58. Aufl., vor § 13 Rn. 16).
 
Beispiel: Mit Ausnahme von § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB sind in § 266a StGB durchgehend echte Unterlassungsdelikte normiert (vgl. BGH, Beschl. v. 15.3.2012 - 5 StR 288/11).  



§ 13 Abs. 1 StGB
 
(1) Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. ... 




Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen

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Die Rechtsprechung stellt für die Abgrenzung zwischen aktivem Tun oder Unterlassen wertend auf den Schwerpunkt des Vorwurfs ab (BGH, Beschl. v. 17.2.1954 - GSSt 3/53 - BGHSt 6, 46, 59; BGH, Urt. v. 13.9.1994 - 1 StR 357/94 - BGHSt 40, 257 - NJW 1995, 204;  BGH, Urt. v. 12.7.2005 - 1 StR 65/05; BGH, Urt. v. 12.11.2009 - 4 StR 227/09 - NStZ 2010, 214; BGH, Urt. v. 7.7.2011 - 5 StR 561/10; BGH, Beschl. v. 19.10.2011 - 1 StR 233/11; vgl. auch Fischer StGB 56. Aufl. Rdn. 17 vor § 13 m.w.N.). Es kommt auf den Schwerpunkt des Täterverhaltens an, über das in wertender Würdigung zu entscheiden ist (BGH, Beschl. v. 17.2.1954 - GSSt 3/53 - BGHSt 6, 46, 59; NStZ 1999, 607; BGH, Urt. v. 7.9.2011 - 2 StR 600/10). Danach ist nicht nach rein äußeren oder formalen Kriterien zu entscheiden, sondern aufgrund einer normativen Betrachtung unter Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns. Maßgeblich ist insofern, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt (vgl. BGH, Beschl. v. 17.2.1954 - GSSt 3/53 - BGHSt 6, 46, 59; BGH, Urt. v. 13.9.1994 - 1 StR 357/94 - BGHSt 40, 257, 265; BGH MDR 1982, 624; BGH, Beschl. v. 17.8.1999 - 1 StR 390/99 - NStZ 1999, 607; BGH, Urt. v. 14.3.2003 - 2 StR 239/02 - NStZ 2003, 657: betr. hochgradig infizierten und infizierenden Arzt, der keine Kontrolluntersuchungen an sich vornehmen ließ; BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13: betr. Tötung durch Brand in einer Gewahrsamszelle der Polizei). Das Unterlassungsverhalten des Täters muss dem einer aktiven Tatbestandsverwirklichung im Rahmen des Wertungsvergleichs entsprechen, den die Vorschrift des § 13 Abs. 1 StGB gebietet (vgl. BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77 - NJW 2003, 522).

Beispiel: Der Schwerpunkt des treuwidrigen Verhaltens liegt in der unterbliebenen Weiterleitung der zum Abrechnungszeitpunkt an die Versicherung zu zahlenden Prämiengelder. Demgegenüber tritt die als positives Tun zu betrachtende Erstellung falscher Abrechnungen bei wertender Betrachtung als bloße Vorbereitung der den eigentlichen Schaden herbeiführenden Nichtabführung zu zahlender Prämien zurück (vgl. BGH, Urt. v. 7.9.2011 - 2 StR 600/10).

Beispiel: Nicht durch aktives Tun, sondern durch Unterlassen begangene Versuche liegen vor, wenn der Angeklagte, als er die Gashähne öffnete, nicht in dem Bewußtsein handelte, dass dies zu einer Gasexplosion und diese zum Tod anderer Hausbewohner führen könnte und ihm diese Möglichkeit vielmehr erst nachträglich bewußt wurde. Das weitere Ausströmen-Lassen des Gases konnte eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten daher nur aufgrund seiner aus dem vorangegangenen Tun erwachsenen Garantenstellung gemäß § 13 Abs. 1 StGB begründen (vgl. BGH, Beschl. v. 20.12.2002 - 2 StR 251/02 - BGHSt 48, 147 - NStZ 2003, 308).


Diese "Unterlassenskomponente" - die bei Fahrlässigkeitsdelikten häufig im Unterlassen von Sorgfaltsvorkehrungen besteht - kann wesensnotwendig mit dem fahrlässigen aktiven Tun verbunden sein und nichts am aktiven Begehungscharakter der Verhaltensweise ändern, sondern dieser immanent sein (vgl. BGH, Urt. v. 14.3.2003 - 2 StR 239/02 - NStZ 2003, 657; Rudolphi in SK StGB vor § 13 Rdn. 27; Kühl, Strafrecht AT 4. Aufl. § 18 Rdn. 24; Seelmann in AK StGB § 13 Rdn. 27; Ulsenheimer, Das Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, S. 99 und in Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts 3. Aufl. § 140 Rdn. 12; Fünfsinn, Der Aufbau des fahrlässigen Verletzungsdelikts durch Unterlassen im Strafrecht, S. 40 ff.; vgl. BGH, Urt. v. 27.11.1951 - 1 StR 439/51).

Durch die Behandlung des Patienten entfaltet ein Arzt aktives Tun (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.2002 - 1 StR 53/02).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann eine pflichtwidrige Unterlassung dem Angeklagten grundsätzlich nur dann angelastet werden, wenn der strafrechtlich relevante Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre (BGHR StGB § 222 Kausalität 1, 2, 3, 4; BGH, Urt. v. 19.4.2000 - 3 StR 442/99 - NJW 2000, 2754, 2757 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 25.4.2001 - 1 StR 130/01).


So kann etwa die Verurteilung wegen Totschlags durch Unterlassen keinen Bestand haben, wenn nicht belegt ist, daß durch ein Eingreifen des Angeklagten der Tod des Verstorbenen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre; denn nur dann könnte das Unterlassen für den Erfolgseintritt ursächlich geworden sein (vgl. BGH, Urt. v. 4.3.1954 - 3 StR 281/53 - BGHSt 6, 1, 2; BGH, Urt. v. 19.12.1997 - 5 StR 569/96 - BGHSt 43, 381, 397 - NJW 1998, 1568; BGH bei Dallinger MDR 1971, 361; BGH, Urt. v. 25.9.1991 - 3 StR 95/91 - NStZ 1992, 31; BGH, Urt. v. 18.9.1986 - 4 StR 429/86 - BGHR StGB § 13 Abs. 1 Brandstiftung 1; BGH, Beschl. v. 23.5.2000 - 4 StR 157/00 - NStZ 2000, 583). Allein, daß "Überlebenschancen" für das Tatopfer bestanden hätten, reicht hierfür nicht aus (vgl. BGH, Beschl. v. 23.5.2000 - 4 StR 157/00 - NStZ 2000, 583). 




Abgrenzung Mittäterschaft und Beihilfe durch Unterlassen

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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist für die Abgrenzung zwischen Mittäterschaft und Beihilfe durch Unterlassen zur Tat eines aktiv Handelnden die innere Haltung des Unterlassenden zur Tat bzw. dessen Tatherrschaft maßgebend. War seine aufgrund einer wertenden Betrachtung festzustellende innere Haltung - insbesondere wegen des Interesses am Taterfolg - als Ausdruck eines sich die Tat des anderen zu eigen machenden Täterwillens aufzufassen, so liegt die Annahme von Mittäterschaft nahe. War sie dagegen davon geprägt, dass er sich dem Handelnden - etwa weil er dessen bestimmenden Einfluss unterlag - im Willen unterordnete und ließ er das Geschehen ohne innere Beteiligung und ohne Interesse am drohenden Erfolg lediglich ablaufen, spricht dies für eine bloße Beteiligung als Gehilfe (BGH, Urt. v. 25.9.1991 - 3 StR 95/91 -  NStZ 1992, 31 m.w.N.; BGH, Urt. v. 12.2.2009 - 4 StR 488/08 - NStZ 2009, 321; BGH, Beschl. v. 14.2.2012 - 3 StR 446/11; weitere Nachweise bei Fischer StGB 58. Aufl. § 13 Rdn. 51a und LK-Weigend StGB 12. Aufl. § 13 Rdn. 83, 93).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme in Fällen, in denen ein erfolgsabwendungspflichtiger Unterlassender die deliktische Handlung eines Dritten nicht verhindert, nach denselben Kriterien vorzunehmen wie bei den Begehungsdelikten. Danach ist aufgrund wertender Betrachtung abzuwägen, ob die innere Haltung des Unterlassenden zur Begehungstat des anderen als Ausdruck eines sich die Tat des anderen zu Eigen machenden Täterwillens aufzufassen ist oder ob seine innere Einstellung davon geprägt ist, dass er sich dem Handelnden im Willen unterordnet und das Geschehen ohne innere Beteiligung und ohne Interesse am drohenden Erfolg im Sinne bloßen Gehilfenwillens lediglich ablaufen lässt (vgl. BGH, Urt. v. 19.12.1997 – 5 StR 569/96 - BGHSt 43, 381, 397; BGH, Urt. v. 9.5.2017 - 1 StR 265/16 Rn. 76).


Zum anderen kommt Mittäterschaft des Unterlassenden in Betracht, wenn dieser - neben dem aktiv Handelnden - „Herr des Geschehens“ war, er also die Tatherrschaft hatte (vgl. BGH, Urt. v. 23.1.1958 - 4 StR 613/57 - BGHSt 11, 268, 272 - NJW 1958, 836; BGH, Urt. v. 15.1.1991 - 5 StR 492/90 - BGHSt 37, 289, 293 - NJW 1991, 1692; BGH, Urt. v. 12.2.2009 - 4 StR 488/08 - NStZ 2009, 321; ähnlich LK-Weigend StGB 12. Aufl. § 13 Rdn. 94 f.; Hoffmann-Holland ZStW 2006, 620, 623 f, 629 ff. m.w.N.).

Für die Verurteilung wegen durch Unterlassen begangener Beihilfe zur Haupttat ist erforderlich, zum Tätigwerden zugunsten des Tatopfers verpflichtet zu sein (vgl. BGH, Urt. v. 24.7.2003 - 3 StR 153/03 - BGHSt 48, 301 - NJW 2003, 3212).




Unterlassen bei abstrakten Gefährdungsdelikten

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Auch ein abstraktes Gefährdungsdelikt kann durch Unterlassen begangen werden. Dabei setzt § 13 StGB gleichfalls einen Erfolg voraus, "der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört" (vgl. BGH, Urt. v. 12.12.2000 - 1 StR 184/00 - BGHSt 46, 212 - StV 2001, 395; BGH, Urt. v. 1.7.1997 - 1 StR 244/97 - NStZ 1997, 545: Tatbestandsverwirklichung des § 326 Abs. 1 StGB durch Unterlassung, die lediglich nicht fahrlässig war; BGH, Urt. v. 19.8.1992 - 2 StR 86/92 - BGHSt 38, 325, 338 - NJW 1992, 3247: die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 326 Abs. 1 Nr. 3 StGB waren durch Unterlassen erfüllt, dieser Tatbestand wurde allerdings von § 324 StGB verdrängt). Das entspricht auch der überwiegenden Auffassung in der Literatur (Tröndle/Fischer aaO § 13 Rdn. 2; Lackner/Kühl aaO § 13 Rdn. 6; Stree in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 13 Rdn. 3; aA Jescheck in LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 2, 15). 




Garantenstellung

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Begehen durch Unterlassen ist nach § 13 Abs. 1 StGB nur dann strafbar, wenn der Täter rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Bei den unechten Unterlassungsdelikten muss ein besonderer Rechtsgrund nachgewiesen werden, wenn jemand ausnahmsweise dafür verantwortlich gemacht werden soll, dass er es unterlassen hat, zum Schutz fremder Rechtsgüter positiv tätig zu werden. Die Gleichstellung des Unterlassens mit dem aktiven Tun setzt deshalb voraus, dass der Täter als Garant für die Abwendung des Erfolgs einzustehen hat (BGH, Urt. v. 25.7.2000 - 1 StR 162/00 - BGHR StGB § 263 Abs. 1 Täuschung 16 - NJW 2000, 3013 m.w.N.; BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087; BGH, Urt. v. 25.9.2014 - 4 StR 586/13).

Alle Erfolgsabwendungspflichten beruhen auf dem Grundgedanken, dass eine bestimmte Person in besonderer Weise zum Schutz des gefährdeten Rechtsguts aufgerufen ist und dass sich alle übrigen Beteiligten auf das helfende Eingreifen dieser Person verlassen und verlassen dürfen (BGH, Urt. v. 25.7.2000 – 1 StR 162/00 - NJW 2000, 3013, 3014; BGH, Urt. v. 25.9.2014 - 4 StR 586/13; BGH, Urt. v. 10.7.2012 – VI ZR 341/10 - BGHZ 194, 26, 33; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., S. 620; SSW-StGB/Kudlich, 2. Aufl., § 13 Rn. 15, 18).


Nach allgemeinen Grundsätzen hat jeder, der Gefahrenquellen schafft oder unterhält, die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz anderer Personen zu treffen (vgl. BGH, Urt. v. 13.11.2008 - 4 StR 252/08 - BGHSt 53, 38, 42; BGH, Beschl. v. 5.8.2015 - 1 StR 328/15; siehe auch BGH, Urt. v. 21.12.2011 – 2 StR 295/11 - NStZ 2012, 319). Da eine absolute Sicherung gegen Gefahren nicht erreichbar ist, beschränkt sich die Verkehrssicherungspflicht auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind und die ein umsichtiger Mensch für notwendig hält, um Andere vor Schäden zu bewahren. Strafbar ist die Nichtabwendung einer Gefahr aus der vom Garanten eröffneten Gefahrenquelle dann, wenn eine nahe liegende Möglichkeit begründet wurde, dass Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden können (BGH, Urt. v. 21.12.2011 - 2 StR 295/11 - NStZ 2012, 319: Abstellen einer Flasche mit gefährlichem Inhalt auf dem Wohnzimmertisch, aus dem die Verstorbene trank; BGH, Beschl. v. 5.8.2015 - 1 StR 328/15: Flasche mit unverdünntem GBL).

Die Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdelikts setzt voraus, daß der Täter als Garant für das betroffene Rechtsgut anzusehen ist. Dies ist der Fall, wenn eine besondere Pflichtenstellung vorliegt, die über die für jedermann geltende Handlungspflicht hinausgeht (BGH, Urt. v. 19.4.2000 - 3 StR 442/99 - NJW 2000, 2754; BGH, Urt. v. 20.10.2011 - 4 StR 71/11).
 
Ob eine solche Garantenstellung besteht, die es rechtfertigt, das Unterlassen der Schadensabwendung dem Herbeiführen des Schadens gleichzustellen, ist nicht nach abstrakten Maßstäben zu bestimmen. Vielmehr hängt die Entscheidung letztlich von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab; dabei bedarf es einer Abwägung der Interessenlage und des Verantwortungsbereichs der Beteiligten (BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087).


Durch die Übernahme eines Pflichtenkreises kann eine rechtliche Einstandspflicht im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB begründet werden. Die Entstehung einer Garantenstellung hieraus folgt aus der Überlegung, dass denjenigen, dem Obhutspflichten für eine bestimmte Gefahrenquelle übertragen sind (vgl. Roxin Strafrecht AT II 2003 S. 712 ff.), dann auch eine „Sonderverantwortlichkeit“ für die Integrität des von ihm übernommenen Verantwortungsbereichs trifft (vgl. BGH, Urt. v. 17.7.2009 - 5 StR 394/08 - BGHSt 54, 44, 48; BGH, Urt. v. 9.5.2017 - 1 StR 265/16 Rn. 84; Freund in MünchKomm StGB § 13 Rdn. 161). Es kann dahinstehen, ob der verbreiteten Unterscheidung von Schutz- und Überwachungspflichten in diesem Zusammenhang wesentliches Gewicht zukommen kann, weil die Überwachungspflicht gerade dem Schutz bestimmter Rechtsgüter dient und umgekehrt ein Schutz ohne entsprechende Überwachung des zu schützenden Objekts kaum denkbar erscheint (vgl. BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77, 92 - NJW 2003, 522).

Der Inhalt und der Umfang der Garantenpflicht bestimmen sich aus dem konkreten Pflichtenkreis, den der Verantwortliche übernommen hat (
BGH, Urt. v. 17.7.2009 - 5 StR 394/08 - BGHSt 54, 44, 49; BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13; BGH, Urt. v. 9.5.2017 - 1 StR 265/16 Rn. 84). Maßgeblich ist die Bestimmung des Verantwortungsbereichs, den der Verpflichtete übernommen hat. Dabei kommt es nicht auf die Rechtsform der Übertragung an, sondern darauf, was unter Berücksichtigung des normativen Hintergrunds Inhalt der Pflichtenbindung ist (vgl. BGH, Urt. v. 30.4.1997 - 2 StR 670/96 - BGHSt 43, 82 - NJW 1997, 2059; BGH, Urt. v. 17.7.2009 - 5 StR 394/08 - BGHSt 54, 44 - NJW 2008, 3173).

Die Übernahme entsprechender Überwachungs- und Schutzpflichten kann aber auch durch einen Dienstvertrag erfolgen. Dabei reicht freilich der bloße Vertragsschluss nicht aus. Maßgebend für die Begründung einer Garantenstellung ist vielmehr die tatsächliche Übernahme des Pflichtenkreises. Allerdings begründet nicht jede Übertragung von Pflichten auch eine Garantenstellung im strafrechtlichen Sinne. Hinzutreten muss regelmäßig ein besonderes Vertrauensverhältnis, das den Übertragenden gerade dazu veranlasst, dem Verpflichteten besondere Schutzpflichten zu überantworten (vgl. BGH, Beschl. v. 8.11.2000 - 5 StR 433/00 - BGHSt 46, 196, 202 f.; BGH, Urt. v. 16.11.1993 - 4 StR 648/93 - BGHSt 39, 392, 399 - StV 1994, 182). Ein bloßer Austauschvertrag genügt hier ebenso wenig wie ein Arbeitsverhältnis (BGH, Urt. v. 17.7.2009 - 5 StR 394/08 - BGHSt 54, 44 - NJW 2008, 3173; Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rdn. 41). 




[ Garantenstellung aus der tatsächlichen Herbeiführung einer Gefahrenlage / Ingerenz ]
        

20.1
Die Garantenpflicht aus vorangegangenem gefährdenden Tun beruht auf dem allgemeinen Gedanken, dass derjenige, der durch sein Verhalten die Gefahr eines Schadens geschaffen oder mitgeschaffen hat, rechtlich verpflichtet ist, den dadurch drohenden Schaden abzuwenden (vgl. BGH, Beschl. v. 13.11.1963 – 4 StR 267/63 - BGHSt 19, 152, 154; BGH, Urt. v. 26.6.1990 – 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 115; BGH, Urt. v. 19.12.1997 – 5 StR 569/96 - BGHSt 43, 381, 397; BGH, Urt. v. 9.5.2017 - 1 StR 265/16 Rn. 77).

Dabei ist es aber erforderlich, dass das vorangegangene Verhalten nicht nur gefahrschaffend oder -erhöhend, sondern zugleich pflichtwidrig war (vgl. nur BGH, Urt. v. 19.7.1973 – 4 StR 284/73 - BGHSt 25, 218, 221 f.; BGH, Urt. v. 6.5.1986 – 4 StR 150/86 - BGHSt 34, 82, 84; BGH, Urt. v. 26.6.1990 – 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 115; BGH, Urt. v. 19.12.1997 – 5 StR 569/96 - BGHSt 43, 381, 397;
BGH, Urt. v. 9.5.2017 - 1 StR 265/16 Rn. 78; vgl. auch Kudlich in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 3. Aufl., § 13 Rn. 24 mwN). Auch die Ingerenz ist nach dem Schutzzweck der die Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens begründenden Norm begrenzt. Dies führt dazu, dass nicht jedes pflichtwidrige und zusätzlich gefahrverursachende Verhalten zu einer Garantenpflicht führt, sondern dass stets auf die Umstände des Einzelfalls hinsichtlich der Pflichtverletzung sowie des später eintretenden Erfolgs und ihres Verhältnisses zueinander abzustellen ist (Kudlich aaO Rn. 25). Maßgeblich ist, ob die Pflichtwidrigkeit gerade in einer Verletzung eines solchen Gebots besteht, das dem Schutz des Rechtsguts zu dienen bestimmt ist (Pflichtwidrigkeitszusammenhang; vgl. BGH aaO BGHSt 37, 106, 115; vgl. dazu auch Merz in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 13 StGB, Rn. 29).

Beispiel: Welches Rechtsgut von den Korruptionstatbeständen im Einzelnen geschützt wird, ist zwar umstritten. Im Vordergrund steht bei den §§ 331 ff. StGB aber jedenfalls das Rechtsgut der Funktionsfähigkeit staatlicher Verwaltung und Rechtspflege sowie die Lauterkeit des öffentlichen Dienstes (vgl. Rosenau in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 3. Aufl., § 331 Rn. 6). Damit wird derjenige, der gegen diese Strafgesetze verstößt, nicht zum Garanten für die inhaltliche Richtigkeit der Steuererklärungen desjenigen, aus dessen Vermögen die Bestechungsgelder stammen. Dies gilt auch dann, wenn der Verstoß gegen die Strafnorm die Entstehung einer Steuer nach sich zieht oder etwa gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 10 EStG ein steuerliches Betriebsausgabenabzugsverbot zur Folge hat. Daran ändert sich auch nichts im Hinblick darauf, dass die Einführung dieses Abzugsverbots einen „Beitrag zur Bekämpfung der Korruption“ (vgl. BT-Drucks. 13/1686 S. 18) darstellen sollte. Steuerstrafrechtlich hat dies zur Folge, dass allein die Beteiligung an einer Bestechung keine Garantenstellung für die Erfüllung steuerlicher Pflichten des Bestechenden auslöst und damit die Nichtverhinderung oder -erschwerung der Steuerhinterziehung weder zu einer Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) noch zu einer Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 27 StGB) führt. Es kommt aber Steuerhinterziehung in mittelbarer Täterschaft (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB) in Betracht, wenn derjenige, der durch Bestechungshandlungen ein Betriebsausgabenabzug gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 10 EStG auslöst, infolge regelhafter Abläufe bei der Verbuchung von Rechnungen die Geltendmachung der Beträge als Betriebsausgaben herbeiführt, weil er den Steuerpflichtigen bzw. Erklärungspflichtigen nicht über die Gründe informiert, die zum Abzugsverbot geführt haben (vgl. BGH, Urt. v. 9.5.2017 - 1 StR 265/16 Rn. 80/81).

Hat der Angeklagte durch seine Beihilfe zur illegalen Einreise der Verstorbenen zwar ein gegen die Rechtsordnung verstoßendes Vorverhalten verwirklicht (vgl. Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rdn. 43 m.w.N.), genügt dies zur Annahme einer Garantenstellung allein noch nicht, weil es zu vermeiden gilt, durch eine zu weite Ausdehnung der an das vorangegangene Vorverhalten anknüpfenden Handlungspflicht die von der Rechtsordnung - gemäß Art. 2 Abs. 1 GG - geschützte Handlungsfreiheit in größerem Umfang aufzuheben (vgl. BGH, Urt. v. 4.12.2007 - 5 StR 324/07 - NStZ 2008, 276; NK-StGB Wohlers 2. Aufl. § 13 Rdn. 41).

Das Bestehen einer Garantenstellung aus vorangegangenem Verhalten setzt eine Pflichtwidrigkeit voraus (vgl. BGH, Urt. v. 23.9.1997- 1 StR 430/97 - NStZ 1998, 83; BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414; vgl. auch BGH, Urt. v. 6.7.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 115 - NJW 1990, 2560). Die Verletzung eines Angreifers in Notwehr macht daher in der Regel den Angegriffenen nicht zum Garanten für das Leben des Angreifers (vgl. BGH, Urt. v. 29.7.1970 - 2 StR 221/70, auszugsweise wiedergegeben in BGHSt 23, 327 - NJW 1970, 2252; vgl. auch Bringewat MDR 1971, 716, 717; insoweit auch zustimmend Maiwald JuS 1981, 473, 483). Ein Ausnahmefall kann vorliegen, wenn der Angreifer "zurechnungsunfähig oder sonst schuldlos ist" (vgl. BGH, Urt. v. 29.7.1970 - 2 StR 221/70 - BGHSt 23, 327, 328 - NJW 1970, 2252; BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414).


Pflichtwidriges Vorverhalten begründet nur dann eine Garantenstellung, wenn es die nahe Gefahr des Eintritts des konkreten tatbestandsmäßigen Erfolges verursacht (vgl. BGHR StGB § 13 Abs. 1  Garantenstellung 14; BGH, Urt. v. 25.9.1991 - 3 StR 95/91 - NJW 1992, 1246, 1247; BGH, Urt. v. 23.9.1997 - 1 StR 430/97 - BGHR StGB § 13 Abs. 1 Garantenstellung 14 - NStZ 1998, 83, 84; BGH, Urt. v. 24.9.1998 - 4 StR 272/98 - NJW 1999, 69, 71 f. m.w.N.; BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414; BGH, Urt. v. 19.4.2000 - 3 StR 442/99 - NJW 2000, 2754; BGH, Urt. v. 17.7.2009 - 5 StR 394/08 Rn. 21 - BGHSt 54, 44, 47 - NJW 2008, 3173; BGH, Urt. v. 12.8.2009 - 2 StR 262/09; BGH, Beschl. v. 18.8.2009 - 1 StR 107/09- NStZ-RR 2009, 366; BGH, Beschl. v. 14.2.2012 - 3 StR 446/11; BGH, Beschl. v. 29.11.2012 - 3 StR 293/12; BGH, Beschl. v. 4.6.2013 - 2 StR 4/13; BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13; Fischer StGB 59. Aufl. § 13 Rdn. 27). Der durch die Vorhandlung herbeigeführte Zustand muss so beschaffen sein, dass bereits ein bloßes Untätigbleiben die Gefahr vergrößert, dass es zum Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges kommt oder ein bereits eingetretener Schaden vertieft wird (vgl. BGH, Urt. v. 3.10.1989 – 1 StR 372/89 - BGHSt 36, 255, 258; BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13; Stree/Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 13 Rn. 39, 42).

Dies kann etwa der Fall sein bei der Beteiligung an Misshandlungen und der anschließenden Tötung des Opfers durch einen anderen Mittäter, wenn das vorausgegangene Verhalten eine Gefahrerhöhung für das Opfer dadurch bewirkte, dass der Täter in seinem zum Tode führenden Vorgehen bestärkt wurde (vgl. BGHR StGB § 13 Abs. 1 Garantenstellung 7; BGH, Beschl. v. 14.2.2012 - 3 StR 446/11; siehe auch nachstehend Rdn. 20.1.1). Das ist ferner bei der Beteiligung an Gewaltdelikten zwar im Hinblick auf weitere Gewalteinwirkungen bis hin zur Tötung durch andere Beteiligte häufig der Fall (vgl. BGH Beschl. v. 15.4.1997 - 4 StR 116/97 - NStZ-RR 1997, 292 m.w.N.), bei anders gearteten Folgetaten jedoch nicht. So begründet etwa die gemeinschaftliche Planung eines Raubes keine in diesem Sinne nahe Gefahr der Vergewaltigung des Opfers durch andere Täter (vgl. BGH Beschl. v. 15.4.1997 - 4 StR 116/97 - NStZ-RR 1997, 292). Dementsprechend kann es erheblichen Zweifeln unterliegen, ob der gemeinschaftliche Raub als Vorverhalten die nahe Gefahr gerade des tatbestandlichen Erfolgs eines Brandstiftungsdelikts herbeigeführt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 29.11.2012 - 3 StR 293/12).

Beispiel: Dass die gemeinschaftliche Planung eines Raubes mit Fesselung und Knebelung des Tatopfers die nahe Gefahr der Ermordung des Opfers infolge Erwürgens durch den Mittäter herbeigeführt hat, erscheint nicht selbstverständlich. Insoweit bedarf es der Auseinandersetzung mit der Frage, ob ein Exzess eines Mittäters gegeben sein könnte, der nicht durch das Vorverhalten des Angeklagten bestärkt worden ist und wofür der Angeklagte deshalb nicht als Ingerent haftet (vgl. BGH, Beschl. v. 14.2.2012 - 3 StR 446/11; BGH NStZ-RR 1997, 292; Schönke/Schröder/Stree/Bosch StGB 28. Aufl. § 13 Rdn. 35a).

Beispiel: Wenn ausdrücklich abgemacht ist, dass der Einbruch sofort abgebrochen wird, wenn der Wohnungsinhaber anwesend ist, begründet dies nicht die nahe liegende Gefahr, dass der Wohnungsinhaber (beraubt und) gefesselt zurückbleibt, so dass - unbeschadet einer etwaigen Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung - die unterbliebene Befreiung des Opfers von dem nicht am Tatort anwesenden Beteiligten, der nach der Tatbegehung von der Fesselung des Opfers erfährt, nicht zu einer Garantenstellung führt (vgl. BGH, Beschl. v. 18.8.2009 - 1 StR 107/09 - NStZ-RR 2009, 366).


  siehe auch:  § 239 StGB, Freiheitsberaubung

Weiter muß bei den Erfolgsdelikten zur sachgemäßen Begrenzung der objektiven Zurechenbarkeit der Erfolg seinen Grund gerade in der objektiven Pflichtverletzung haben (BGH, Urt. v. 19.4.2000 - 3 StR 442/99 - NJW 2000, 2754). War dem Angeklagten der Erfolg der Exzesshandlungen anderer nicht zuzurechnen, so kann aus diesen nicht seine Garantenstellung für die Nichtabwendung des späteren Todeseintritts abgeleitet werden (BGH, Urt. v. 23.9.1997 - 1 StR 430/97 - NStZ 1998, 83, 84; BGH, Urt. v. 24.9.1998 - 4 StR 272/98 - NJW 1999, 69, 71 f.; BGH, Beschl. v. 23.5.2000 - 4 StR 157/00 - NStZ 2000, 583; vgl. auch BGH, Beschl. v. 4.6.2013 - 2 StR 4/13). Auch eine (gefährliche) Körperverletzung, die - etwa fiktiv - keinerlei Gefahr für das Leben des Opfers bewirkt, löst keine Garantenstellung aus (vgl. BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414).

Aus der bloßen Ursächlichkeit eines Verhaltens für einen späteren Erfolgseintritt kann sich eine Garantenstellung aus vorangegangenem gefährdenden Tun nicht ergeben; erforderlich ist vielmehr, dass das Vorverhalten die nahe Gefahr des Eintritts gerade des tatbestandsmäßigen Erfolges herbeigeführt hat (BGH, Beschl. v. 15.4.1997 - 4 StR 116/97 - NStZ-RR 1997, 292 f.; BGH, Beschl. v. 20.9.2016 - 3 StR 174/16 Rn. 13).


Zur Annahme einer Garantenstellung ist es erforderlich, dass der Täter durch sein Vorverhalten über die bloße Erfolgsursächlichkeit und Pflichtwidrigkeit hinaus die nahe Gefahr für den Schadenseintritt geschaffen hat (vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 115 f.; BGHR StGB § 13 Abs. 1 Garantenstellung 7; BGHR StGB § 27 Abs. 1 Unterlassen 3), was bei der Missachtung einer Vorschrift angenommen wird, die dem Schutz des betroffenen Rechtsguts dient (vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 115 f.; BGH, Urt. v. 4.12.2007 - 5 StR 324/07 - NStZ 2008, 276; Stree in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 13 Rdn. 35a; Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 2  S. 770 Rdn. 171). Dazu zählt der Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG i.V.m. § 27 Abs. 1 StGB nicht. Aus der in der Vorschrift des § 1 Abs. 1 AufenthG niedergelegten Zweckbestimmung des Aufenthaltsgesetzes folgt, dass dieses Gesetz keine Individualrechtsgüter schützt. Der insoweit verwirklichte Gesetzesverstoß kann demnach keine Garantenstellung für das Leben der illegal eingereisten Mitreisenden begründen (vgl. BGH, Urt. v. 4.12.2007 - 5 StR 324/07 - NStZ 2008, 276).

Zur Garantenstellung aus schädigendem Vorverhalten im Zusammenhang mit Alkoholisierung während der Schwangerschaft siehe unten Rdn. 25.6.1


Der 4. Strafsenat hat in BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13 offen gelassen, ob ein vorsätzliches Vorverhalten, das auf denselben Erfolg gerichtet ist wie das nachfolgende Unterlassen, überhaupt eine Garantenstellung aus Ingerenz zu begründen vermag (verneinend BGH, Urt. v. 24.10.1995 – 1 StR 465/95 - BGHR StGB § 221 Konkurrenzen 1; offen gelassen in BGH, Urt. v. 12.12.2002 – 4 StR 297/02 - BGHR StGB § 211 Abs. 2 Verdeckung 15; aA das überwiegende Schrifttum, vgl. MüKoStGB/Freund, 2. Aufl., § 13 Rn. 130; SSW-StGB/Kudlich, § 13 Rn. 22; Stein, JR 1999, 265). 




- Gefahrerhöhendes Vorverhalten

20.1.1
Beteiligen sich mehrere an für sich gesehen noch nicht lebensgefährlichen Misshandlungen eines Opfers und zielen die weiteren Tathandlungen eines Tatgenossen auf die Tötung des Opfers ab, so kann ein lediglich zuvor an den Gewalttätigkeiten Beteiligter nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs rechtlich als Garant mit der Folge der Verpflichtung zur Abwendung des drohenden Tötungserfolges anzusehen sein (BGH, Urt. v. 12.9.1984 - 3 StR 245/84 - NStZ 1985, 24; BGH, Urt. v. 24.9.1998 - 4 StR 272/98 - NJW 1999, 69, 71 f.; BGHR StGB § 13 Abs. 1 Garantenstellung 7), wenn durch sein Vorverhalten die nahe Gefahr des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolges besteht (vgl. BGH, Urt. v. 23.9.1997 - 1 StR 430/97 - NStZ 1998, 83, 84). Dies kann dadurch bewirkt werden, dass der zur Tötung des Opfers bereite Tatgenosse durch die übrigen Tatbeteiligten in seinen, die Misshandlung des Opfers übersteigenden und nunmehr auf dessen Tötung gerichteten Handlungen bestärkt wird (BGHR StGB § 13 Abs. 1 Garantenstellung 7; BGH, Urt. v. 25.9.1991 - 3 StR 95/91 - NStZ 1992, 31; BGH NJW 1992,1246, BGH, Urt. v. 24.9.1998 - 4 StR 272/98  - NJW 1999, 69, 72  insoweit in BGHSt 44, 196 nicht abgedr.; BGH, Beschl. v. 23.5.2000 - 4 StR 157/00 - NStZ 2000, 583; BGH, Urt. v. 25.4.2001 - 3 StR 7/01; BGH, Urt. v. 6.3.2003 - 4 StR 493/02 - NStZ 2004, 294; BGH, Urt. v. 26.2.2009 - 5 StR 572/08 - NStZ 2009, 381; Lackner/Kühl StGB 24. Aufl. § 13 Rdn. 11; vgl. auch BGH, Urt. v. 10.3.2016 - 3 StR 450/15 zur grundsätzlich möglichen Annahme einer Garantenstellung des Angeklagten kraft Ingerenz deshalb, weil er durch sein Vorverhalten die nahe Gefahr eines Gewaltexzesses des jeweils anderen gegenüber der Nebenklägerin geschaffen haben kann (vgl. hierzu auch BGH, Urt. v. 26.2.2009 - 5 StR 572/08 - NStZ 2009, 381, 382 mwN).
 
Beispiel: In einem Zeitraum von nur zwei Wochen hat der Angeklagte gemeinsam mit einem Mithäftling nicht nur die abgeurteilten drei Straftaten zum Nachteil des Tatopfers begangen, sondern den Geschädigten auch darüber hinaus in vielfältiger Weise gedemütigt und ihn auf seine Bitte, dies zu unterlassen, ebenso wie der Mithäftling mit Fußtritten zu weiterem „Gehorsam“ gezwungen. Damit hat er dem Mithäftling zu verstehen gegeben, dass dieser sich bei weiteren Demütigungen und Misshandlungen vergleichbarer Art keine Hemmungen aufzuerlegen brauche, und die Gefahr weiterer Straftaten - zumal angesichts der Zellensituation - für das Opfer deutlich erhöht. Daher traf den Angeklagten grundsätzlich die Pflicht, weitere Straftaten des Mithäftlngs zum Nachteil des Geschädigten zu verhindern (vgl. BGH, Urt. v. 12.2.2009 - 4 StR 488/08 - NStZ 2009, 321).

Haben die Angeklagten für den Tod des Tatopfers nur deshalb einzustehen, weil sie vorsätzlich die ihnen mögliche Einleitung von Rettungsmaßnahmen unterlassen haben, kann ihnen vollendeter Mord nur dann angelastet werden, wenn ihr pflichtwidriges Unterlassen für den Tod zumindest mitursächlich geworden ist (vgl. BGH, Beschl. v. 23.5.2000 - 4 StR 157/00 - NStZ 2000, 583; BGHR StGB § 13 Abs. 1 Ursächlichkeit 2; BGH, Urt. v. 6.3.2003 - 4 StR 493/02 - NStZ 2004, 294).

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in einem Fall, in dem der Täter - nicht ausschließbar - das Opfer bereits im ersten Handlungsteil mit (bedingtem) Tötungsvorsatz mißhandelt hatte und es anschließend in hilfloser Lage zurückließ, eine Strafbarkeit wegen Aussetzung (§ 221 Abs. 1 2. Alt. StGB a.F.) mangels Vorliegens einer Garantenstellung verneint und dies damit begründet, daß der Täter, der vorsätzlich oder bedingt vorsätzlich einen Erfolg anstrebt oder billigend in Kauf nimmt, nicht zugleich verpflichtet sei, ihn abzuwenden. Bei einem vorsätzlichen Angriff auf menschliches Leben könne der Täter, wenn er sich später eines besseren besinne und - erfolgreich - Hilfe leiste, zwar zurücktreten und insoweit Strafbefreiung erlangen; eine rechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung bestehe jedoch nicht (vgl. BGH, Urt. v. 24.10.1995 - 1 StR 465/95 - BGHR StGB § 221 Konkurrenzen 1 - NStZ-RR 1996, 131; BGH, Urt. v. 12.12.2002 - 4 StR 297/02 - NStZ 2003, 312).

Zwar kann - jedenfalls soweit es Schutzpflichten betrifft - eine Garantenpflicht grundsätzlich auch durch tatsächliche Übernahme von einer Person begründet werden, die ihrerseits eine Garantenstellung hat (vgl. BGH, Urt. v. 31.1.2002 - 4 StR 289/01 - BGHSt 47, 224 f. - NJW 2002, 1887, 1888). Ob aber auch die Übernahme einer durch pflichtwidriges Vorverhalten begründeten Garantenpflicht möglich ist, erscheint fraglich (vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2002 - 4 StR 185/02).


Bei einer nur auf eine Körperverletzung gerichteten Vorstellung kommt eine Beteiligung am Tötungsdelikt des Täters durch Unterlassen in Betracht, wenn eine Garantenpflicht des Angeklagten zur Verhinderung der Tötungshandlung aufgrund vorausgegangenen gefährdenden Tuns bestand (vgl. BGH, Urt. v. 25.9.1991 - 3 StR 95/91 - NStZ 1992, 31; BGH, Urt. v. 23.9.1997 - 1 StR 430/97 - NStZ 1998, 83; BGH, Beschl. v. 15.4.1997- 4 StR 116/97 - StV 1998, 127; BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414; BGH, Urt. v. 21.3.2001 - 1 StR 19/01). 




- Unterlassungsdelikt

20.1.2
Auch die für ein Unterlassungsdelikt erforderliche Rechtspflicht zum Handeln kann sich aus "vorausgegangenem Tun" ergeben. Die insoweit rechtlich erforderliche Pflichtwidrigkeit kann etwa in dem - rechtswidrigen - Angriff des Angeklagten auf das Tatopfer liegen (BGH, Urt. v. 6.7.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 115 - NJW 1990, 2560; BGHR StGB § 13 Abs. 1 Garantenstellung 14 m.w.N.; BGH, Urt. v. 3.3.2000 - 2 StR 388/99 - StV 2000, 556). 




- Ingerenz bei Anstiftungs- und Beihilfehandlungen

20.1.5
Die Annahme einer Beihilfe durch Unterlassen auf der Grundlage einer Garantenstellung wegen der tatsächlichen Herbeiführung einer Gefahrenlage (Ingerenz) kann zu erörtern sein bei Äußerungen, die objektiv den Tatbestand der Anstiftung (§ 26 StGB) oder der (psychischen) Beihilfe (§ 27 StGB) erfüllen. Diese sind pflichtwidrig und daher grundsätzlich geeignet eine Garantenstellung zu begründen, insbesondere, wenn von einem sozialüblichen Verhalten in diesem Fall allein aufgrund des objektiven Pflichtverstoßes nicht mehr gesprochen werden kann (vgl.BGH, Urt. v. 13.12.2012 - 4 StR 271/12; BGH, Urt. v. 6.5.1986 – 4 StR 150/86 - BGHSt 34, 82, 84). 




Fallgruppen

25




[ Ehegatten ]

25.1
Hinsichtlich der Garantenpflicht unter Ehegatten ist unstreitig, dass Ehegatten bei bestehender Lebensgemeinschaft einander als Garanten zum Schutz verpflichtet sind, also jeweils dafür im Sinne des § 13 StGB einzustehen haben, dass dem anderen Teil kein Schaden zugefügt wird, der sich als "Erfolg" eines Straftatbestands darstellt (vgl. BGH, Urt. v. 24.7.2003 - 3 StR 153/03 - BGHSt 48, 301 - NJW 2003, 3212).

Ihren Ausgangspunkt muß die Beantwortung der Frage nach den strafrechtlichen Schutzpflichten unter Eheleuten bei § 1353 BGB nehmen. Dementsprechend kann die gegenseitige Beistandspflicht nicht etwa schon mit dem bloßen Auszug eines Ehegatten aus der Ehewohnung als solchem, also mit der bloßen räumlichen Trennung als beendet angesehen werden. Das Fehlen einer häuslichen Gemeinschaft muß - je nach den Umständen - nicht bedeuten, daß die eheliche Lebensgemeinschaft aufgegeben worden ist (vgl. BGH, Urt. v. 24.7.2003 - 3 StR 153/03 - BGHSt 48, 301 - NJW 2003, 3212; Palandt/Brudermüller, BGB 62. Aufl. § 1565 Rdn. 2).
 
L e i t s a t z: Die strafrechtliche Garantenpflicht unter Eheleuten endet, wenn sich ein Ehegatte vom anderen in der ernsthaften Absicht getrennt hat, die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wieder herzustellen.
BGH, Urteil vom 24. Juli 2003 - 3 StR 153/03 - BGHSt 48, 301 - NJW 2003, 3212).
 




[ Schulleiter ]

25.2
Schulleitern, Klassen- bzw. Vertrauenslehrern obliegt eine Garantenpflicht zum Schutz der ihnen anvertrauten Schüler. Diese verpflichtet sie, die Schüler im Schulbetrieb vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren (vgl. BGH VersR 1955, 742, 743; OLG Köln NJW 1986, 1947, 1948; BGH, Beschl. v. 26.7.2007 - 4 StR 240/07 - NStZ-RR 2008, 9). Sie sind deshalb gehalten, zumutbare Maßnahmen zur Verhinderung weiterer sexueller Übergriffe seines Kollegen zu treffen (vgl. BGH, Urt. v. 30.4.1997 - 2 StR 670/96 - BGHSt 43, 82, 87 - StV 1997, 526; BGH bei Holtz MDR 1982, 626; BGH MDR 1984, 274; BGH, Beschl. v. 26.7.2007 - 4 StR 240/07 - NStZ-RR 2008, 9).

Ein aktiv handelnder Täter, der etwa auf ein bereits totes, aber noch für lebend gehaltenes Opfer in Tötungsabsicht einsticht, begeht den untauglichen Versuch eines Totschlags. Entsprechendes gilt für einen Garanten, der seiner Pflicht, einen weiteren Angriff seines Mittäters auf das Leben des Opfers zu verhindern, nicht nachkommt. Er kann sich - je nach seinen Vorstellungen - wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht haben (vgl. zum Versuch eines unechten Unterlassungsdeliktes BGH, Urt. v. 22.9.1992 - 5 StR 379/92 - BGHSt 38, 356, 358 - NJW 1992, 3309; BGH, Urt. v. 1.6.2006 - 3 StR 77/06).
 




[ Anstaltsleiter einer JVA ]

25.3
Der Leiter einer Strafvollzugsanstalt ist verpflichtet, Straftaten seiner Gefangenen zu verhindern und  besitzt insoweit eine Garantenstellung (vgl. RGSt 53, 292 f.; BGH, Beschl. v. 3.2.2004 - 5 ARs (Vollz) 78/03  - wistra 2004, 234; Verrel GA 2003, 595, 598; Rudolphi NStZ 1991, 361, 365 a. E.; Wagner in Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Staatsanwaltschaft Schleswig-Holstein 1992, 511, 513; Freund in MünchKommStGB § 13 Rdn. 141).  




[ Leiter der Innenrevision einer Anstalt des öffentlichen Rechts ]

25.4
L E I T S A T Z    Den Leiter der Innenrevision einer Anstalt des öffentlichen Rechts kann eine Garantenpflicht treffen, betrügerische Abrechnungen zu unterbinden (BGH, Urt. v. 17.7.2009 - 5 StR 394/08 - Ls. - BGHSt 54, 44 - NJW 2008, 3173).




[ Ärzte ]

25.5
L E I T S A T Z    Zur Garantenstellung des Stellvertreters des Leiters eines Universitätsinstituts für Blutgerinnungswesen und Transfusionsmedizin (mit Blutbank) (BGH, Urt. v. 19.4.2000 - 3 StR 442/99 - Ls. - NJW 2000, 2754).

Bei der Beurteilung der Frage einer Sorgfaltspflichtverletzung sind an das Maß der ärztlichen Sorgfalt hohe Anforderungen zu stellen. Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt ergeben sich aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage "ex ante" an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und der sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind (vgl. Lackner/Kühl, StGB 23. Aufl. § 15 Rdn. 37). Für die Beurteilung ärztlichen Handelns gibt es kein "Ärzteprivileg", wonach die strafrechtliche Haftung sich etwa auf die Fälle grober Behandlungsfehler beschränkt (vgl. Ulsenheimer, MedR 1984, 161, 162; ders. MedR 1992, 127, 129). Maßgebend ist der Standard eines erfahrenen Facharztes, also das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem durchschnittlichen Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können. Da aus medizinischen Maßnahmen besonders ernste Folgen entstehen können und der Patient regelmäßig die Zweckmäßigkeit oder Fehlerhaftigkeit der Handlung nicht beurteilen kann, sind an das Maß der ärztlichen Sorgfalt hohe Anforderungen zu stellen (st. Rspr., vgl. BGH, Urt. v. 1.7.1954 - 3 StR 869/53 - BGHSt 6, 282, 288; BGH bei Dallinger, MDR 1972, 384, 385; BGH, Urt. v. 19.4.2000 - 3 StR 442/99 - NJW 2000, 2754; vgl. aus der Lit. etwa Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis 2. Aufl. Rdn. 18; Schroeder in LK 11. Aufl. § 16 Rdn. 197; Cramer in Schönke/ Schröder, StGB 25. Aufl. § 15 Rdn. 219).

Zur Garantenstellung eines Arztes unter dem Gesichtspunkt der Übernahme der Verantwortung vgl. BGH NJW 1979, 1258
 




[ Eltern ]

25.6
vgl. etwa zur Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen in Beschützergarantenstellung: BGH, Beschl. v. 29.10.2002 - 4 StR 281/02 - NJW 2003, 1057; BGH, Urt. v. 3.7.2003 - 4 StR 190/03 - NStZ 2004, 94

 siehe auch: 
§ 24 StGB  -Rdn. 15.2.3 - Rücktritt des Unterlassungstäters § 225 StGB Rdn.  15.1 - Unterlassungstaten 




- Mutter

25.6.1
Die Mutter trifft vom Einsetzen der Geburtswehen an (vgl. BGH, Urt. v. 12.11.2009 - 4 StR 227/09 - NStZ 2010, 214; Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rdn. 26) die Verpflichtung, diejenigen Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um das Leben ihres Kindes zu erhalten (vgl. BGH, Urt. v. 14.6.1955 - 2 StR 102/55; BGH, Urt. v. 29.4.1969 - 1 StR 49/69 - GA 1970, 86; BGH, Urt. v. 12.11.2009 - 4 StR 227/09 - NStZ 2010, 214).

Der Bundesgerichtshof konnte dahinstehen lassen, ob eine werdende Mutter stets verpflichtet ist, sich für die Geburt fremder Hilfe zu vergewissern. Die Annahme einer solchen Handlungsverpflichtung ohne Bezug zu einer konkreten, mit der Geburt einhergehenden Gefahr erscheint sehr weit gehend. Eine Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Hilfe bei der Geburt wird aber immer dann anzunehmen sein, wenn es für die Schwangere im Hinblick auf bekannte Vorerkrankungen oder sonstige Risiken absehbar ist, dass bei der Geburt Gefahren für Leib oder Leben des Kindes entstehen können (vgl. BGH, Urt. v. 12.11.2009 - 4 StR 227/09 - NStZ 2010, 214).

Die Garantenstellung der Angeklagten kann sich nicht nur aus ihrer Eigenschaft als Mutter, sondern auch aus schädigendem Vorverhalten ergeben, wenn der Angeklagten bewusst war, dass wegen ihres erheblichen und regelmäßigen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft und der weiteren Alkoholaufnahme unmittelbar vor der Geburt besondere gesundheitliche Risiken für das Kind bestanden (vgl. BGH, Urt. v. 12.11.2009 - 4 StR 227/09 - NStZ 2010, 214).




[ Gemeinschaftszugehörigkeit u. Hilfszusagen ]

25.7
Die bloße Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft begründet noch keine gegenseitigen Hilfspflichten. Dafür ist vielmehr die Übernahme einer Schutzfunktion gegenüber einem Hilfsbedürftigen aus dieser Gruppe vonnöten (vgl. BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77, 91 - NJW 2003, 522; BGH, Urt. v. 7.11.1986 - 2 StR 494/86 - NJW 1987, 850 f.; BGH, Urt. v. 4.12.2007 - 5 StR 324/07 - NStZ 2008, 276; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 2 S. 730 Rdn. 57). Eine Hilfszusage geht an sich über die Erfüllung der allgemeinen Hilfspflicht gemäß § 323c StGB hinaus (vgl. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 2 S. 731 Rdn. 61). Steht hingegen die Erfüllung dieser Pflicht unter der - vom Angeklagten nicht beeinflussbaren - aufschiebenden Bedingung des Eingreifens eines weiteren Hilfswilligen und lehnt dieser ab, endet die vom Angeklagten gemachte Hilfszusage. Bei dieser Sachlage konnte sich aus der einmal zugesagten Hilfe auch keine fortwirkende Pflicht zur Vornahme einer weiteren Hilfsmaßnahme ergeben (vgl. Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rdn. 35; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. 2 S. 733 Rdn. 68). Der Angeklagte blieb demnach lediglich angehalten, seine allgemeine, sich aus § 323c StGB ergebende Hilfspflicht zu erfüllen (vgl. BGH, Urt. v. 4.12.2007 - 5 StR 324/07 - NStZ 2008, 276).




[ Wohnungsinhaber ]

25.8
Nach der Rechtsprechung hat der Inhaber einer Wohnung oder sonstiger Räume nur dann für in diesen Räumen begangene Rechtsgutverletzungen strafrechtlich einzustehen, wenn besondere Umstände hinzutreten, die eine Rechtspflicht zum Handeln begründen (BGH, Urt. v. 24.2.1982 - 3 StR 34/82 - BGHSt 30, 391, 395 f. - NStZ 1982, 245; BGH, Urt. v. 25.4.2001 - 3 StR 7/01).

Solche Umstände sind in der Stellung als Haushaltsvorstand gegenüber der Täterin einer Kindestötung (RGSt 72, 373; BGHSt 1, 87), in der Stellung als Ehemann einer Abtreiberin (BGH LM Nr. 5 zu § 47 StGB a.F. = NJW 1953, 591; BGH GA 1967, 115), ferner in dem Betreiben einer Gaststätte (RGSt 58, 299; BGH NJW 1966, 1763; abw. BGH GA 1971, 336, wo in einem ähnlich gelagerten Fall nur auf den rechtlichen Gesichtspunkt der unterlassenen Hilfeleistung abgehoben wird) und, in dem Fall BGH, Urt. v. 6.10.1976 - 3 StR 202/76 - BGHSt 27, 10, dem die Aufnahme des Opfers in den Schutzbereich der Wohnung zugrunde lag.

Eine Garantenpflicht des Wohnungsinhabers kann sich auch dann ergeben, wenn die Wohnung wegen ihrer besonderen Beschaffenheit oder Lage eine Gefahrenquelle darstellt, die er so zu sichern und zu überwachen hat, daß sie nicht zum Mittel für die leichtere Ausführung von Straftaten gemacht werden kann (BGH, Urt. v. 24.2.1982 - 3 StR 34/82 - BGHSt 30, 391, 395 f. - NStZ 1982, 245 m.w.N.; BGH, Urt. v. 25.4.2001 - 3 StR 7/01).
 




[ Vertrag ]

25.9
Vertragliche Pflichten aus gegenseitigen Rechtsgeschäften reichen nicht ohne weiteres zur Begründung einer strafbewehrten Garantenpflicht aus (BGH, Urt. v. 16.11.1993 - 4 StR 648/93 - BGHSt 39, 392, 399 - NJW 1994, 950; BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087). Im Rahmen vertraglicher Beziehungen setzt eine strafrechtlich relevante Aufklärungspflicht voraus, daß besondere Umstände vorliegen wie etwa ein besonderes Vertrauensverhältnis oder eine ständige Geschäftsverbindung - Situationen, in denen der eine darauf angewiesen ist, daß ihm der andere die für seine Entschließung maßgebenden Umstände offenbart (BGH GA 1967, 94 f.; BGH wistra 1988, 262 f.; BGH, Urt. v. 25.7.2000 - 1 StR 162/00 - wistra 2000, 419; BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087 m.w.N.; ebenso Lackner in LK 10. Aufl. § 263 Rdn. 63 sowie Cramer/Perron in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 263 Rdn. 22 f.; zur Gefahrerhöhung durch Verschweigen anderweitiger Unfallversicherungen vgl. BGH, Urt. v. 23.1.1985- 1 StR 691/84 - NJW 1985, 1563 f.).

Im Rahmen der Privatautonomie kann durch ausdrückliche Vereinbarung eine Vertragsbeziehung so ausgestaltet werden, daß - über das allgemeine Vertragsverhältnis hinaus - ein besonderes Vertrauensverhältnis mit Garantenstellung des Vertragspartners geschaffen wird, das dann auch strafrechtlich relevant wird (BGH, Urt. v. 16.11.1993 - 4 StR 648/93 - BGHSt 39, 392 ff. - NJW 1994, 950; Maaß Betrug verübt durch Schweigen [1982] S. 94). Das Bestehen vertraglicher Beziehungen reicht für sich betrachtet nicht aus, eine Garantenpflicht zu begründen. Hinzutreten muss ein durch das Vertragsverhältnis vermitteltes besonderes Vertrauensverhältnis (BGH, Urt. v. 16.11.1993 - 4 StR 648/93 - BGHSt 39, 392 ff. - NJW 1994, 950; BGH, Beschl. v. 8.11.2000 - 5 StR 433/00 - BGHSt 46, 196 ff. - NJW 2001, 453).


Beispiel: Die Unterhaltung eines Girokontos begründet in aller Regel noch keine über das bloße Vertragsverhältnis hinausgehende Vertrauensbeziehung gegenüber der Bank (BGH, Urt. v. 16.11.1993 - 4 StR 648/93 - BGHSt 39, 392, 399 - NJW 1994, 950; BGH, Beschl. v. 8.11.2000 - 5 StR 433/00 - BGHSt 46, 196 ff. - NJW 2001, 453; OLG Köln NJW 1961, 1735, 1736 m. Anm. Schröder JR 1961, 434 f.; LG Bremen JZ 1967, 370, 371; Joecks JA 1979, 390, 391).

L e i t s a t z - StGB § 13 Abs. 1 StGB § 263 RVG § 4a Abs. 2 Nr. 1
§ 4a Abs. 2 Nr. 1 RVG begründet kraft Gesetzes eine Garantenstellung des Rechtsanwalts, der vor Abschluss einer Erfolgshonorarvereinbarung seinen Mandanten über die voraussichtliche gesetzliche Vergütung aufzuklären hat (BGH, Urt. v. 25.9.2014 – 4 StR 586/13 - Ls.).




[ Fürsorgepflicht des Arbeitgebers ]

25.10
Kommt es bei der Explosion eines mit Sondermüll gefüllten Fasses zur Tötung des mit der Entsorgung befassten Mitarbeiters, kann eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen dadurch in Betracht kommen, dass der zuständige technische Leiter vorschriftswidrig gepackte Fässer anliefern und durch Arbeitnehmer der Entsorgungsfirma entgegennehmen ließ, ohne auf die Einhaltung der Beförderungs- und Verpackungsvorschriften der Entsorgunsfirma zu dringen. Indem er die Arbeitnehmer auf diese Weise in Gefahr brachte, verletzte er die ihm obliegende Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gemäß §§ 618 Abs. 1 BGB, 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dabei handelt es sich um eine Garantenpflicht im Sinne des § 13 StGB (vgl. BGH, Urt. v. 25.6.2009 - 4 StR 610/08 betr. gemeinsame Spraydosen- und Feuerzeugentsorgung ohne Zugabe von sicherndem Füllstoff; vgl. auch OLG Naumburg NStZ-RR 1996, 229, 230 ff.).




[ Faktische Auftragsübernahme ]

25.11
Die Garantenstellung kann nicht nur durch Vertrag, sondern auch durch die tatsächliche Übernahme eines  erteilten Auftrages begründet werden (vgl. BGH VRS 17, 424, 428; BGH, Urt. v. 31.1.2002 - 4 StR 289/01 - BGHSt 47, 224 - NJW 2002, 1887; OLG Celle NJW 1961, 1939, 1940; Stree in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 13 Rdn. 26; Jescheck in LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 27). Insoweit ist ohne Bedeutung, ob die Angeklagten arbeitsvertraglich verpflichtet waren, eine solche Schutzfunktion zu übernehmen. Maßgebend für die Begründung einer Garantenstellung ist allein die tatsächliche Übernahme des Pflichtenkreises, nicht (auch) das Bestehen einer entsprechenden vertraglichen Verpflichtung (vgl. BGH, Urt. v. 31.1.2002 - 4 StR 289/01 - BGHSt 47, 224 - NJW 2002, 1887).

Scheidet die Beendigung der Garantenstellung durch eine den ursprünglichen Auftrag ganz oder teilweise zurücknehmende Weisung des Auftraggebers aus, finden die sich aus der Garantenstellung ergebenden Garantenpflichten ihr Ende erst dann, wenn der Garant die übernommene Schutzaufgabe vollständig erfüllt hat (vgl. Rudolphi in SK-StGB § 13 Rdn. 63; Stree in FS für Hellmuth Mayer, 1966, S. 145, 161 f.). Die Mitübernahme der Pflichten der ursprünglichen Garanten durch Dritte läßt die Garantenstellung der bisherigen Garanten grundsätzlich unberührt (vgl. BGH, Urt. v. 31.1.2002 - 4 StR 289/01 - BGHSt 47, 224 - NJW 2002, 1887; zum Fortbestehen von Sicherungspflichten der ursprünglichen Garanten bei Übernahme von Sicherungspflichten durch eine weitere Person vgl. BGH VRS 17, 424, 427 f.).


Erfolgt die - auch konkludent mögliche - Mitübernahme einer Pflicht gegenüber Personen, die ihrerseits Garanten sind, so rückt der Übernehmende in vollem Umfang in die Garantenstellung ein (Stree aaO Rdn. 26, 30). Allerdings reicht hierfür nicht jedes allgemein gehaltene, ersichtlich unverbindliche Hilfsangebot aus. Erforderlich ist vielmehr, daß durch die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben in zurechenbarer Weise das Vertrauen der übrigen Garanten in die verantwortliche Mitwirkung des Hilfswilligen bei der Gefahrabwendung begründet wird (vgl.  BGH, Urt. v. 22.6.1993 - 1 StR 264/93 - NJW 1993, 2628, 2629; BGH, Urt. v. 31.1.2002 - 4 StR 289/01 - BGHSt 47, 224 - NJW 2002, 1887; Stree in FS für Hellmuth Mayer, 1966, S. 145, 155 f., 158).

Zum umfassenden Vertrauensschutz in die ordnungsgemäße Erfüllung der von einem anderen arbeitsteilig übernommenen Aufgabe, wie er insbesondere im Bereich der ärztlichen Heilbehandlung für Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen und damit klar abgegrenzter Aufgaben anerkannt ist vgl. BGH NJW 1980, 650; Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 15 Rdn. 151; Schroeder in LK 11. Aufl. § 16 Rdn. 176)
 
Die arbeitsvertragliche Übernahme der Wartungspflicht begründet zugleich auch eine Schutzfunktion gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, die in den durch unzureichende Wartung begründeten Gefahrenbereich der seiner Aufsicht unterliegenden Firmenfahrzeuge geraten (vgl. BGH, Urt. v. 31.1.2002 - 4 StR 289/01 - BGHSt 47, 224, 229 - NJW 2002, 1887; BGH, Beschl. v. 6.3.2008 - 4 StR 669/07 - NJW 2008, 1897).


L E I T S A T Z    Zur Garantenstellung und Garantenpflicht des Mitarbeiters einer Kfz-Werkstatt in Bezug auf Gefahren, die aus technischen Mängeln eines seiner Kontrolle unterliegenden Fahrzeugs bei dessen Betrieb erwachsen [im Anschluss an BGHSt 47, 224] (BGH, Beschl. v. 6.3.2008 - 4 StR 669/07 - Ls. - NJW 2008, 1897).




[ Überwachungs- und Beschützergaranten ]

25.12
Es wird ferner unterschieden zwischen solchen Garantenpflichten einerseits, die daraus resultieren, daß der Garant eine Schutzpflicht für bestimmte Rechtsgüter hat, und andererseits solchen Garantenpflichten, die sich aus der Pflicht zur Überwachung bestimmter Gefahrenquellen ergeben (vgl. BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77 - NJW 2003, 522; Jescheck in LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 19 ff.; Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 13 Rdn. 9 ff.; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 13 Rdn. 5b, 5c; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT Teilbd. 2, 7. Aufl. S. 197 ff.; ähnlich Jakobs, Strafrecht AT 2. Aufl. S. 800 ff.).

Auch aus der tatsächlichen Gewährsübernahme kann eine Garantenstellung folgen (vgl. etwa BGH, Urt. v. 12.8.2009 - 2 StR 262/09).

Die - vom Tatgericht nicht näher festgestellte - übergeordnete Position des Angeklagten in einer unstrukturierten Zufallsgemeinschaft von Trinkgenossen macht den Angeklagten nicht zum Überwachungsgaranten (vgl. BGH, Urt. v. 23.5.2007 - 5 StR 97/07). Der Angeklagte kann nicht nur deshalb als Beschützergarant angesehen werden, weil er das Opfer schon aus seiner Schulzeit gekannt hatte (vgl. BGH, Urt. v. 23.5.2007 - 5 StR 97/07; Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 13 Rdn. 19 f.).




[ Rettungssanitäter ]

25.13
Rettungssanitäter haben gegenüber einem zu versorgenden Verletzten eine Garantenstellung, die von der Pflicht bestimmt ist, ihn vor weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu bewahren. Entstehungsgrund der Garantenstellung ist insoweit die tatsächliche Übernahme der Gewähr für das Rechtsgut Gesundheit (vgl. BGH, Beschl. v. 25.4.2001 - 1 StR 130/01; Tröndle/Fischer StGB 50. Aufl. § 13 Rdn. 9).




[ SED-Unrecht ]

25.14
L E I T S A T Z    Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen Unterlassens von Mitgliedern des Politbüros des Zentralkomitees der SED für vorsätzliche Tötungen von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR (im Anschluß an BGHSt 40, 218 und 45, 270) (BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - Ls. - BGHSt 48, 77 - NJW 2003, 522).




[ Garantenhaftung des Betriebsinhabers bzw. Vorgesetzten
]

25.15
Leitsatz:   Aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter kann sich eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes – unabhängig von den tatsächlichen Umständen, die im Einzelfall für die Begründung der Garantenstellung maßgebend sind – auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten und umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht (BGH, Urt. v. 20.10.2011 – 4 StR 71/11 - Ls.).

Zwar kann sich aus der Stellung als Betriebsinhaber bzw. Vorgesetzter je nach den Umständen des einzelnen Falles eine Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter ergeben. Diese beschränkt sich indes auf die Verhinderung betriebsbezogener Straftaten und umfasst nicht solche Taten, die der Mitarbeiter lediglich bei Gelegenheit seiner Tätigkeit im Betrieb begeht (vgl. RGSt 58, 130; BGH, Urt. v. 17.7.2009 – 5 StR 394/08 - BGHSt 54, 44 mit Besprechung Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 918; BGH, Urt. v. 20.10.2011 - 4 StR 71/11; vgl. auch BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106; OLG Karlsruhe, GA 1971, 281; Weigend, in LK-StGB, 12. Aufl., § 13, Rn. 56; Stree/Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 13, Rn. 53; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 13, Rn. 14; Wohlers in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 3. Aufl., § 13, Rn. 53; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 13, Rn. 37 f.; Roxin, Strafrecht AT II, § 32 Rn. 134 ff; Schünemann, wistra 1982, 41; Schall, FS Rudolphi, S. 267; Rogall, ZStW 98, 573, 618; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl., Rn. 183 ff.; gegen eine Garantenstellung des Geschäftsherrn wegen des Grundsatzes der Eigenverantwortlichkeit SK-Rudolphi, StGB, § 13, Rn. 32 ff.; Otto, Jura 1998, 409, 413; Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, S. 116 ff.). Betriebsbezogen ist eine Tat dann, wenn sie einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Begehungstäters oder mit der Art des Betriebes aufweist (vgl. BGH, Urt. v. 20.10.2011 - 4 StR 71/11; Spring, Die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung, 2009, S. 137, mwN; Roxin, aaO, Rn. 141; Weigend, aaO; enger Rogall, aaO, S. 618 f.; Schünemann, aaO S. 45).

 
Die Beschränkung der Garantenhaftung des Betriebsinhabers auf betriebsbezogene Taten ist unabhängig davon geboten, welche tatsächlichen Umstände für die Begründung der Garantenstellung im Einzelfall maßgebend sind (vgl. Schünemann, aaO S. 45; Rogall, aaO, 616; [Autoritätsstellung]; Roxin, aaO, § 32, Rn. 137; Schall, aaO, S. 277 ff.; Weigend, aaO; Stree/Bosch, aaO [Herrschaft über den Betrieb als Gefahrenquelle]; zur Begründung der Garantenstellung des Geschäftsherrn i.Ü. vgl. Spring, aaO, S. 124 ff.). Weder mit einem auf dem Arbeitsverhältnis beruhenden Weisungsrecht gegenüber Mitarbeitern noch mit der Herrschaft über die „Gefahrenquelle Betrieb“ (Schall, aaO, S. 279) oder unter einem anderen Gesichtspunkt lässt sich eine über die allgemeine Handlungspflicht hinausgehende, besondere Verpflichtung des Betriebsinhabers begründen, auch solche Taten von voll verantwortlich handelnden Angestellten zu verhindern, die nicht Ausfluss seinem Betrieb oder dem Tätigkeitsfeld seiner Mitarbeiter spezifisch anhaftender Gefahren sind, sondern die sich außerhalb seines Betriebes genauso ereignen könnten (BGH, Urt. v. 20.10.2011 - 4 StR 71/11; vgl. OLG Karlsruhe, GA 1971, 281, 283; Roxin, aaO, Rn. 139, 141).




[ Garantenstellung alkoholisierter Kraftfahrer nach Verkehrsunfällen
]

25.20
Für die Frage, ob die Pflichtwidrigkeit des Angeklagten für den Unfall ursächlich geworden ist nicht auf den Vergleich mit einem vorschriftsgemäß am Straßenverkehr teilnehmenden Autofahrer abzustellen (vgl. hierzu § 229 StGB Rdn. 30). Liegt nahe, dass der Angeklagte angesichts seines alkoholisierten Zustands zu schnell gefahren ist und dadurch pflichtwidrig den Unfall oder jedenfalls schwerere Verletzungen des Nebenklägers verursacht hat, ist ohne weiteres eine Garantenstellung des Angeklagten gegeben (vgl. BGH, Urt. v. 6.12.2012 - 4 StR 369/12; für den schuldlosen Kraftfahrer BGH, Urt. v. 6.5.1986 – 4 StR 150/86 - BGHSt 34, 82 m. Anm. Rudolphi, JR 1987, 162, und Herzberg, JZ 1986, 986; vgl. auch MünchKommStGB/Freund, 2. Aufl., § 13 Rn. 126).




[ Dienstgruppenleiter der Polizei ]

25.25
Trug der Angeklagte als Dienstgruppenleiter am betreffenden Tag die Verantwortung dafür, dass die zulässige Dauer der Freiheitsentziehung nicht überschritten wird (Nummer 33.2. PGO) und der Gewahrsam "ordnungsgemäß" vollzogen wird (Nummer 2.1. Satz 4 PGO), oblag es ihm dementsprechend auch, dafür Sorge zu tragen, dass in den ihm bekannten Gewahrsamsfällen die der Polizei zugeordneten Voraussetzungen der gesetzesgemäßen Fortdauer einer Ingewahrsamnahme gewahrt und erfüllt werden bzw. bleiben. Insoweit ist er als Garant für den Schutz des Ingewahrsamgenommenen vor rechtswidriger Freiheitsentziehung anzusehen, als deren Rechtmäßigkeit von Handlungen oder Unterlassungen abhing, die ihm oblagen oder für die er die Verantwortung trug (vgl. BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13).

Als sogenanntem "Beschützergaranten" (vgl. BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77, 82 ff., 91 f. mwN) oblag dem Angeklagten eine Erfolgsabwendungspflicht, hier mithin die Pflicht, die unverzügliche Vorführung beim zuständigen Richter zu veranlassen bzw.  unverzüglich dessen Entscheidung über die Fortdauer des Gewahrsams herbeizuführen (vgl. BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13).




Erfolgsabwendungspflicht

30
In welchem Umfang die Erfolgsabwendungspflicht besteht, bestimmt sich nach dem Grad der Gefahr. Die Anforderungen an den für die Gefahrenquelle Zuständigen sind umso höher, je größer bei erkennbarer Gefährlichkeit einer Handlung die Schadenswahrscheinlichkeit und Schadensintensität sind (BGH, Urt. v. 13.11.2008 – 4 StR 252/08 - BGHSt 53, 38, 42 Rn. 16 mwN; BGH, Beschl. v. 5.8.2015 - 1 StR 328/15).

Leitsatz: Eine bewusste Selbstgefährdung lässt grundsätzlich die Erfolgsabwendungspflicht des eintrittspflichtigen Garanten nicht entfallen, wenn sich das allein auf Selbstgefährdung angelegte Geschehen erwartungswidrig in Richtung auf den Verlust des Rechtsguts entwickelt (BGH, Beschl. v. 5.8.2015 - 1 StR 328/15 - Ls.).

Der Bundesgerichtshof hat bereits entschieden, dass die Erfolgsabwendungspflicht eines Garanten nicht entfällt, wenn sein Verhalten zunächst lediglich eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung derjenigen Person ermöglicht, für dessen Rechtsgut bzw. Rechtsgüter er als Garant rechtlich im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB einzustehen hat (vgl. BGH, Urt. v. 27.6.1984  – 3 StR 144/84 - NStZ 1984, 452; BGH, Urt. v. 9.11.1984 – 2 StR 257/84; im Ergebnis auch BGH, Urt. v. 21.12.2011 – 2 StR 295/11 - NStZ 2012, 319). Die Straflosigkeit des auf die Herbeiführung des Risikos gerichteten Verhaltens ändere nichts daran, dass für den Täter Garantenpflichten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem aus dem allgemeinen Risiko eine besondere Gefahrenlage erwächst. Mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage ist der Täter verpflichtet, den drohenden Erfolg abzuwenden (BGH, Beschl. v. 5.8.2015 - 1 StR 328/15; BGH, Urt. v. 27.6.1984 – 3 StR 144/84 - NStZ 1984, 452; BGH, Urt. v. 9.11.1984 – 2 StR 257/84; in der Sache ebenso BGH, Urt. v. 21.12.2011 – 2 StR 295/11 - NStZ 2012, 319).


An diesen Grundsätzen ist jedenfalls dann festzuhalten, wenn das Verhalten des Opfers sich in Bezug auf das Rechtsgut Leben in einer (möglichen) eigenverantwortlichen Selbstgefährdung erschöpft. Entgegen in der Strafrechtswissenschaft geäußerter Kritik (etwa Roxin, Strafrecht, AT/1, 4. Aufl., § 11 Rn. 112; Kühl in Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., Vor § 211 Rn. 16; Fünfsinn StV 1985, 57 f.) ist es in diesen Konstellationen nicht wertungswidersprüchlich, zwar jegliche Beteiligung an der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung selbst für einen Garanten straffrei zu stellen, bei Realisierung des von dem betroffenen Rechtsgutsinhaber eingegangenen Risikos aber eine strafbewehrte Erfolgsabwendungspflicht aus § 13 Abs. 1 StGB anzunehmen. Denn anders als in den Selbsttötungsfällen erschöpft sich im Fall der Selbstgefährdung die Preisgabe des eigenen Rechtsguts gerade darin, dieses in einem vom Betroffenen jedenfalls in seinem wesentlichen Grad zutreffend erkannten Umfang (Kenntnis sämtlicher rechtsgutsbezogener Risiken des fraglichen Verhaltens wird nicht gefordert, vgl. BGH, Beschl. v. 11.1.2011 – 5 StR 491/10 - NStZ 2011, 341, 342; siehe auch BGH, Urt. v. 28.1.2014 – 1 StR 494/13 - BGHSt 59, 150, 169 f. Rn. 80 und 81) einem Risiko auszusetzen. Eine Hinnahme des als möglich erkannten Erfolgseintritts bei Realisierung des eingegangenen Risikos ist mit der Vornahme der Selbstgefährdung gerade nicht notwendig verbunden (siehe insoweit auch Freund in Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., § 13 Rn. 190; in der Sache anders dagegen Murmann NStZ 2012, 387, 388 f.).

Entwickelt sich das allein auf Selbstgefährdung angelegte Geschehen erwartungswidrig in Richtung auf den Verlust des Rechtsguts, umfasst die ursprüngliche Entscheidung des Rechtsgutsinhabers für die (bloße) Gefährdung seines Rechtsguts nicht zugleich den Verzicht auf Maßnahmen zum Erhalt des nunmehr in einen Zustand konkreter Gefahr geratenen Rechtsguts (vgl. Freund aaO). Eine Person, die nach den allgemeinen Grundsätzen des § 13 Abs. 1 StGB Garant für das bedrohte Rechtsgut ist, trifft dann im Rahmen des tatsächlich Möglichen und ihr rechtlich Zumutbaren die Pflicht, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs abzuwenden (BGH, Beschl. v. 5.8.2015 - 1 StR 328/15). Ob für den Fall eines eigenverantwortlichen Suizids nach Verlust der Handlungsherrschaft des den Selbstmord Anstrebenden etwas anderes gilt (vgl. BGH, Urt. v. 21.12.2011 – 2 StR 295/11 - NStZ 2012, 319), hat der 1. Strafsenat offen gelassen (vgl. BGH, Beschl. v. 5.8.2015 - 1 StR 328/15).

Nur die sicher voraussehbare Erfolglosigkeit eines Rettungsbemühens läßt die Handlungspflicht entfallen (BGHR StGB § 13 Abs. 1 Zumutbarkeit 1 [= JR 1994, 510 m. Anm. Loos], Zumutbarkeit 2; BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414; BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77 - NJW 2003, 522; BGH, Urt. v. 27.1.2011 - 4 StR 502/10 - StV 2011, 412; vgl. auch Puppe in Nomos-Kommentar, StGB 5. Lfg. vor § 13 Rdn. 110; Samson StV 1991, 182, 185; Weigend in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 13 Rdn. 63). Zur Erhaltung von Menschenleben sind äußerste Anstrengungen zu fordern (BGHR StGB § 13 Abs. 1 Zumutbarkeit 1 = JR 1994, 510 m. Anm. Loos). Allerdings kann es unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit bedeutsam sein, daß das Rettungsbemühen nur eine verschwindend geringe Rettungschance bietet (BGHR StGB § 13 Abs. 1 Zumutbarkeit 1; BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77 - NJW 2003, 522). 




Ursächlichkeit

35
Zur Beurteilung der Kausalität bei den (unechten) Unterlassungsdelikten ist auf die hypothetische Kausalität, die so genannte „Quasi-Kausalität“ abzustellen. Es genügt nicht, dass ein Unterlassen der gebotenen Handlung das Risiko erhöht (vgl. BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087; vgl. auch BGH, Urt. v. 4.8.2015 - 1 StR 624/14; zur Risikoerhöhungstheorie vgl. Vogel in LK 12. Aufl. § 15 Rdn. 193).

Ein Unterlassen, also ein Nichtgeschehen kann - ontologisch - nicht Ursache eines Erfolges sein. Deshalb stellen die ständige Rechtsprechung und die allgemeine Lehre zur - notwendigerweise normativen - Beurteilung der Kausalität bei den unechten Unterlassungsdelikten auf die "hypothetische Kausalität" ab. Diese birgt für die Fälle des Unterlassens die Entsprechung zu der nach der Äquivalenztheorie in den Fällen aktiven Tuns anzuwendenden conditio sine qua non-Formel. Danach ist ein Unterlassen dann mit dem Erfolg als "quasi-ursächlich" in Zurechnungsverbindung zu setzen, wenn dieser beim Hinzudenken der gebotenen Handlung entfiele, wenn also die gebotene Handlung den Erfolg verhindert hätte (st. Rspr.; BGH, Urt. v. 4.3.1954 - 3 StR 281/53 - BGHSt 6, 1, 2; BGH, Urt. v. 26.6.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 126 - NJW 1990, 2560; BGH, Urt. v. 19.12.1997 - 5 StR 569/96 - BGHSt 43, 381, 397 - StV 1998, 186; BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77 - NJW 2003, 522; BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087; BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13; Jescheck in LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 16 bis 18; Stree in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 13 Rdn. 61; Fischer, StGB 57. Aufl. Vor § 13 Rdn. 39; Kudlich in Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB § 13 Rdn. 10; Schmidhäuser, Strafrecht AT 2. Aufl. S. 684 ff.: "juristische Kausalität").


Hierfür muss - da es sich nicht um die Feststellung realer Kausalzusammenhänge handelt - das Gericht eine hypothetische Erwägung anstellen und sich auf deren Grundlage eine Überzeugung bilden (BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - BGHR StGB § 13 Abs. 1 Ursächlichkeit 3 mwN; BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13 Rn. 75; vgl. auch SSW-StGB/Schluckebier, aaO, § 239 Rn. 8 a.E. mwN).

 siehe auch: 
§ 15 StGB --> Rdn. 15. 1 - Kausalität bei Unterlassen

Das vorsätzliche Unterlassen von Hilfsmaßnahmen ist nur dann als vollendete Tat strafbar, wenn festgestellt wird, daß der Angeklagte durch das Ergreifen solcher Maßnahmen den Erfolg hätte verhindern können; denn nur dann kann das Unterlassen für den Erfolgseintritt ursächlich geworden sein (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 18.9.1986 - 4 StR 429/86 - BGHR StGB § 13 Abs. 1 Brandstiftung 1; BGH, Urt. v. 22.9.1983 - 4 StR 250/83 - StV 1984, 247 m.w.N.; BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414).

Bei der Prüfung der Ursächlichkeit des Pflichtenverstoßes ist hypothetisch zu fragen, was geschehen wäre, wenn sich der Täter pflichtgemäß verhalten hätte. Nach feststehender Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann eine pflichtwidrige Unterlassung dem Angeklagten grundsätzlich nur angelastet werden, wenn der strafrechtlich relevante Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre (vgl. BGHR StGB § 222 Kausalität 1, 2, 3, 4; BGH, Urt. v. 19.4.2000 - 3 StR 442/99 - BGHR StGB § 13 Abs. 1 Ursächlichkeit 1 - NJW 2000, 2754). Als ursächlich für einen schädlichen Erfolg darf ein verkehrswidriges Verhalten also nur dann angenommen werden, wenn davon auszugehen ist, dass es bei verkehrsgerechtem Verhalten nicht dazu gekommen wäre, wenn der Erfolg nicht unabhängig davon eingetreten wäre. Dabei streitet für einen Angeklagten der Grundsatz in dubio pro reo. Allerdings steht der Bejahung der Ursächlichkeit die bloße gedankliche Möglichkeit eines gleichen Erfolgs auch bei Vornahme der gebotenen Handlung nicht entgegen. Vielmehr muss sich dies aufgrund bestimmter Tatsachen so verdichten, dass die Überzeugung vom Gegenteil mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vernünftigerweise ausgeschlossen ist (BGH, Beschl. v. 25.9.1957 - 4 StR 354/57 - BGHSt 11, 1 - NJW 1958, 149; BGH, Beschl. v. 29.11.1985 - 2 StR 596/85 - NStZ 1986, 217; BGH, Urt. v. 26.6.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 126 f. - NJW 1990, 2560; BGH, Urt. v. 19.4.2000 - 3 StR 442/99 - BGHR StGB § 13 Abs. 1 Ursächlichkeit 1 - NJW 2000, 2754; BGH, Beschl. v. 6.3.2008 - 4 StR 669/07 - BGHSt 52, 159, 164 - NJW 2008, 1897; BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087; BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13 Rn. 76).


Die Formulierung, „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ müsse die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für den Taterfolg feststehen, besagt nicht, dass höhere Anforderungen an das erforderliche Maß an Gewissheit von der Kausalität als sonst gestellt werden müssen. „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ ist nichts anderes als die überkommene Beschreibung des für die richterliche Überzeugung erforderlichen Beweismaßes (vgl. BGH, Urt. v. 26.6.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 127 - NJW 1990, 2560; BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087; BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13 Rn. 77). Da es sich nicht um die Feststellung realer Kausalzusammenhänge handelt, muss das Gericht eine hypothetische Erwägung anstellen und sich auf deren Grundlage eine Überzeugung bilden. Hierbei „nach höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit abzustufen, trifft die Art und Weise der Überzeugungsbildung nicht“ (BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087; Weigend in LK 12. Aufl. § 13 Rdn. 72).

Welche Handlung eines Unterlassungstäters im Rahmen der Kausalitätsprüfung hinzuzudenken ist, bestimmt sich bei bestehenden Handlungsalternativen vorrangig danach, ob und gegebenenfalls welche von ihnen geeignet ist, den Erfolgseintritt zu verhindern (BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13 Rn. 77). Bei erfolgsqualifizierten Delikten wie § 239 Abs. 4 StGB ist dabei der für diese Prüfung maßgebliche "Erfolg" - jedenfalls zunächst - nicht die Todesfolge, sondern der des Grunddelikts, mithin eine rechtswidrige Freiheitsentziehung, da deren Verhinderung bei Vornahme einer der gebotenen Handlungen zur Straflosigkeit führen würde. Kommen dabei alternative Handlungen in Betracht, die den Erfolgseintritt entweder durch die Beendigung der Freiheitsentziehung als solcher (z.B. durch Entlassen aus dem Gewahrsam) oder aber durch das Herbeiführen ihrer Rechtmäßigkeit verhindert hätten, besteht bei der Prüfung der hypothetischen Kausalität kein "Vorrang" von sich auf die Freiheitsentziehung als solche beziehenden Handlungen gegenüber denjenigen, die (erst) deren Rechtswidrigkeit beseitigen. Dies gilt jedenfalls im vorliegenden Fall - BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13 -, in dem der Wille des Angeklagten als dem Unterlassenden auf die Fortsetzung des Gewahrsams gerichtet war (vgl. BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13 Rn. 79; im Ergebnis ebenso: BGH, Urteil vom 4. April 1978  - 1 StR 628/77, bei Holtz MDR 1978, 624; Träger/Schluckebier in LK-StGB, aaO, § 239 Rn. 17).




[ Kumulatives Unterlassen ]

35.1
Das Prinzip, das im Fall parallelen Unterlassens gleichrangiger Garanten (auch kumulatives Unterlassen genannt) für die Beurteilung der "Quasi-Kausalität" nicht etwa auf das alleinige Verhalten des einzelnen Garanten, sondern auf das Verhalten der Garantengemeinschaft abzustellen ist, hat im Schrifttum weitgehend Zustimmung gefunden. Sonst könnte sich jeder Garant allein durch den Hinweis auf die gleichartige und ebenso pflichtwidrige Untätigkeit gleichgeordneter Garanten von jeder strafrechtlichen Haftung freizeichnen (vgl. BGH, Urt. v. 6.7.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 131 f. - NJW 1990, 2560; BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77 - NJW 2003, 522; BGH, Urt. v. 4.9.2014 - 4 StR 473/13; vgl. Beulke/Bachman JuS 1992, 737, 742 ff.; Brammsen Jura 1991, 533, 536 ff.; Deutscher/Körner wistra 1996, 292, 327, 332 f.; Hilgendorf NStZ 1994, 561, 563; Kuhlen NStZ 1990, 566, 569 f. und JZ 1994, 1142, 1146; Bernd-Dieter Meier NJW 1992, 3193, 3197 f.; Ransiek, Unternehmensstrafrecht 1996 S. 59 ff.; Schaal, Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen 2001 S. 202 ff.; Stratenwerth, Strafrecht AT 4. Aufl. S. 404). Manche Autoren stimmen dem Ergebnis zu, beschreiben jedoch eigene Begründungswege, finden insbesondere den Kern des Problems in der Frage der Garantenpflicht (so Puppe in Nomos-Kommentar, StGB 5. Lfg. vor § 13 Rdn. 109 f. und Sofos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen 1999 S. 249 ff., 263). 

Die kollektive Verweigerung des gebotenen Handelns durch gleichermaßen verpflichtete Garanten stellt sich als Nebentäterschaft, auch Mehrtäterschaft genannt (vgl. BGH, Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01 - BGHSt 48, 77 - NJW 2003, 522 - Politbüro-Fall; Cramer/Heine in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 25 Rdn. 100; Roxin in LK 11. Aufl. § 25 Rdn. 222 f.; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 25 Rdn. 11; Fincke GA 1975, 161 ff.), dar.

 siehe auch: 
§ 25 StGB --> Rdn. 5.1 - Nebentäterschaft durch Unterlassen

Beschließen die Geschäftsführer einer GmbH einstimmig, eine gebotene Handlung zu unterlassen, so liegt - nur - hinsichtlich dieser Entscheidung selbst mittäterschaftliches Handeln vor. Keiner der Beteiligten kann dann seinen Beitrag zu dieser Pflichtverletzung damit in Frage stellen, dass er sich darauf beruft, im Falle seines Widerspruchs wäre er überstimmt worden (BGH, Urt. v. 6.7.1990 - 2 StR 549/89 - BGHSt 37, 106, 129 - NJW 1990, 2560 "Lederspray-Fall"; BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087). Entsprechendes gilt beim stillschweigenden Konsens der Angehörigen eines Gremiums, dem die Schadensabwendungspflicht als Ganzes obliegt, nichts zu tun. Auch dann kann sich keines der - parallel - schweigenden Mitglieder darauf berufen, sein Widerspruch hätte ohnehin kein Gehör gefunden. Die Frage, ob die so getroffene Kollegialentscheidung - das kollektive Unterlassen, die kollektive Pflichtwidrigkeit - für den Erfolg kausal war, beantwortet sich auch dann nach den Regeln der hypothetischen Kausalität (vgl. BGHSt 37, 106, 126 f. - NJW 1990, 2560; BGH, Urt. v. 12.1.2010 - 1 StR 272/09 - NJW 2010, 1087 - Fall Eissporthalle Bad Reichenhall). 




Modalitätenäquivalenz

37
Das Unterlassen muss im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entsprechen. Voraussetzung hierfür ist, dass das Unterlassen im konkreten Fall dem Unrechtsgehalt aktiver Tatbestandsverwirklichung so nahe kommt, dass es sich dem Unrechtstypus des Tatbestands einfügt (sog. Modalitätenäquivalenz, vgl. BGH, Urt. v. 4.8.2015 - 1 StR 624/14; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 13 Rn. 83 f. mwN). Eine Gleichstellung des Unterlassens mit der Verwirklichung des Handelns durch aktives Tun kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn dem Unterlassen der Erfolgsunwert fehlt (vgl. BGH, Beschl. v. 6.2.1979 – 1 StR 648/78 - BGHSt 28, 300, 307) oder es an begehungstäterbezogenen Qualifikationsmerkmalen mangelt (ausführlich hierzu Roxin, Strafrecht AT II, § 32 Rn. 239 ff. mwN). Bei reinen Erfolgsdelikten wie etwa § 212 StGB kommt der Entsprechensklausel dagegen keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BGH, Urt. v. 4.8.2015 - 1 StR 624/14; Fischer aaO Rn. 86 mwN; Weigend in LK, 12. Aufl., § 13 Rn. 77; ausführlich hierzu Roxin aaO, § 32 Rn. 218 ff. mwN; vgl. auch BGH, Urteil vom 6. November 2002 – 5 StR 281/01, BGHSt 48, 77, 96).




Vorsatz

38




[ Vorsatz bei unechten Unterlassungsdelikten ]

38.5
Der Vorsatz bei unechten Unterlassungsdelikten muss die tatsächlichen Umstände umfassen, welche die Garantenpflicht begründen (vgl. BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschl. v. 29.5.1961 – GSSt 1/61 - BGHSt 16, 155, 158; BGH, Beschl. v. 4.6.2013 - 2 StR 4/13; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 13 Rn. 87; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 15 Rn. 96).

Beispiel: Der Angeklagte, ausgerüstet mit einer Sturmhaube und Handschuhen, ließ sich von einem ihm unbekannten Osteuropäer in die Nähe des vorgesehenen Tatorts bringen. Nachdem der Unbekannte sein Fahrzeug geparkt hatte, fühlte sich der Angeklagte nicht mehr in der Lage, den Banküberfall auszuführen und war "wie gelähmt". Er teilte dem Fahrer mit, dass er die Bank nicht überfallen werde, verließ trotz dessen Drohungen den Pkw und entfernte sich. Handschuhe und Sturmhaube ließ der Angeklagte zurück, wobei er "damit rechnete und billigend in Kauf nahm, dass der Überfall nun statt seiner von dem Fahrer unter Nutzung seiner Handschuhe und Sturmhaube begangen würde". Der Fahrer zog sich Handschuhe und Sturmhaube des Angeklagten über und betrat bewaffnet mit der von ihm mitgebrachten geladenen Schreckschusspistole die Bank, in der er unter Waffendrohung Geld erbeutete (vgl. BGH, Beschl. v. 4.6.2013 - 2 StR 4/13).

Aus den Feststellungen ergab sich nicht, auf Grund welcher konkreten Umstände der Angeklagte den – hier nicht auf der Hand liegenden – Schluss gezogen haben könnte, der ihm unbekannte und mit den örtlichen Begebenheiten nicht vertraute Fahrer selbst werde nun möglicherweise den Überfall unter Verwendung der vom Angeklagten zurückgelassenen Handschuhe und Sturmhaube begehen (vgl. BGH, Beschl. v. 4.6.2013 - 2 StR 4/13). 




Versuchsstrafbarkeit bei unechten Unterlassungsdelikten

40
In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Strafbarkeit des Versuchs eines unechten Unterlassungsdeliktes grundsätzlich anerkannt (BGH, Urt. v. 31.3.1955 - 4 StR 51/55 - BGHSt 7, 287, 288; BGH, Urt. v. 6.5.1960 - 4 StR 117/60 - BGHSt 14, 282, 284; BGH, Urt. v. 22.9.1992 -  5 StR 379/92 - BGHSt 38, 356, 358 - StV 1993, 24; BGH VRS 13, 120, 123; BGH, Urt. v. 12.9.1984 - 3 StR 245/84 - NStZ 1985, 24; BGH StV 1985, 229; BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414; vgl. auch RGSt 61, 360, 361). In gleicher Weise nimmt auch die herrschende Lehre grundsätzlich Strafbarkeit des Versuchs eines unechten Unterlassungsdeliktes an (Eser in Schönke/Schröder StGB, 24. Aufl., Rdn. 27 vor § 22; Jescheck in LK, 10. Aufl., § 13 Rdn. 46 ff. und Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 4. Aufl., S. 576 ff.; Lackner StGB, 19. Aufl., § 22 Rdn. 17; Vogler in LK, 10. Aufl., § 22 Rdn. 109 ff.; Baumann/Weber Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl., S. 482; Blei Strafrecht Allgemeiner Teil, 18. Aufl., S. 316; Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 852 ff.; Maurach/Gössel Strafrecht Allgemeiner Teil Teilband 2, 7. Aufl., S. 32 ff.; Grünwald JZ 1959, 46 ff.; zurückhaltend Dreher/Tröndle StGB, 45. Aufl., § 13 Rdn. 18).

vgl. zum Versuchsbeginn bei einem Unterlassen auch BGH, Urt. v. 11.3.2014 - 5 StR 649/13 und BGH, Urt. v. 13.9.1994 – 1 StR 357/94 - BGHSt 40, 257, 265 f.: Anknüpfungspunkt: Unterlassen einer als geboten erkannten Handlung




[ Untauglicher Versuch ]

40.1
Ob in Fällen des Unterlassens der "untaugliche Versuch" strafbar ist, ist jedenfalls im Schrifttum für Einzelfälle umstritten (vgl. die Hinweise in BGH, Urt. v. 22.9.1992 -  5 StR 379/92 - BGHSt 38, 356, 359 - StV 1993, 24). Der 2. Senat des Bundesgerichtshofs hat in seinem Beschluß vom 16.7.1993 - 2 StR 294/93 - NStZ 1994, 29 bereits entschieden, daß - in mit dem entschiedenen vergleichbaren Fällen - ein strafbarer untauglicher Versuch gegeben sein kann und hieran in BGH, Urt. v. 16.2.2000 - 2 StR 582/99 - NStZ 2000, 414 festgehalten. 




Sonstige Einzelfälle
                                                                                              

45
Zur Strafvereitelung im Amt durch Liegenlassen der Vorgänge siehe:  Strafvereitelung im Amt, § 258a StGB

L E I T S A T Z    Zur Garantenpflicht bei Verkauf eines Grundstücks als Bauland (BGH, Urt. v. 25.7.2000 - 1 StR 162/00 - wistra 2000, 419).

Eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen kann begehen, wer die Gefahr der Tatbegehung erkennt und trotz Garantenstellung eine vorsätzliche Tötung nicht verhindert (vgl. BGH, Beschl. v. 9.2.2000 - 5 StR 616/99 (alt: 5 StR 602/95 betr. Nichtverhinderung der Tötung durch "Familienoberhaupt").

 siehe auch: 
§ 222 StGB, Fahrlässige Tötung 



§ 13 Abs. 2 StGB
 
... (2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.




Milderungsmöglichkeit

65
Die Frage, ob eine Strafrahmenmilderung nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB geboten ist, muss der Tatrichter in einer wertenden Gesamtwürdigung der wesentlichen unterlassungsbezogenen Gesichtspunkte prüfen und seine Auffassung in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise darlegen (vgl. BGH, Urt. v. 29.7.1998 – 1 StR 311/98 - NJW 1998, 3068; BGH, Beschl. v. 30.6.2011 - 4 StR 241/11 - NStZ-RR 2011, 334; BGH, Beschl. v. 6.12.2012 - 2 StR 170/12; BGH, Urt. v. 17.6.2015 - 5 StR 75/15). Dabei sind vor allem diejenigen Umstände zu berücksichtigen, die etwas dazu aussagen, ob das Unterlassen im Verhältnis zur Begehungstat weniger schwer wiegt oder nicht. Besondere Bedeutung kommt der Frage zu, ob die gebotene Handlung von dem Unterlassungstäter mehr verlangt als den Einsatz rechtstreuen Willens (BGH, Urt. v. 3.11.1981 – 1 StR 501/81 - NJW 1982, 393; BGH, Beschl. v. 1.4.1987 – 2 StR 94/87 - BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 1; BGH, Beschl. v. 30.6.2011 - 4 StR 241/11 - NStZ-RR 2011, 334). Einzubeziehen sind daher auch die konkreten Tatumstände und alle in subjektiver Hinsicht für die Bewertung des Unrechtsgehalts der Unterlassung maßgebenden Umstände (vgl. BGH, Urt. v. 3.11.1981 – 1 StR 501/81 - NJW 1982, 393; BGH, Urt. v. 17.6.2015 - 5 StR 75/15).

Ist nach § 13 Abs. 2 StGB eine Milderungsmöglichkeit nach § 49 Abs. 1 StGB eröffnet, muss die Prüfung, ob eine solche Strafrahmenverschiebung in Betracht kommt, auch vorgenommen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 26.4.2001 - 5 StR 587/00 - NJW 2001, 3638, 3641 m.w.N.; BGH, Urt. v. 21.3.2002 - 5 StR 566/01 - wistra 2002, 260). Dies gilt ungeachtet dessen, dass eine Geldstrafe verhängt wird und deswegen eine Strafrahmenmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB ausscheidet (vgl. BGH, Urt. v. 21.3.2002 - 3 StR 340/01).


Wird von der Milderung nach § 13 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB aufgrund der Überlegung abgesehen, dass die Angeklagte den schweren Taterfolg in Gestalt des Todes eines Menschen unschwer hätte verhindern können, begegnet dies durchgreifenden rechtlichen Bedenken, denn damit wird das strafbegründende Unterlassen selbst zugleich als Grund für die Versagung der Strafmilderung herangezogen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.8.2014 - 3 StR 203/14; BGH, Beschl. v. 16.10.1997  - 4 StR 487/97 - NStZ 1998, 245).

 siehe auch: 
Besondere gesetzliche Milderungsgründe, § 49 StGB

Die gegen eine Strafrahmenverschiebung nach § 13 Abs. 2 StGB i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB gegebene Begründung des Tatgerichts, dass der Angeklagte über Monate hinweg Gelegenheit gehabt hätte, den Kalkulationsfehler, den der Angeklagte bewußt für betrügerische Abrechnungen ausnutzte, aufzudecken, hat der Bundesgerichtshof für tragfähig erachtet (vgl. BGH, Urt. v. 17.7.2009 - 5 StR 394/08 - BGHSt 54, 44 - NJW 2008, 3173).

Zur Berücksichtigung der besonderen psychischen Befindlichkeit eines Angeklagten bei der nach § 13 Abs. 2 StGB gebotenen Ermessensentscheidung vgl. BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 2; BGH, Beschl. v. 31.3.2004 - 5 StR 351/03.

Leitsatz: Aussetzung durch Im Stich lassen ist stets ein Unterlassungsdelikt; eine Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB ist nicht möglich, auch nicht, wenn der Täter durch die Tat den Tod des Opfers verursacht (§ 221 Abs. 3 StGB) (BGH, Beschl. v. 19.10.2011 - 1 StR 233/11 - Ls.). 



Konkurrenzen




Tateinheit

K.1
Auch für Unterlassungen ist die Frage, ob Tateinheit gegeben ist, an den allgemeinen Regeln zu messen. Danach ist entscheidend, ob die mehrfachen Gesetzesverletzungen durch eine einheitliche Unterlassung begangen worden sind. Dabei kann es wie bei positivem Tun auf die bloße Gleichzeitigkeit nicht entscheidend ankommen. Ob „ein und dieselbe Unterlassung“ zu mehreren Gesetzesverletzungen geführt hat, kann vielmehr nur im Hinblick auf die Handlungspflichten beurteilt werden, die durch die Unterlassung verletzt worden sind. Sind mehrere Pflichten durch „ein und dieselbe Handlung“ zu erfüllen, so wird in ihrer Unterlassung regelmäßig nur eine Handlung – im weiteren Sinne – gesehen werden können. Sind hingegen mehrere Handlungen erforderlich, um mehreren – selbst gleichartigen – Pflichten nachzukommen, so sind in ihrer Nichtvornahme in aller Regel mehrere Unterlassungen zu finden; es ist also Tatmehrheit gegeben (BGH, Beschl. v. 30.5.1963 – 1 StR 6/63 - BGHSt 18, 376, 379 mwN; BGH, Beschl. v. 15.3.2012 - 5 StR 288/11).



Prozessuales



Gesetze

Z.8



[ Verweisungen ]

Z.8.1
 
In § 13 StGB wird verwiesen auf:

§ 49 StGB   Besondere gesetzliche Milderungsgründe, § 49 StGB
 
 
Strafgesetzbuch - Allgemeiner Teil - 2. Abschnitt (Die Tat) 1. Titel (Grundlagen der Strafbarkeit)
 
 




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