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Eine Darstellung der BGH-Rechtsprechung in Strafsachen



 
§ 21 StGB
Verminderte Schuldfähigkeit

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
 
Strafgesetzbuch, Stand: 24.8.2017



Überblick zur Darstellung
Allgemeines
    Gesamtwürdigung
    Vorgehensweise und Prüfungsreihenfolge bei der Entscheidungsfindung
    Zeitpunkt
    Unrechtseinsicht
       Keine eingeschränkte oder verminderte Unrechtseinsicht
       Verminderte Einsichtsfähigkeit
         Verminderung der Einsichts- oder der Steuerungsfähigkeit
         Festlegung
         Vorwerfbarkeit
    Normative Aspekte
       Erheblichkeit
    Strafrahmenmilderung
       Gesamtschau
       Gewichtung
          Lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe
          Annahme nach dem Zweifelssatz
    Verminderte Schuldfähigkeit und strafschärfende Zumessungserwägungen
    Gutachten
          Entscheidung des Tatrichters
          Hinzuziehung eines Sachverständigen
             Verletzungen mit Gehirnbeteiligung
             Kapitalstrafsachen
             Maßregelanordnungen
         Methoden des Sachverständigen
       Inhaltiche Brauchbarkeit des Gutachtens
      Begründung des Tatrichters
          Abweichungen zwischen vorbereitenden schriftlichem und in der Hauptverhandlung
             erstattetem Gutachten
    In dubio pro reo
Betäubungsmittelabhängigkeit
    Abhängigkeit und § 21 StGB
       Schwerste Persönlichkeitsveränderungen
      Schwere Entzugserscheinungen
      Akuter Rausch
    Indizwirkung
Persönlichkeitsstörungen
    Abnorme und psychopathische Persönlichkeiten
    Schweregrad
       Nicht pathologisch bedingte Persönlichkeitsstörung
          Diagnose als Kriterium
          ICD-Klassifikation
          Pädophilie / Abweichende Sexualpraktiken
          Verwahrlosungstendenzen, dissoziale Entwicklung und Polytoxikomanie
          Borderline-Syndrom
    Leistungsverhalten und schwere Persönlichkeitsstörung
Alkoholeinfluss
    Vorwerfbare Trunkenheit
       Kriterien für eine Strafrahmenmilderung
       Kriterien für eine Versagung der Strafrahmenmilderung
    Alkoholkrankheit
    Wechselwirkungen
       Alkohol pp. und Persönlichkeitsstörung
       Alkohol, Heroin und Amphetamin
       Alkohol und Kokain
       Alkohol und pyromanische Neigung
       Alkohol und affektive Erregung
    Feststellungen zur Alkoholisierung
       Blutalkoholkonzentration
       Trinkmengenangaben
       Längerer Rückrechnungszeitraum
          Psychodiagnostische Kriterien
       Fehlende Blutprobe
       Nachtrunk
       Besondere Umstände
Spielsucht
    Spielsucht und verminderte Schuldfähigkeit
Affekt
    Affektbedingte Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens
       Affektive Erregung bei Kapitaldelikten
       Kennzeichen
          Erinnerungsvermögen
          Sicherungstendenzen
          Folgerichtiges und zielgerichtetes Handeln
          Vorhersehbarkeit der Affektsituation
       Sonstige Erscheinungsformen
          Irreale Fokussierung und Fixierung
          Asthenischer Affekt
          Akute Belastungsreaktion
          Umstand, der das "Fass zum Überlaufen" brachte
          Persönlichkeitsfremde Tat
       Affekt- und Impulstaten
       Wechselwirkungen
          Affekt und Alkoholisierung
 Altersbedingte psychische Veränderungen
    Beeinträchtigung durch Altersabbau
       Ersttäter im vorgerückten Alter
Einzelfälle und -probleme
    Actio libera in causa
    Minderbegabung
    Kindstötung
    Furcht
    Psychose
    Äußeres Erscheinungsbild der Vorgehensweise
Urteil
    Urteilsfeststellungen
Prozessuales
    Haftsachen / Unterbringungssachen
       Unterbringungsbefehl site sponsoring
       Unterbringung zur Beobachtung
    Verfahrensrechtliches Merkmal "schuldhaft"
    Rechtsmittel
    Gesetze
       Verweisungen





Allgemeines



Gesamtwürdigung

5
Ob die Steuerungsfähigkeit bei der Begehung der Tat erheblich eingeschränkt war, hat das Tatgericht in einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten und dessen Entwicklung zu bewerten, wobei auch Vorgeschichte, unmittelbarer Anlass und Ausführung der Tat sowie das Verhalten danach von Bedeutung sind (BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 54 - NJW 2004, 1810; BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 10, 20, 23, 36; BGH, Beschl. v. 12.10.1993 - 5 StR 424/93 - NStZ 1994, 75; BGH, Beschl. v. 10.10.2000 - 1 StR 420/00 - NStZ 2001, 243: betr. Pädophilie; BGH, Beschl. v. 25.7.2001 - 5 StR 287/01: betr. fehlende Ganzheitsbetrachtung; BGH, Beschl. v. 28.11.2001 - 5 StR 434/01; BGH, Urt. v. 23.1.2002 - 5 StR 391/01 betr. ungewöhnlich grausames, teilweise bizarrer Tatbild und außergewöhnliche Tatmotivation; BGH, Beschl. v. 10.7.2002 - 1 StR 140/02; BGH, Beschl. v. 21.2.2008 - 5 StR 632/07; BGH, Beschl. v. 20.8.2008 - 5 StR 334/08; BGH, Beschl. v. 20.2.2014 - 5 StR 7/14 betr. markante Auffälligkeiten, die gegen einen sich im Rahmen des Normalpsychologischen haltenden Geltungsdrang sprechen; BGH, Beschl. v. 11.2.2015 - 4 StR 498/14).

Dabei ist zu klären, ob sich die Fähigkeit des Angeklagten, motivatorischen und situativen Tatanreizen in der konkreten Tatsituation zu widerstehen und sich normgemäß zu verhalten, im Vergleich mit dem „Durchschnittsbürger“ in einem solchen Maß verringert hat, dass die Rechtsordnung diesen Umstand bei der Durchsetzung ihrer Verhaltenserwartungen nicht übergehen darf (vgl. BGH, Urt. v. 17.3.2009 - 1 StR 627/08 - BGHSt 53, 221 - NJW 2009, 1979; BGH, Urt. v. 19.10.2011 - 2 StR 172/11; Fischer, StGB 58. Aufl. § 21 Rdn. 8).
 

Beispiel: Stellt das Tatgericht eine solche Gesamtwürdigung nicht an, sondern stützt sich allein auf die zielstrebige und entschlossene, nicht von impulsivem Verhalten geprägte Tatausführung, begegnet dies bereits für sich genommen Bedenken, da dem Leistungsverhalten für die Beurteilung der Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit durch eine schwere andere seelische Abartigkeit nur eine mindere Bedeutung zukommt (BGH, Beschl. v. 14.5.2002 - 5 StR 138/02 - NStZ-RR 2002, 230; BGH StV 2003, 157 f.; BGH, Beschl. v. 21.2.2008 - 5 StR 632/07).

Die Feststellungen müssen belegen, wie sich ein Störungsbild auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten tatsächlich ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 - BGHSt 49, 347, 356 - NStZ 2005, 205; BGH, Urt. v. 26.6.2008 - 3 StR 152/08). Die Beurteilung zur uneingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Tat darf insoweit nicht auf den verwerteten Eindruck von dessen Verhalten bei der Urteilsverkündung resultieren (vgl. BGH, Beschl. v. 16.4.2008 - 5 StR 100/08). 




Vorgehensweise und Prüfungsreihenfolge bei der Entscheidungsfindung

7
Die richterliche Entscheidung, ob die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, bei der Begehung der jeweiligen Tat erheblich vermindert war, besteht in einem aus mehreren Schritten bestehenden Verfahren (vgl. BGH, Beschl. v. 12.3.2013 - 4 StR 42/13 - NStZ 2013, 519, 520; BGH, Beschl. v. 21.6.2016 - 4 StR 161/16 Rn. 18; BGH, Urt. v. 6.7.2017 - 4 StR 65/17 Rn. 11). Zuerst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen (BGH, Urt. v. 12.6.2008 – 3 StR 154/08 Rn. 7 - NStZ-RR 2008, 338, 339; BGH, Urt. v. 17.4.2012 – 1 StR 15/12 Rn. 24 - NStZ 2013, 53, 54; BGH, Beschl. v. 12.3.2013 – 4 StR 42/13 Rn. 7 - NStZ 2013, 519, 520; BGH, Beschl. v. 21.6.2016 - 4 StR 161/16 Rn. 18; BGH, Urt. v. 6.7.2017 - 4 StR 65/17 Rn. 11). Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Die anschließende Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens ist eine Rechtsfrage, die das Tatgericht selbst zu beantworten hat, nicht der Sachverständige (vgl. BGH, Urt. v. 29.4.1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 77; BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 53; BGH, Urt. v. 25.3.2015 - 2 StR 409/14; vgl. zur Prüfungsreihenfolge auch BGH, Urt. v. 1.7.2015 - 2 StR 137/15 - NJW 2015, 3319, 3320; vgl. auch BGH, Beschl. v. 12.11.2015 - 2 StR 104/15 zur Bewertung einer rechtserheblichen Einschränkung durch den festgestellten "hochgradigen Affekt"). Haben bei der Tat mehrere Faktoren zusammengewirkt und kommen mehrere Eingangsmerkmale gleichzeitig in Betracht, so dürfen diese hierbei nicht isoliert abgehandelt, sondern müssen einer Gesamtbetrachtung unterzogen werden (BGH, Beschl. v. 12.3.2013 – 4 StR 42/13 Rn. 7 - NStZ 2013, 519, 520 mwN; BGH, Beschl. v. 21.6.2016 - 4 StR 161/16 Rn. 18). 




Zeitpunkt

10
Beeinträchtigungen der psychischen Funktionsfähigkeit des Angeklagten sind im Rahmen der §§ 20, 21 StGB nur insoweit von Belang, als sie sich auf seine Handlungsfähigkeiten in der konkreten Tatsituation ausgewirkt haben (vgl. BGH, Beschl. v. 8.6.2011 - 1 StR 122/11; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 20 Rn. 44; vgl. auch BGH, Beschl. v. 9.10.2012 - 2 StR 297/12). Eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB kommt nur in Betracht, wenn die Schuldfähigkeit „bei Begehung der Tat erheblich vermindert“ war. Maßgeblicher Zeitpunkt ist dabei derjenige der Tathandlung im Sinne von § 8 Satz 1 StGB. Werden innerhalb eines längeren Zeitraums mehrere Taten begangen, ist deshalb die Prüfung nicht generell, sondern in Bezug auf jede einzelne Tat vorzunehmen (vgl. BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 46 - NStZ 2004, 437, 438; BGH, Urt. v. 21.12.2006 - 3 StR 436/06 - NStZ-RR 2007, 105, 106; BGH, Urt. v. 17.3.2009 - 1 StR 627/08 - BGHSt 53, 221 - NJW 2009, 1979; BGH, Beschl. v. 28.1.2016 - 3 StR 521/15). Es kommt für die Schuldfähigkeitsbeurteilung darauf an, ob der Täter aufgrund einer bestimmten psychischen Verfassung in der Lage war, einer konkreten Tat Unrechtseinsicht und Hemmungsvermögen entgegenzusetzen (vgl. BGH, Beschl. v. 17.2.1984 - 3 StR 22/84 - StV 1984, 419, 420; BGH, Beschl. v. 2.8.2011 - 3 StR 199/11). Dabei ist in der Rechtsprechung seit jeher anerkannt, dass ein bestimmtes psychisches Störungsbild sich bei Begehung verschiedenartiger Straftaten jeweils unterschiedlich auswirken kann (BGH, Beschl. v. 2.8.2011 - 3 StR 199/11).

Beispiele: (zitiert in BGH, Beschl. v. 2.8.2011 - 3 StR 199/11):
"So kann ein Betrunkener, der seinen Geschlechtstrieb nicht mehr zu beherrschen vermag und deshalb im Rausch einen Notzuchtsversuch begeht, möglicherweise sehr wohl noch fähig sein, Hemmungen gegenüber einem Raubmotiv einzuschalten; wer sich infolge seines Rausches schuldlos zu einer Beleidigung hinreißen lässt, kann für eine gefährliche Körperverletzung noch verantwortlich sein" (BGH, Urt. v. 3.2.1960 - 2 StR 640/59 - BGHSt 14, 114, 116). Auch mag eine "neurotische Überempfindlichkeit" eines Angeklagten "bei typischen Querulantendelikten (Verleumdungen, Beleidigungen, falschen Anschuldigungen) einen im Rechtssinne erheblichen Einfluss auf seine Hemmungsfähigkeit haben", was bei einem Mordversuch gegenüber Beamten nicht der Fall ist (vgl. BGH, Urt. v. 7.6.1966 - 5 StR 190/66 - NJW 1966, 1871). Ein Angeklagter, der wegen sexueller Abartigkeit und Alkoholisierung bei Vornahme der - nach § 154 Abs. 1 StPO aus dem Verfahren ausgeschiedenen - sexuellen Handlungen an einem Kind nachweislich oder nicht ausschließbar vermindert schuldfähig war, könnte wegen der insoweit höheren Hemmschwelle gleichwohl bei der nachfolgenden Tötung des Opfers voll schuldfähig sein (vgl. BGH, Urt. v. 13.12.1989 - 3 StR 370/89 - NStZ 1990, 231).


Verwirklicht der Täter hingegen - etwa durch den Erwerb des Betäubungsmittels in der Absicht des teilweisen Weiterverkaufs - durch eine einheitliche Handlung zwei Tatbestände, so scheint dem 3. Senat die Schuldfähigkeitsbeurteilung nicht teilbar zu sein. Es kann für diese Entscheidung nicht auf die jeweils unterschiedliche rechtliche Einordnung der Handlung ankommen (vgl. BGH, Beschl. v. 2.8.2011 - 3 StR 199/11 - NStZ 2012, 44; BGH, Beschl. v. 15.4.2014 - 3 StR 48/14 betr. Anbau der Betäubungsmittel in der Absicht des - in geringerem Umfang - teilweisen Eigenkonsums und des gewinnbringenden Weiterverkaufs im Übrigen). Soweit ersichtlich, hat sich der Bundesgerichtshof mit dieser Frage noch nicht befasst. Die in der Literatur (vgl. Fischer, StGB, 58. Aufl., § 20 Rn. 5; LK-Schöch, 12. Aufl., § 20 Rn. 184) für die gegenteilige Auffassung in Anspruch genommenen Judikate behandeln eine solche Teilbarkeit jedenfalls nicht (vgl. BGH, Beschl. v. 2.8.2011 - 3 StR 199/11 - NStZ 2012, 44).
 
Bei der Prüfung der Schuldfähigkeit bei Tatbegehung kann in Rechnung zu stellen sein, dass das Verhalten mehrere Stunden nach der Tat nur begrenzt Rückschlüsse auf die Steuerungsfähigkeit im Tatzeitpunkt zulässt (vgl. BGH, Beschl. v. 28.2.2012 - 3 StR 17/12).
 




Unrechtseinsicht

15




[ Keine eingeschränkte oder verminderte Unrechtseinsicht ]

15.1
Eine eingeschränkte oder verminderte Unrechtseinsicht gibt es nicht (BGH, Beschl. v. 21.4.2005 - 2 StR 124/05; Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 21 Rdn. 3). Unrechtseinsicht und Hemmungsvermögen beziehen sich immer auf den konkreten Rechtsverstoß (BGH, Beschl. v. 27.6.2000 - 1 StR 242/00; BGH, Beschl. v. 16.1.2003 - 1 StR 352/02; Jähnke in LK 11. Aufl. § 20 Rdn. 72). 




[ Verminderte Einsichtsfähigkeit ]

15.2
Nimmt der Tatrichter eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit des Täters an, so muss er darüber befinden ob diese zum Fehlen der Unrechtseinsicht geführt oder ob der Täter gleichwohl das Unrecht der Tat eingesehen hat. Denn eine lediglich verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsicht zur Folge hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urt. v. 2.2.1966 - 2 StR 529/65 - BGHSt 21, 27, 28 f.; BGH, Urt. v. 6.3.1986 - 4 StR 40/86 - BGHSt 34, 22, 25 ff.; BGHR StGB § 21 StGB Einsichtsfähigkeit 2, 3, 4, 5, 6; BGH, Beschl. v. 25.4.2001 - 1 StR 68/01; BGH, Urt. v. 25.11.2003 - 1 StR 308/03; BGH, Beschl. v. 25.9.2003 - 4 StR 316/03 - NStZ-RR 2004, 38; BGH, Beschl. v. 21.2.2006 - 5 StR 8/06; BGH, Beschl. v. 12.7.2006 - 5 StR 215/06; BGH, Beschl. v. 22.11.2006 - 2 StR 430/06; BGH, Beschl. v. 3.4.2007 - 4 StR 64/07; BGH, Beschl. v. 17.10.2007 - 2 StR 462/07; BGH, Beschl. v. 13.2.2009 - 2 StR 509/08 - NStZ-RR 2009, 170; BGH, Beschl. v. 10.12.2009 - 4 StR 437/09; BGH, Beschl. v. 25.7.2012 - 1 StR 332/12; BGH, Beschl. v. 20.11.2012 - 1 StR 504/12; BGH, Beschl. v. 26.5.2015 - 3 StR 143/15; BGH, Beschl. v. 5.7.2016 - 4 StR 215/16; BGH, Beschl. v. 2.8.2016 - 2 StR 574/15 Rn. 6; BGH, Beschl. v. 25.4.2017 - 5 StR 78/17 Rn. 6; Fischer StGB 57. Aufl. § 63 Rdn. 11). § 21 StGB regelt, ebenso wie § 20 StGB, soweit er auf die Einsichtsfähigkeit abstellt, einen Fall des Verbotsirrtums (BGH, Beschl. v. 1.3.2011 - 3 StR 22/11).

Der Täter, der trotz generell verminderter Einsichtsfähigkeit im konkreten Fall die Einsicht in das Unrecht seiner Tat gehabt hat, ist - sofern nicht seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert ist - voll schuldfähig (vgl. BGH, Urt. v. 2.2.1966 - 2 StR 529/65 - BGHSt 21, 27, 28; BGH, Urt. v. 6.3.1986 - 4 StR 40/86 - BGHSt 34, 22, 25; BGH, Urt. v. 17.11.1994 - 4 StR 441/94 - BGHSt 40, 341, 349; BGH, Beschl. v. 19.1.2000 - 3 StR 577/99; BGH, Beschl. v. 30.1.2001 - 3 StR 527/00; BGH, Beschl. v. 23.3.2001 - 3 StR 59/01; BGH, Beschl. v. 25.4.2001 - 1 StR 68/01; BGH, Beschl. v. 10.1.2002 - 3 StR 398/01; BGH, Beschl. v. 30.7.2003 - 2 StR 215/03; BGH, Beschl. v. 28.1.2005 - 2 StR 445/04; BGH, Beschl. v. 21.4.2005 - 2 StR 124/05; BGH, Beschl. v. 21.2.2006 - 5 StR 8/06; BGH, Beschl. v. 3.4.2007 - 4 StR 64/07; BGH, Beschl. v. 17.10.2007 - 2 StR 462/07; BGH, Beschl. v. 21.11.2007 - 2 StR 548/07; BGH, Beschl. v. 10.7.2008 - 5 StR 253/08; BGH, Beschl. v. 13.2.2009 - 2 StR 509/08 - NStZ-RR 2009, 170; BGH, Beschl. v. 10.12.2009 - 4 StR 437/09; BGH, Beschl. v. 10.8.2011 - 2 StR 203/11; BGH, Beschl. v. 25.7.2012 - 1 StR 332/12; BGH, Beschl. v. 20.11.2012 - 1 StR 504/12; BGH, Beschl. v. 25.4.2017 - 5 StR 78/17 Rn. 6). Denn die Schuld des Täters wird nicht gemindert, wenn er trotz erheblich verminderter Einsichtsfähigkeit das Unrecht tatsächlich eingesehen hat (BGH, Urt. v. 6.3.1986 - 4 StR 40/86 - BGHSt 34, 22, 25 ff.; BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 1; BGH, Urt. v. 25.1.1995 - 3 StR 535/94 - NJW 1995, 1229; BGH, Beschl. v. 25.9.2003 - 4 StR 316/03 - NStZ-RR 2004, 38; BGH, Beschl. v. 15.2.2008 - 2 StR 22/08). In einem solchen Fall ist auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zulässig (BGHSt 21, 27, 28; 34, 22, 26 f.; BGH NStZ-RR 1999, 207; BGH, Beschl. v. 25.4.2001 - 1 StR 68/01; BGH, Beschl. v. 17.10.2007 - 2 StR 462/07; BGH, Beschl. v. 13.2.2009 - 2 StR 509/08 - NStZ-RR 2009, 170; BGH, Beschl. v. 25.7.2012 - 1 StR 332/12; BGH, Beschl. v. 20.11.2012 - 1 StR 504/12; BGH, Beschl. v. 25.4.2017 - 5 StR 78/17 Rn. 6).

Fehlte dem Täter bei verminderter Einsichtsfähigkeit die Einsicht in das Unrecht der Tat, ohne dass ihm dies vorzuwerfen ist - etwa wegen einer psychischen Erkrankung -, kommt § 20 StGB zur Anwendung mit der Folge, dass eine Bestrafung ausscheidet (st. Rspr., vgl.  BGH, Urt. v. 2.2.1966 - 2 StR 529/65 - BGHSt 21, 27, 28; BGH, Urt. v. 1.6.1989 - 4 StR 222/89 - BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 5; BGH, Beschl. v. 25.4.2001 - 1 StR 68/01; BGH, Beschl. v. 3.7.2002 - 2 StR 198/02; BGH, Beschl. v. 25.9.2003 - 4 StR 316/03; BGH, Beschl. v. 28.1.2005 - 2 StR 445/04; BGH, Beschl. v. 21.4.2005 - 2 StR 124/05; BGH, Beschl. v. 12.7.2006 - 5 StR 215/06; BGH, Beschl. v. 22.11.2006 - 2 StR 430/06; BGH, Urt. v. 15.12.2005 - 4 StR 314/05 - NStZ 2006, 274; BGH, Beschl. v. 21.11.2007 - 2 StR 548/07 - NStZ-RR 2008, 106; BGH, Beschl. v. 19.8.2010 - 3 StR 301/10; BGH, Beschl. v. 10.8.2011 - 2 StR 203/11; BGH, Beschl. v. 25.7.2012 - 1 StR 332/12; BGH, Beschl. v. 2.8.2012 - 3 StR 259/12; BGH, Beschl. v. 17.12.2014 - 3 StR 511/14; zur Vorwerfbarkeit siehe unten Rdn. 15.2.3). Die Vorschrift des § 21 StGB kann in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit nur dann angewendet werden, wenn die Einsicht gefehlt hat und dies dem Täter vorzuwerfen ist (vgl. BGH, Beschl. v. 30.7.2003 - 2 StR 215/03; BGH, Beschl. v. 1.3.2011 - 3 StR 22/11; BGH, Beschl. v. 10.8.2011 - 2 StR 203/11; BGH, Beschl. v. 2.8.2012 - 3 StR 259/12; BGH, Beschl. v. 17.12.2014 - 3 StR 511/14; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 21 Rn. 3). Solange die Verminderung der Einsichtsfähigkeit nicht das Fehlen der Einsicht ausgelöst und dadurch zu Straftaten geführt hat, ist die Sicherung der Allgemeinheit durch Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht veranlaßt (BGH, Urt. v. 6.3.1986 - 4 StR 40/86 - BGHSt 34, 22, 26/27; BGH, Beschl. v. 30.7.2003 - 2 StR 215/03; vgl. auch BGH, Beschl. v. 10.12.2009 - 4 StR 437/09). Die Einsichtsfähigkeit ist entweder vorhanden, dann ist der Täter voll schuldfähig, oder sie fehlt, dann liegt Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB vor (vgl. BGH, Urt. v. 2.2.1966 - 2 StR 529/65 - BGHSt 21, 27; BGH, Beschl. v. 31.3.2009 - 1 StR 83/09).

Im Gegensatz dazu führt erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit ohne Weiteres zur Anwendung des § 21 StGB. Wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen hat der Tatrichter sich deshalb Klarheit darüber zu verschaffen, welche Alternative des § 21 StGB vorliegt (vgl. BGH, Beschl. v. 2.8.2016 - 2 StR 574/15 Rn. 6; BGH, Beschl. v. 30.6.2015 - 3 StR 181/15; NStZ-RR 2015, 273, 274; BGH, Urt. v. 25.1.1995 - 3 StR 535/94 - BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 6).  




- Verminderung der Einsichts- oder der Steuerungsfähigkeit

15.2.1
Die Anwendung des § 21 StGB kann nicht zugleich auf seine beiden Alternativen gestützt werden, da beide nicht gleichzeitig gegeben sein können (st. Rspr., BGH, Urt. v. 17.11.1994 - 4 StR 441/94 - BGHSt 40, 341, 349 - NJW 1995, 795; BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 3; BGH NJW 1995, 1229; BGH NStZ 1990, 333; 1989, 430; BGH, Beschl. v. 30.1.2001 - 3 StR 527/00; BGH, Beschl. v. 23.3.2001 - 3 StR 59/01; BGH, Beschl. v. 5.9.2001 - 3 StR 327/01; BGH, Beschl. v. 10.1.2002 - 3 StR 398/01; BGH, Beschl. v. 9.7.2002 - 3 StR 207/02betr. § 20 StGB; BGH, Beschl. v. 8.4.2003 - 3 StR 79/03 - NStZ-RR 2003, 232; BGH, Urt. v. 9.7.2003 - 2 StR 106/03; BGH, Beschl. v. 16.7.2003 - 2 StR 209/03BGH, Beschl. v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 - BGHSt 49, 347, 349 - NStZ 2005, 205; BGH, Beschl. v. 15.2.2008 - 2 StR 22/08; BGH, Beschl. v. 27.10.2009 - 3 StR 369/09; BGH, Beschl. v. 10.8.2010 - 4 StR 333/10; BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 2 StR 139/12; BGH, Beschl. v. 26.9.2012 - 4 StR 348/12; Fischer StGB 59. Aufl. § 21 Rdn. 5). Die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit kann nicht gleichzeitig auf eine erhebliche Verminderung der Einsichts- und der Steuerungsfähigkeit gestützt werden (vgl. BGH, Urt. v. 17.11.1994 - 4 StR 441/94 - BGHSt 40, 341, 349 - NJW 1995, 795; BGH, Urt. v. 25.11.2003 - 1 StR 308/03; BGH, Beschl. v. 18.5.2004 - 4 StR 185/04; BGH, Beschl. v. 28.1.2005 - 2 StR 445/04).

Erheblich verminderte Schuldfähigkeit ist keine allgemeine persönliche Eigenschaft; vielmehr müssen sich die psychischen Störungen auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit bei Begehung der Tat ausgewirkt haben (vgl. BGH, Beschl. v. 22.8.2012 - 1 StR 317/12). Dies liegt bei einem jahrelang systematisch auf die Vertuschung steuerrechtlich erheblicher Tatsachen angelegten System in der Regel fern (vgl. BGH, Beschl. v. 22.8.2012 - 1 StR 317/12; BGH, Urt. v. 17.3.2009 - 1 StR 627/08 - NJW 2009, 1979).


Ob die gleichzeitige Annahme von fehlender Einsichts- und Steuerungsfähigkeit im Rahmen der Prüfung der §§ 20, 21 StGB stets rechtsfehlerhaft ist (vgl. BGH, Urt. v. 25.1.1995 - 3 StR 535/94 - NStZ 1995, 226 mwN), haben der 3. Strafsenat in BGH, Beschl. v. 2.8.2012 - 3 StR 259/12 und der 1. Strafsenat in BGH, Beschl. v. 6.3.2013 - 1 StR 654/12 offen gelassen (siehe hierzu auch § 63 StGB Rdn. 32 - Zweifelsfreie Feststellung der Eingangsvoraussetzungen).

  siehe zur Unterscheidung von Einsichts- u. Steuerungsfähigkeit: § 20 StGB --> Rdn. 10 - Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
   




- Festlegung

15.2.2
In der Regel darf der Tatrichter nicht offenlassen, ob die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit des Täters vermindert war (vgl. BGHR StGB § 63 Schuldunfähigkeit 1 und Gefährlichkeit 5; BGH, Beschl. v. 8.4.2003 - 3 StR 79/03 - NStZ-RR 2003, 232; BGH, Beschl. v. 25.9.2003 - 4 StR 316/03 - NStZ-RR 2004, 38 f.; BGH, Beschl. v. 15.2.2008 - 2 StR 22/08; BGH, Urt. v. 19.2.2008 - 5 StR 599/07; Fischer StGB § 20 StGB Rdn. 44 m.w.N.). Die psychiatrische Diagnose eines Störungsbildes ist nicht mit einem der Eingangsmerkmale des § 20 StGB gleichzusetzen (vgl. BGH, Beschl. v. 12.11.2004 – 2 StR 367/04 - BGHSt 49, 347, 352; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 154/08; BGH, Beschl. v. 19.12.2013 - 2 StR 534/13). Steht etwa nicht fest, ob das Alkoholentzugsdelir dazu geführt hat, dass der Beschuldigte nicht die Fähigkeit besessen hat, das Unerlaubte seines Tuns zu erkennen, oder ob er lediglich außerstande gewesen ist, nach dieser Einsicht zu handeln, kann dies Auswirkungen auf die Beurteilung der Gefährlichkeit für die Allgemeinheit i.S.d. § 63 StGB haben (vgl. BGH, Urt. v. 19.2.2008 - 5 StR 599/07).

Im Gegensatz dazu führt erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit ohne Weiteres zur Anwendung des § 21 StGB. Wegen der unterschiedlichen Rechtsfolgen hat der Tatrichter sich deshalb Klarheit darüber zu verschaffen, welche Alternative des § 21 StGB vorliegt (BGH, Urt. v. 25.1.1995 - 3 StR 535/94 - NJW 1995, 1229; vgl. auch BGHR StGB § 63 Schuldunfähigkeit 1; BGH, Beschl. v. 15.2.2008 - 2 StR 22/08; BGH, Beschl. v. 27.5.2008 - 3 StR 131/08; vgl. auch BGH, Beschl. v. 14.4.2010 - 2 StR 137/10).

Bei fehlender Einsichtsfähigkeit ist kein Raum mehr für die Prüfung der Steuerungsfähigkeit (vgl. BGH, Beschl. v. 3.4.2007 - 3 StR 100/07).




- Vorwerfbarkeit

15.2.3
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht wegen einer krankhaften seelischen Störung oder aus einem anderen in § 20 StGB bezeichneten Grund, ohne dass ihm dies zum Vorwurf gemacht werden kann, so ist auch bei nur verminderter Einsichtsfähigkeit nicht § 21 StGB, sondern § 20 StGB anwendbar (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 - BGHSt 49, 347, 349 - NStZ 2005, 205; BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 2-4; BGH, Beschl. v. 17.12.1985 - 4 StR 665/85 - NStZ 1986, 264; BGH, Urt. v. 2.2.1966 - 2 StR 529/65 - BGHSt 21, 27, 28 f.; BGH, Urt. v. 6.3.1986 - 4 StR 40/86 - BGHSt 34, 22, 25 f. - NJW 1986, 2893; BGH, Urt. v. 17.11.1994 - 4 StR 441/94 - BGHSt 40, 341, 349 - NJW 1995, 795; BGHR StGB § 20 Einsichtsfähigkeit 2; BGH, Beschl. v. 30.7.2004 - 2 StR 215/03; BGH, Beschl. v. 21.4.2005 - 2 StR 124/05; BGH, Beschl. v. 21.2.2006 - 5 StR 8/06; BGH, Beschl. v. 20.12.2007 - 5 StR 513/07; BGH, Beschl. v. 15.2.2008 - 2 StR 22/08; BGH, Beschl. v. 17.12.2014 - 3 StR 511/14).

siehe zur Vorwerfbarkeit im Zshg. mit der Strafzumessung: § 46 StGB Rdn. 75
 




Normative Aspekte

20
Ob die Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer schweren anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat "erheblich" im Sinne des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage. Diese hat der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten (st. Rspr.; vgl. BGHSt 43, 66, 77; BGH, Beschl. v. 4.1.2000 - 3 StR 567/99; BGH, Beschl. v. 9.5.2000 - 4 StR 59/00 - NStZ 2000, 469; BGH, Urt. v. 23.8.2000 - 3 StR 224/00 - NStZ 2001, 82; BGH, Urt. v. 21.3.2001 - 1 StR 32/01; BGH, Urt. v. 27.6.2001 - 1 StR 179/01; BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45 - NJW 2004, 1810; BGH, Urt. v. 24.6.2004 - 5 StR 306/03 - NStZ 2005, 153; BGH, Beschl. v. 3.8.2004 - 1 StR 293/04; BGH, Urt. v. 13.12.2005 - 1 StR 410/05 - NStZ 2006, 444; BGH, Urt. v. 25.5.2007 - 1 StR 126/07 - NStZ 2007, 639). vgl. dazu auch BGH, Urt. v. 18.4.2002 - 3 StR 52/02; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 154/08; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 84/08 - NStZ 2009, 258; BGH, Urt. v. 26.6.2008 - 3 StR 152/08; BGH, Urt. v. 17.3.2009 - 1 StR 627/08 - BGHSt 53, 221 - NJW 2009, 1979; BGH, Beschl. v. 28.10.2009 - 2 StR 383/09 - NStZ-RR 2010, 73; BGH, Beschl. v. 7.4.2010 - 4 StR 644/09; BGH, Beschl. v. 25.7.2011 - 1 StR 631/10; BGH, Urt. v. 19.10.2011 - 2 StR 172/11; BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 4 StR 494/12; BGH, Beschl. v. 19.11.2014 - 4 StR 497/14; BGH, Beschl. v. 11.2.2015 - 4 StR 498/14; BGH, Urt. v. 14.8.2014 - 4 StR 163/14; BGH, Beschl. v. 11.2.2016 - 2 StR 512/15 Rn. 5; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 21 Rn. 7; vgl. auch Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß NStZ 2005, 57, 58).

Bei der Beurteilung der Erheblichkeit einer Beeinträchtigung im Sinne des § 21 StGB fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt. Diese sind umso höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist (st. Rspr., vgl. BGH, Beschl. v. 8.3.2000 - 3 StR 64/00; BGH, Urt. v. 21.3.2001 - 1 StR 32/01; BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 53 - NJW 2004, 1810 - NStZ 2004, 437 f. m.w.N.; BGH, Urt. v. 12.7.2005 - 1 StR 65/05; BGH, Urt. v. 13.12.2005 - 1 StR 410/05 - NStZ 2006, 444; BGH, Urt. v. 26.6.2008 - 3 StR 152/08BGH, Beschl. v. 9.10.2008 - 1 StR 359/08 - wistra 2009, 25; BGH, Urt. v. 14.8.2014 - 4 StR 163/14), bei vorsätzlichen Tötungsdelikten also besonders hoch (BGH, Urt. v. 15.9.2005 - 4 StR 216/05; BGH, Beschl. v. 3.8.2004 - 1 StR 293/04; BGH, Urt. v. 28.9.2004 - 1 StR 317/04 - NStZ 2005, 149, 150). Dies zu beurteilen und zu entscheiden ist Sache des Richters, der allenfalls zur Beurteilung der Vorfrage nach den medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen sachverständiger Hilfe bedarf (BGHR StGB § 21 Erheblichkeit 2 m.w.N.; BGH, Urt. v. 23.8.2000 - 3 StR 224/00 - NStZ 2001, 82).

Schließt sich dabei der Tatrichter der Beurteilung des Sachverständigen an, muss er dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 19.11.2014 - 4 StR 497/14; BGH, Beschl. v. 17.6.2014  – 4 StR 171/14 - NStZ-RR 2014, 305, 306; BGH, Beschl. v. 2.10.2007  – 3 StR 412/07 - NStZ-RR 2008, 39 mwN; BGH, Beschl. v. 11.2.2016 - 2 StR 512/15 Rn. 5). 




[ Erheblichkeit ]

20.1
Bei der Frage, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit "erheblich" im Sinne des § 21 StGB ist, handelt es sich um eine Rechtsfrage, die der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beantworten hat und die dem Zweifelssatz nicht zugänglich ist (vgl. BGH, Beschl. v. 25.7.2006 - 4 StR 141/06 - NStZ-RR 2006, 335, 336 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 9.10.2008 - 1 StR 359/08 - wistra 2009, 25; BGH, Beschl. v. 16.3.2016 - 1 StR 402/15). Die erheblich eingeschränkte Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit ist keine bestimmte Beweistatsache, die zum tauglichen Gegenstand eines Beweisantrags gemacht werden kann (vgl. BGH, Urt. v. 2.9.2010 - 3 StR 273/10 - NStZ 2011, 106; LR-Becker, 26. Aufl., § 244 Rn. 98 m.w.N.).

  siehe auch m.w.N.:  In dubio pro reo --> Fallgestaltungen --> Rechtsfragen

Die rechtliche Erheblichkeit der Verminderung des Hemmungsvermögens hängt von den Anforderungen ab, die die Rechtsordnung an das Verhalten des einzelnen zu stellen hat. Dies zu bewerten und zu entscheiden ist Sache des Richters. Allein zur Beurteilung der Vorfrage nach den medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen bedarf er sachverständiger Hilfe, sofern er hierzu nicht aufgrund eigener Sachkunde befinden kann (vgl. BGH, Urt. v. 29.4.1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 77 - StV 1997, 460; BGH, Urt. v. 16.6.1998 - 1 StR 162/98 - StV 1999, 309, 310; BGH, Beschl. v. 6.11.2003 - 1 StR 406/03; BGH, Urt. v. 10.9.2003 - 1 StR 147/03; vgl. auch BGH, Urt. v. 21.8.2003 - 3 StR 234/03; BGH, Beschl. v. 6.10.2005 - 3 StR 328/05). Dabei darf sich der Tatrichter nicht einfach der Bewertung des Sachverständigen anschließen, ohne diese kritisch zu hinterfragen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 6.2.1997 - 4 StR 672/96 - BGHSt 42, 385, 388 f.; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 17; BGH, Beschl. v. 18.1.2000 - 4 StR 583/99 - NStZ-RR 2000, 299; BGH, Beschl. v. 18.1.2005 - 4 StR 532/04; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 154/08; BGH, Beschl. v. 27.10.2009 - 3 StR 369/09; speziell zu den Anforderungen an die Schuldfähigkeitsbeurteilung bei Sexualdelikten aus psychiatrischer Sicht Mauthe DRiZ 1999, 262 ff.). Der Sachverständige hat lediglich das zu ihrer Beantwortung notwendige medizinische Wissen dem Richter zu vermitteln (vgl. BGH, Urt. v. 18.4.2002 - 3 StR 52/02; BGH, Beschl. v. 3.8.2004 - 1 StR 293/04; BGH, Urt. v. 17.3.2009 - 1 StR 627/08 - BGHSt 53, 221 - NJW 2009, 1979). Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Feststellung der Anknüpfungstatsachen ebenfalls dem Tatrichter obliegt. Dieser muß Einlassungen eines Angeklagten, etwa im Rahmen einer Exploration gegenüber einem Sachverständigen -  für die es keine Beweise gibt, nicht ohne weiteres seinen Überzeugungen zugrundelegen (BGH, Urt. v. 21.8.2003 - 3 StR 234/03). Die Ausführungen dürfen nicht so allgemein gehalten sein, daß sich nicht zuverlässig beurteilen läßt, ob die festgestellte Störung den Schweregrad erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit sicher erreicht hat (vgl. zu den Schwierigkeiten dieser Einordnung BGH, Beschl. v. 18.1.2000 - 4 StR 583/99 - NZV 2000, 213, 214 m. Nachw. aus dem psychiatrischen Schrifttum; BGH, Beschl. v. 18.1.2005 - 4 StR 532/04).

Die ICD-10 zählt lediglich Erkrankungen und Verhaltensstörungen auf und ordnet sie ein. Eine Aussage dahin, dass die Schuldfähigkeit eines Täters im Sinne der §§ 20, 21 StGB berührt ist, trifft sie nicht. Die Aufnahme eines bestimmten Krankheitsbildes in den Katalog entbindet den Tatrichter daher nicht davon, konkrete Feststellungen zum Ausmaß der vorhandenen Störung zu treffen und ihre Auswirkungen auf die Tat darzulegen (BGH, Beschl. v. 28.5.2009 - 4 StR 101/09). Zwar besagt das Vorliegen eines bestimmten Zustandsbildes nach der Klassifikation ICD-10 noch nichts über das Ausmaß drogeninduzierter psychischer Störungen (vgl. BGH, Urt. v. 2.4.1997 - 2 StR 53/97 - NStZ 1997, 383). Gleichwohl weist eine solche Zuordnung in der Regel auf eine nicht ganz geringfügige Beeinträchtigung hin, dem der Tatrichter mit Hilfe des Sachverständigen nachgehen muß (BGH NStZ 1999, 630; BGH, Beschl. v. 2.12.1997 - 4 StR 581/97 - StV 1998, 342; BGH, Urt. v. 19.9.2000 - 1 StR 310/00 - StV 2001, 564). Die bloße Angabe einer Diagnose im Sinne eines der Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM- IV ersetzt weder die Feststellung eines der Merkmale des § 20 StGB noch belegt sie für sich schon das Vorliegen eines Zustands im Sinne des § 63 StGB (vgl. BGH, Beschl. v. 3.5.2000 - 2 StR 629/99 - wistra 2000, 339; BGH, Beschl. v. 21.9.2004 - 3 StR 333/04 - NStZ 2005, 326; BGH, Beschl. v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 - NStZ 2005, 205).

Das Gericht, das sich zur Prüfung der Hilfe eines Sachverständigen zu bedienen hat (§ 246a StPO), muß dessen Tätigkeit überwachen und leiten. Dazu gehört insbesondere auch die Prüfung, ob Grundlagen, Methodik und Inhalt des Gutachtens den anerkannten fachwissenschaftlichen Anforderungen genügen (BGH, Beschl. v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 - NStZ 2005, 205 ;zur Sachleitungs- und Prüfungspflicht des Gerichts vgl. Jähnke in LK 11. Aufl., § 20 Rdn. 89, 92 f.; Tröndle/Fischer aaO § 20 Rdn. 63, 64 a ff. mit Nachweisen zur Rechtsprechung). Auch die Feststellung einer "fixen" oder "überwertigen" Idee sagt noch nichts über die rechtliche "Erheblichkeit" eines solchen Zustandes, der fließende Übergänge von einer unterhalb der forensischen Erheblichkeitsschwelle liegenden seelischen Störung bis hin zu einer expansiv paranoischen Entwicklung aufweisen kann (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 25; BGH, Beschl. v. 8.1.2004 - 4 StR 539/03). Angesichts zahlreicher auffälliger Persönlichkeitsmerkmale, die sich auch im Werdegang und in der Vordelinquenz des Angeklagten niedergeschlagen haben, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten und seiner Entwicklung, der Tat selbst und auch dem Nachtatgeschehen (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4, 9, 16, 24, 29) erforderlich, um die Würdigung, es liege keine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB vor, nachvollziehbar zu begründen (vgl. BGH, Beschl. v. 30.9.2008 - 5 StR 305/08). 




Strafrahmenmilderung

25
Ob bei Annahme des § 21 StGB eine Milderung vorzunehmen oder zu versagen ist, hat der Tatrichter unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei ist bei verminderter Schuldfähigkeit grundsätzlich davon auszugehen, dass der Schuldgehalt der Tat verringert ist, so dass eine Strafrahmenmilderung vorzunehmen ist, wenn nicht andere, die Schuld erhöhende Gesichtspunkte dem entgegenstehen (BGH, Urt. v. 26.5.2004 - 2 StR 386/03; BGH NStZ 2004, 619; BGH, Urt. v. 15.2.2006 - 2 StR 419/05 - BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 40 - StV 2006, 465; BGH, Urt. v. 11.6.2008 - 5 StR 612/07 - NStZ 2008, 619; BGH, Beschl. v. 25.3.2014 - 1 StR 65/14; BGH, Beschl. v. 7.9.2015 - 2 StR 350/15; st. Rspr.; vgl. auch MüKo-Streng § 21 Rdn. 22; Tröndle/Fischer aaO § 21 Rdn. 18; jeweils m.w.N.) oder der Täter die Begehung von Straftaten vorausgesehen hat oder hätte voraussehen können, etwa, weil er aus früheren Erfahrungen weiß, dass er unter Alkohol- oder Drogeneinfluss zur Begehung von Straftaten neigt (BGH, Beschl. v. 7.9.2015 - 2 StR 350/15; BGH, Beschl. v. 25.3.2014 – 1 StR 65/14 - NStZ-RR 2014, 238, 239; BGH, Urt. v. 29.4.1997 – 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 78).

Bei der Entscheidung, ob dem Angeklagten die Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB zugute kommen soll, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Tatrichters (BGH, Beschl. v. 24.9.1990 – 4 StR 369/90 - BGHR § 21 Strafrahmenverschiebung 21; BGH, Urt. v. 17.8.2004 – 5 StR 93/04 - BGHSt 49, 239, 241), die revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist (BGH, Urt. v. 29.10.2008  – 5 StR 456/08 - NStZ 2009, 202, 203; BGH, Urt. v. 7.5.2009 – 5 StR 64/09 - NStZ 2009, 496, 497). Es ist Aufgabe des Tatrichters, auf Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen und gegeneinander abzuwägen (BGH, Urt. v. 24.3.2015 – 5 StR 6/15 Rn. 7; BGH, Urt. v. 31.7.2014 – 4 StR 216/14 Rn. 4). Welchen Umständen er bestimmendes Gewicht beimisst, ist im Wesentlichen seiner Beurteilung überlassen (st. Rspr.; siehe etwa BGH, Urt. v. 2.8.2012 – 3 StR 132/12 - NStZ-RR 2012, 336 f.; BGH, Beschl. v. 18.12.2007 – 5 StR 530/07 - NStZ-RR 2008, 310 f.; Fischer, StGB, 63. Aufl., § 46 Rn. 146 mwN; so zusammenfassend BGH, Beschl. v. 28.4.2016 - 4 ARs 16/15).


Im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Umstände ist dabei die selbst zu verantwortende Trunkenheit ein zu berücksichtigender Umstand unter anderen (vgl. BGH, Urt. v. 15.12.2005 – 4 StR 314/05; BGH, Urt. v. 23.2.2006 – 4 StR 444/05; BGH, Urt. v. 17.8.2004 – 5 StR 93/04 - BGHSt 49, 239, 241). Feste Regeln, die der Tatrichter bei dieser Abwägung zu beachten hätte, und insbesondere, welches Gewicht er einzelnen Umständen beizumessen hätte, befürwortet der 4. Strafsenat nicht (vgl. BGH, Beschl. v. 28.4.2016 - 4 ARs 16/15 Rn. 6). Im Rahmen der vom Tatrichter zu treffenden Ermessensentscheidung kann deshalb auch die selbst zu verantwortende Trunkenheit den Ausschlag dafür geben, im Einzelfall die Strafmilderung nach §§ 21, 49 StGB zu versagen (BGH, Beschl. v. 28.4.2016 - 4 ARs 16/15 Rn. 6).

siehe näher zur vorwerfbaren Trunkenheit unten Rz. 60.2
  




[ Gesamtschau ]

25.1
Die Beurteilung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB hat stets in bezug auf eine bestimmte Tat ("bei Begehung der Tat", §§ 20, 21 StGB) zu erfolgen (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4; ferner BGH, Urt. v. 20.8.2003 - 2 StR 166/03; BGH, Beschl. v. 18.1.2005 - 4 StR 532/04). In die Gesamtschau sind die Täterpersönlichkeit und deren Entwicklung, die Vorgeschichte, der unmittelbare Anlaß, die Ausführung der Tat sowie das Verhalten nach der Tat einzubeziehen (BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4, 9, 16, 24, 29; BGH, Beschl. v. 31.3.2004 - 5 StR 351/03). Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung muss ggfls. die sich aufdrängende Frage geprüft werden, ob eine festgestellte Persönlichkeitsstörung, die für sich betrachtet noch keine erhebliche Beeinträchtigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit herbeiführte, möglicherweise im Zusammenwirken mit der Alkoholisierung des Angeklagten bei den Taten dessen Fähigkeit, sich normgerecht zu verhalten im Vergleich zu einem voll schuldfähigen Menschen in erheblichem Maße einschränkte (vgl. BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 3, 5; BGH, Beschl. v. 17.7.2008 - 3 StR 232/08). Eine Strafrahmenverschiebung kann abzulehnen sein, weil sich der Angeklagte im Vorfeld der Tat geplant in eine Situation begeben hat, in welcher die Tat für ihn vorhersehbar war (vgl. BGH, Beschl. v. 31.3.2009 - 1 StR 76/09 - NStZ 2009, 397).

Wird andererseits trotz der Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit davon ausgegangen, dass keine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit gegeben war, muss auch dies näher erläutert werden (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 10; BGH NStZ 1996, 380; BGH, Beschl. v. 22.8.2001 - 1 StR 316/01 - StV 2002, 17).


Daß der Täter noch weiß, was er tut und welche Folgen sein Handeln hat, hat in erster Linie Bedeutung für den Ausschluß vollständiger Aufhebung der Schuldfähigkeit (§ 20 StGB), sagt aber über den Grad der Beeinträchtigung des Täters, sich noch steuern und den kriminellen Tatimpulsen widerstehen zu können, nicht in gleichem Maße etwas aus (vgl. BGH, Beschl. v. 5.11.2002 - 4 StR 419/02). 




[ Gewichtung ]

25.2
Über die fakultative Strafrahmenverschiebung nach den §§ 21, 49 Abs. 1 StGB entscheidet der Tatrichter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen aufgrund einer Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Umstände (vgl. BGH, Urt. v. 11.6.2008 - 5 StR 612/07 - NStZ 2008, 619). Die Anforderungen sind umso höher, je schwerwiegender das zu beurteilende Delikt ist (vgl. BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 52 f. - NJW 2004, 1810; BGH, Beschl. v. 21.9.2004 - 3 StR 333/04 - NStZ 2005, 326, 327; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 84/08 - NStZ 2009, 258; BGH, Urt. v. 26.6.2008 - 3 StR 152/08; Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß NStZ 2005, 57, 58; siehe auch oben Rdn. 20). 




- Lebenslange und zeitige Freiheitsstrafe

25.2.1
An die Versagung einer gemäß § 21, 49 Abs. 1 StGB grundsätzlich möglichen Strafrahmenverschiebung sind, wenn die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes in Frage steht (§ 211 Abs. 1 StGB) hohe Anforderungen zu stellen (vgl. BGH, Urt. v. 14.7.1992 - 1 StR 302/92 - NStZ 1992, 538; BGH, Urt. v. 17.6.2004 - 4 StR 54/04; BGH, Urt. v. 17.8.2004 - 5 StR 93/04 - BGHSt 49, 239 - NJW 2004, 3350; BGH, Urt. v. 11.6.2008 - 5 StR 612/07 - NStZ 2008, 619; BGH, Urt. v. 29.10.2008 - 2 StR 349/08 - BGHSt 53, 31 - NJW 2009, 305; BGH, Beschl. v. 20.1.2009 - 3 StR 505/08; vgl. auch BGH, Beschl. v. 23.9.2009 - 5 StR 287/09 - NStZ-RR 2010, 7). Wenn allein die Wahl zwischen lebenslanger Freiheitsstrafe und einer zeitigen Freiheitsstrafe besteht, müssen besonders erschwerende Gründe vorliegen, um die mit den Voraussetzungen des § 21 StGB verbundene Schuldminderung so auszugleichen, daß die gesetzliche Höchststrafe verhängt werden darf (st. Rspr., vgl. BGHR § 21 Strafrahmenverschiebung 7, 8, 12, 18, 25; BGH. Urt. v. 17.6.2004 - 4 StR 54/04; BGH, Urt. v. 17.8.2004 - 5 StR 93/04 - BGHSt 49, 239 - NJW 2004, 3350; BGH, Urt. v. 29.10.2008 - 2 StR 349/08 - BGHSt 53, 31 - NJW 2009, 305). An die Strafrahmenverschiebung sind angesichts der absoluten Androhung lebenslanger Freiheitsstrafe geringere Anforderungen zu stellen (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 59; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 40; BGH, Beschl. v. 30.9.2008 - 5 StR 305/08; BGH, Beschl. v. 25.11.2008 - 5 StR 500/08 - NStZ-RR 2009, 70). Der Bundesgerichtshof hat in BGH, Urt. v. 29.10.2008 - 2 StR 349/08 - BGHSt 53, 31 - NJW 2009, 305 offen gelassen, ob die an dieser Rechtsprechung geübte und im Wesentlichen mit dem Hinweis auf das Schuldprinzip begründete Kritik berechtigt ist (vgl. Schöch in LK 12. Aufl. § 20 Rdn. 140 ff.; Streng in MüKo StGB § 21 Rdn. 24; Fischer StGB 55. Aufl. § 20 Rdn. 34, 56 ff.; § 21 Rdn. 15, 24 m.w.N.).  




- Annahme nach dem Zweifelsatz

25.2.2
Es ist rechtsfehlerhaft, der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit deswegen ein geringeres Gewicht beizumessen, weil sie nicht erwiesen, sondern nach dem Zweifelssatz lediglich unterstellt wurde (st. Rspr.; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 4, 17; BGH, Beschl. v. 30.3.2004 - 4 StR 42/04; Tröndle/Fischer aaO § 21 Rdn. 18 m.w.N.). 




[ Verminderte Schuldfähigkeit und strafschärfende Zumessungserwägungen ]

25.3
Zwar ist es nicht ausgeschlossen, bei der Zumessung der Strafe für einen Täter, dessen Steuerungsfähigkeit zur Zeit der Tat erheblich vermindert war, Tatmodalitäten, wie den Anlaß für die Begehung der Tat oder eine rohe und brutale Tatausführung, strafschärfend zu werten. Der Tatrichter muß sich aber der Frage stellen, ob und inwieweit diese Erschwerungsgründe gerade auf der geistig-seelischen Ausnahmesituation des Täters beruhen, die zur Anwendung des § 21 StGB geführt hat. Kommt dies in Betracht, so können derartige Gesichtspunkte dem Angeklagten jedenfalls nicht uneingeschränkt strafschärfend angelastet werden (st. Rspr., vgl. nur BGHR StGB § 21 Strafzumessung 1 bis 9, 11, 12, 14, 15 und 18; BGH, Urt. v. 6.2.2001 - 5 StR 579/00 - NStZ 2001, 477; BGH, Beschl. v. 12.3.2002 - 4 StR 38/02; vgl. auch BGH, Beschl. v. 27.3.2012 - 2 StR 41/12 betr. Prüfung eines besonders schweren Falls). So darf etwa die Art der Tatausführung einem Angeklagten nur dann uneingeschränkt strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, soweit ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt (vgl. BGH, Beschl. v. 29.11.2011 - 3 StR 375/11 mwN; BGH, Urt. v. 16.2.2012 - 3 StR 346/11; BGH, Beschl. v. 27.3.2012 - 2 StR 41/12; BGH, Beschl. v. 18.6.2013 – 2 StR 104/13; BGH, Urt. v. 14.8.2013 - 2 StR 574/13; Fischer, StGB, 59, Aufl., § 46 Rn. 2). Handlungsmodalitäten, die Anzeichen für eine erhebliche seelischen Beeinträchtigung sind, dürfen nicht als besondere Strafschärfungsgründe bewertet werden (vgl. BGH, Beschl. v. 4.3.1993 - 2 StR 520/92 - NStZ 1993, 342, 343; BGHR StGB § 21 Strafzumessung 14). Eine Vielzahl von Verletzungshandlungen ist häufig eher ein Anzeichen für eine seelische Beeinträchtigung als Ausdruck besonderer verbrecherischer Energie (vgl. BGHR StGB § 21 Strafzumessung 7; BGH, Urt. v. 7.8.2001 - 1 StR 174/01 - NStZ 2001, 647). Dies bedeutet freilich nicht, daß sie bei der Bewertung der Tat im Rahmen der Strafzumessung unberücksichtigt bleiben müssen (vgl. BGHR StGB § 21 Strafzumessung 10). Liegt kein Fall vor, in dem sich die Art der Tatausführung gerade aus dem die Annahme verminderter Schuldfähigkeit begründenden Zustand des Täters erklärt, ist die „brutale“ Tatausführung ein zulässiger Strafschärfungsgrund, selbst wenn dem Angeklagten erheblich verminderte Schuldfähigkeit zugutegehalten wird (vgl. BGH, Urt. v. 14.8.2013 - 2 StR 574/13).

  siehe auch: Strafzumessung, § 46 StGB --> Rdn. 75 u. 125.8; § 240 StGB Rdn. 75

Handlungsmodalitäten, die weniger Ausdruck einer sich frei entfaltenden verbrecherischen Energie, sondern eher Anzeichen für die Stärke einer seelischen Beeinträchtigung sind, dürfen einem vermindert Schuldfähigen grundsätzlich nicht uneingeschränkt angelastet werden (vgl. BGHR StGB § 21 Strafzumessung 7, 11, 12, 14; BGH, Beschl. v. 3.12.2003 - 5 StR 473/03).


Ob und gegebenenfalls in welchem Maße das brutale Vorgehen gerade durch die verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten beeinflusst war, bedarf im Einzelfall der Erörterung. Denn in diesem Fall darf dem Angeklagten die Handlungsintensität in dem Umfang, in dem sie auf die erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit zurückgeht, nicht uneingeschränkt zum Vorwurf gemacht und straferschwerend angelastet werden (vgl. BGHR StGB § 21 Strafzumessung 1 bis 5; BGH, Beschl. v. 26.7.2006 - 5 StR 277/06). Dort waren die für das Opfer besonders belastenden Begleitumstände der Tat, die in der massiven gemeinschaftlichen Vorgehensweise der Täter lagen, andererseits ersichtlich von Gruppendynamik geprägt, welcher ein erheblich enthemmter, zumal noch junger, mit der Tatinitiative der Mittäter überraschend konfrontierter Täter weniger Widerstand entgegenzusetzen vermag als ein uneingeschränkt schuldfähiger Täter (vgl. BGH, a.a.O.).  




Gutachten

30
Zur Vermittlung der medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen im Hinblick auf die Diagnose einer psychischen Störung, deren Schweregrad und deren innerer Beziehung zur Tat wird der Richter auf sachverständige Hilfe angewiesen sein, sofern er hierzu nicht aufgrund eigener Sachkunde befinden kann (vgl. BGH, Beschl. v. 6.11.2003 - 1 StR 406/03 - BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 15, mwN; BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12). Dabei bedarf es der Darlegung der Störung anhand der vier Eingangsmerkmale und dazu, in welchem Ausmaß die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aus fachwissenschaftlicher Sicht bei der Tat beeinträchtigt waren. Vom Sachverständigen wird keine juristisch normative Aussage erwartet, sondern eine empirisch vergleichende über das Ausmaß der Beeinträchtigung des Täters, etwa im Vergleich zum Durchschnittsmenschen oder anderen Straftätern (BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12). 

Die richterliche Sachkunde reicht für die Beurteilung der Schuldfähigkeit jedenfalls bei Auftreten von Besonderheiten in der Regel nicht aus (vgl. BGH, Urt. v. 28.9.2004 – 1 StR 317/04 - BGHR StGB § 21 Sachverständiger 12; BGH, Beschl. v. 23.2.2011 - 5 StR 24/11; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 20 Rn. 16, 32 mwN).
 




[ Entscheidung des Tatrichters ]

30.1
Bei der Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Annahme verminderter Schuldfähigkeit - insbesondere der auch normativ geprägten Beurteilung der Erheblichkeit der Verminderung von Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit (vgl. BGH, Urt.. v. 17.3.2009 - 1 StR 627/08 - BGHSt 53, 221, 223 Rn. 15 ff.; BGH, Urt. v. 19.10.2011 - 2 StR 172/11 Rn. 4) - handelt es sich um Rechtsfragen. Das abschließende Urteil über die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ist ausschließlich Sache des Richters (BGH, Urt. v. 26.4.1955 - 5 StR 86/55 - BGHSt 8, 113, 124; BGH, Urt. v. 10.9.2003 - 1 StR 147/03 - BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 14; BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 53; SSW-StGB/Schöch § 20, Rn. 13). Der Tatrichter hat die Darlegungen des Sachverständigen daher zu überprüfen und rechtlich zu bewerten. Außerdem ist er verpflichtet, seine Entscheidung in einer für das Revisionsgericht nach-prüfbaren Weise zu begründen (BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12).

Ob eine "erhebliche" Verminderung der Steuerungsfähigkeit vorliegt, ist eine nicht vom Gutachter, sondern - auf der Grundlage der Anknüpfungs- und Befundtatsachen - vom Tatrichter zu beantwortende Rechtsfrage (st. Rspr.; BGH, Urt. v. 26.8.1999 - 4 StR 329/99 - NStZ 2000, 24 und 469 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 6.3.2002 - 4 StR 29/02; BGH, Beschl. v. 25.6.2009 – 5 StR 174/09 - NStZ-RR 2009, 337; BGH, Beschl. v. 17.8.2011 - 5 StR 261/11). Der Tatrichter hat das Gutachten des Sachverständigen im Rahmen seiner Gesamtwürdigung aller Tatsachen und Beweise eigenverantwortlich zu bewerten (vgl. BGHSt 7, 238, 239) und weiterzuverarbeiten. Er kann dabei zwar die psychiatrischen Feststellungen und Wertungen zur Art und zum Ausmaß des Vorliegens einer Störung im Sinne der psychiatrischen Krankheitslehren übernehmen, dies aber nur, wenn er nach eigener Überprüfung zu denselben Resultaten gelangt (BGH, Beschl. v. 9.10.2012 - 2 StR 297/12).
 




[ Hinzuziehung eines Sachverständigen ]

30.2
   zur Gutachterauswahl und zur persönlichen Gutachtenerstattung des Sachverständigen (Delegationsverbot) siehe § 73 StPO Rdn. 5 u. 7 sowie § 246a StPO Rdn. 5 ff.
 

- Verletzungen mit Gehirnbeteiligung

30.2.1
Bei Verletzungen mit Gehirnbeteiligung gehört die Beurteilung der Auswirkungen auf die Steuerungsfähigkeit zu denjenigen Fragen, für die eigene Sachkunde des Tatrichters regelmäßig nicht ausreicht. Die Beiziehung der Krankenunterlagen und die Anhörung eines medizinischen Sachverständigen drängen sich dann oft auf (vgl. dazu BGHR StGB § 21 Sachverständiger 1, 2, 4, 8; BGH, Beschl. v. 8.5.2001 - 1 StR 137/01 - NStZ 2001, 475).

Die Beurteilung der Auswirkung von Unfällen mit Hirnbeteiligung auf die Steuerungsfähigkeit eines Angeklagten gehört regelmäßig zu den Fragen, für die die Sachkunde des Tatrichters nicht ausreicht (BGHR StGB § 20 - Sachverständiger 2, 3, 4; § 21 StGB - Sachverständiger 1, 2, 4; StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 - Sachkunde 3). Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos; liegt die Auswirkung eines weit zurückliegenden Unfalls, sei es mit Rücksicht auf die weitere Lebensgeschichte des Angeklagten, sei es wegen der Unbestimmtheit des Beweisvorbringens völlig fern, so kann der Tatrichter ausnahmsweise für sich die eigene Sachkunde in Anspruch nehmen (BGH, Beschl. v. 12.11.1991 - 5 StR 492/91 - NStZ 1992, 225; BGH, Beschl. v. 24.1.2001 - 5 StR 523/00).

Im Urteil muss regelmäßig der konkrete Befund und eine klare medizinische Diagnose mitgeteilt werden, wenn das Gericht im Rahmen der Prüfung der Schuldfähigkeit von einer "Hirnverletzung" und einer "organischen Persönlichkeitsveränderung" ausgeht (vgl. BGH, Beschl. v. 26.3.2002 - 2 StR 59/02).




- Kapitalstrafsachen

30.2.2
Ein Rechtssatz des Inhalts, dass der Tatrichter in Kapitalstrafsachen, zumal im Bereich der Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht, aus Gründen der Aufklärungspflicht stets gehalten ist, einen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens zur Schuldfähigkeit zu betrauen, existiert nicht (BGH, Beschl. v. 9.5.2007 - 1 StR 32/07 - BGHSt 51, 333 ff. - NJW 2007, 2501, 2503 f.). Unabhängig von den Umständen des Einzelfalles ist nach gesetzlicher Wertung (§ 246a StPO) ein Sachverständiger nur dann stets heranzuziehen, wenn bestimmte Maßregeln der Besserung und Sicherung im Raum stehen, nicht schon bei bestimmten Anklagevorwürfen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Entscheidungen des BGH vom 30. August 2007 (BGH, Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 193/07 - BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Sachkunde 13 - StV 2008, 621; BGH, Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 197/07 - BGHR StGB § 21 Sachverständiger 13). Maßgeblich sind auch bei Kapitalstrafsachen vielmehr stets die Umstände des Einzelfalles. Namentlich dann, wenn dem Tatentschluss - und sei er auch spontan gefasst - rationale Abwägungen zugrunde liegen und wenn dieser Entschluss auch die nahe liegenden Tatfolgen mit umfasst, ist der Tatrichter nicht gedrängt, die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB durch Beauftragung eines Sachverständigen zu überprüfen. Das Revisionsgericht kann vielmehr regelmäßig davon ausgehen, dass der Tatrichter über die notwendige Sachkunde verfügt, um zu beurteilen, ob mit Blick auf das Tatbild und die Person eines Angeklagten die Hinzuziehung eines psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit geboten ist (BGH, Beschl. v. 5.3.2008 - 1 StR 648/07 - BGHR StPO § 244 Abs. 2 Sachverständiger 20 - StV 2008, 618).

Demgegenüber hat der 5. Strafsenat wiederholt betont, dass es sich bei - jedenfalls nicht von langer Hand geplanten - Tötungsdelikten, insbesondere im Bereich des Jugendstrafrechts, in der Mehrzahl der Fälle als sachgerecht erweist, einen psychiatrischen Sachverständigen beizuziehen. Daher ist insoweit eine fehlende oder nur knappe, allein auf gerichtliche Sachkunde gestützte Begründung für das Vorliegen uneingeschränkter Schuldfähigkeit schon sachlich-rechtlich nicht unbedenklich (vgl. BGH, Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 193/07 - BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Sachkunde 13 - StV 2008, 621; BGH, Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 197/07 - BGHR StGB § 21 Sachverständiger 13; BGH, Beschl. v. 6.7.2011 - 5 StR 230/11). Eine Verletzung der Aufklärungspflicht durch Nichthinzuziehung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit liegt regelmäßig nicht fern (vgl. BGH, Beschl. v. 13.10.2005 - 5 StR 278/05 - NStZ 2006, 49; BGH, Beschl. v. 29.11.2006 - 5 StR 329/06; BGH, Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 193/07 - StV 2008, 621; BGH, Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 197/07 - BGHR StGB § 21 Sachverständiger 13; BGH, Urt. v. 15.4.2008 - 5 StR 44/08). Maßgeblich sind insoweit die Umstände des Einzelfalls (BGH, Beschl. v. 5.3.2008 – 1 StR 648/07 - BGHR StPO § 244 Abs. 2 Sachverständiger 20; BGH, Beschl. v. 6.7.2011 - 5 StR 230/11).

 siehe auch:  § 261 StPO Rdn. 75 § 246a StPO Rdn. 5

Die Notwendigkeit der Zuziehung eines Sachverständigen kann sich schon aus den Besonderheiten der Tat ergeben - Tötung und Zerstückelung -, so sie dem Angeklagten zugerechnet werden kann. In der zur Frage der Leichenzerstückelung und Leichenbeseitigung veröffentlichten Literatur werden Täter, die alsdann als zur Leichenzerstückelung fähig sind, ausnahmslos als psychisch abnorme Persönlichkeiten charakterisiert, bei denen schwere Neurosen bzw. Schizophrenie festgestellt wurden (BGH, Beschl. v. 23.2.2000 - 3 StR 15/00).




- Maßregelanordnung

30.2.3
Eigene Sachkunde des Gerichts kann nicht die maßnahmespezifische Untersuchung gemäß § 246a Satz 1 StPO durch einen Sachverständigen ersetzen (vgl. BGHR StPO § 246 a Satz 2 Sachverständiger 1; BGH, Beschl. v. 14.3.2001 - 3 StR 58/01 - StV 2001, 665).

 siehe auch:  Zuziehung eines Sachverständigen, § 246a StPO; zur Auswahl:  Auswahl des Sachverständigen, § 73 StPO




[ Methoden des Sachverständigen ]

30.3
Bei der forensischen Begutachtung hat sich der Sachverständige methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Existieren mehrere anerkannte und indizierte Verfahren, so steht deren Auswahl in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Dabei ist der Sachverständige - unbeschadet der Sachleitungsbefugnis durch das Gericht - frei, von welchen inhaltlichen Überlegungen und wissenschaftlichen Methoden er bei Erhebung der maßgeblichen Informationen ausgeht und welche Gesichtspunkte er für seine Bewertung des Ausprägungsgrades für maßgeblich hält. In seinem Gutachten hat er nach den Geboten der Nachvollziehbarkeit und der Transparenz für alle Verfahrensbeteiligten nach Möglichkeit darzulegen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen und auf welchem Weg er zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist (vgl. BGH, Urt. v. 12.2.1998 - 1 StR 588/97 - BGHSt 44, 26, 33 - NJW 1998, 2458; BGHSt 45, 164, 169; BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45 - NJW 2004, 1810; st. Rspr.).




[ Inhaltliche Brauchbarkeit des Gutachtens ]

30.4
Entscheidend für die inhaltliche Brauchbarkeit des Gutachtens ist, ob es wissenschaftlich hinreichend begründete Aussagen über den Zusammenhang zwischen einer diagnostizierten psychischen Störung und der Tat enthält, welche Gegenstand des Verfahrens ist. Es ist also - unabhängig von der Einordnung unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB - im einzelnen konkret darzulegen, ob und ggf. wie sich die Störung auf das Einsichts- oder Hemmungsvermögen des Beschuldigten tatsächlich ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 - NStZ 2005, 205; Lenckner/Perron in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 20 Rdn. 31).

Zu den Anforderungen an ein psychiatrisches Sachverständigengutachten über die Schuldfähigkeit des Angeklagten und die Voraussetzungen seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie zu den Prüfungsanforderungen an das Gericht bei Vorliegen eines methodenkritischen Gegengutachtens (BGH, Beschl. v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 - Ls. - NStZ 2005, 205).

Zu den formellen und inhaltlichen Anforderungen, die in der Rechtsprechung und forensisch-psychiatrischen wissenschaftlichen Literatur an entsprechende Gutachten gestellt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 12.11.2004 - 2 StR 367/04 - NStZ 2005, 205; im einzelnen etwa Foerster/Venzlaff, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. 2004, S. 31 ff.; Foerster/Leonhardt, ebd. S. 43, 47 f.; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1996, S. 274, 282 ff.; Rasch, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1999, S. 313 ff.; Heinz, Fehlerquellen forensisch-psychiatrischer Gutachten, 1992; Venzlaff, Fehler und Irrtümer in psychiatrischen Gutachten, NStZ 1983, 199; Maisch, Fehlerquellen psychologisch-psychiatrischer Begutachtung im Strafprozeß, StV 1985, 517; jeweils m.w.N.).


Bedenklich ist es, den Schweregrad einer Depression in die Beurteilung von ungeschulten medizinischen Laien (etwa eines Bewährungshelfers) zu stellen und maßgeblich auch auf dieser Grundlage das Vorliegen einer für die Anwendung von § 21 StGB beachtlichen mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression abzulehnen (vgl. BGH, Beschl. v. 31.3.2004 - 5 StR 351/03).

Prüfschema nach Prof. Saß (sog. "Saß-Kriterien", im Wortlaut wieder gegeben z.B. bei Theune NStZ 1999, 273, 274 und bei Tondorf in Anwaltshandbuch Strafrecht Kap. D, Rz. 44; siehe auch BGH, Urt. v. 28.9.2004 – 1 StR 317/04 - NStZ 2005, 149 f.), auf das die Rechtsprechung schon vielfach hingewiesen hat (vgl. z.B. BGH StV 1990, 439; BGHR StGB § 20 Affekt 3; BGH NStZ-RR 1997, 296 jew. m.w.Nachw.; BGH, Urt. v. 28.9.2004 - 1 StR 317/04 - NStZ 2005, 149; BGH, Urt. v. 13.7.2016 - 1 StR 128/16 Rn. 16).
 




[ Begründung des Tatrichters ]

30.5
Die Anforderungen an die Darlegungen in einem Urteil zur Überprüfung und Bewertung sachverständiger Äußerungen durch das Gericht sind nicht immer gleich. Liegt ein in sich stimmiges, in seinen Feststellungen und Beurteilungen ohne weiteres nachvollziehbares Sachverständigengutachten vor, werden häufig nach dessen Darstellung knappe Ausführungen genügen, aus denen insbesondere folgt, dass sich das Gericht erkennbar bewusst war und danach entschieden hat, dass es allein seine Aufgabe ist, das abschließende normative Urteil über die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit zu treffen, auch wenn es dem Sachverständigen letztlich uneingeschränkt folgt. Unnötige Wiederholungen sind auch in diesem Bereich zu vermeiden. Anders ist es, wenn die sachverständigen Äußerungen zur Steuerungsfähigkeit nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind, Lücken aufweisen oder im Widerspruch zu sonstigen Feststellungen und Bewertungen des Tatrichters stehen (vgl. BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12).

Bei seiner Beurteilung ist der Tatrichter nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen (vgl. BGH, Urt. v. 26.5.2010 - 2 StR 48/10). Dem Gutachten eines Sachverständigen darf sich das Gericht auch nicht einfach anschließen (vgl. hierzu u. a. BGH, Urt. v. 8.3.1955 – 5 StR 49/55 - BGHSt 7, 238; BGH, Urt. v. 18.12.1958 – 4 StR 399/58 - BGHSt 12, 311; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 17; BGH NJW 1997, 1645, 1646; Engelhardt in KK 4. Aufl. § 261 Rdn. 32; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 261 Rdn. 92; vgl. zur Inhaltskontrolle psychiatrischer Gutachten durch das Revisionsgericht BGH NJW 1998, 3654 f.; Maatz in Marneros/Rössner/Haring/Brieger (Hrsg.), Psychiatrie und Justiz, 2000, S. 20 ff.). Will es dem Ergebnis ohne Angabe eigener Erwägungen folgen, so müssen in den Urteilsgründen wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen wiedergegeben werden, so wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (vgl. BGHSt 7, 238, 240; 12, 311, 314 f.; 34, 29, 31; BGH NStZ-RR 1996, 258; BGH NStZ 1999, 610, 611; BGH, Beschl. v. 10.10.2000 - 1 StR 420/00 - StV 2002, 18; BGH, Beschl. v. 15.2.2001 - 3 StR 546/00; BGH, Urt. v. 24.10.2001 - 3 StR 272/01 - NStZ 2002, 141; BGH, Beschl. v. 12.12.2001 - 4 StR 498/01; BGH, Urt. v. 22.10.2002 - 5 StR 275/02; BGH, Beschl. v. 8.4.2003 - 3 StR 79/03; BGH, Beschl. v. 23.9.2003 - 1 StR 343/03; BGH NStZ-RR 2003, 232; BGH, Beschl. v. 10.8.2004 - 3 StR 243/04; BGH, Beschl. v. 21.9.2004 - 3 StR 333/04 - NStZ 2005, 326; BGH, Urt. v. 15.3.2006 - 2 StR 573/05; BGH, Beschl. v. 2.10.2007 - 3 StR 412/07; BGH, Urt. v. 19.2.2008 - 5 StR 599/07; BGH, Beschl. v. 26.5.2009 - 5 StR 57/09; BGH, Beschl. v. 20.5.2010 - 5 StR 104/10; BGH, Beschl. v. 2.12.2011 - 5 StR 419/11; BGH, Beschl. v. 24.5.2012 - 5 StR 52/12; BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 2 StR 139/12; BGH, Beschl. v. 23.10.2013 - 5 StR 358/13; BGH, Beschl. v. 28.1.2016 - 3 StR 521/15; Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. § 267 Rdn. 13; Engelhardt in KK 4. Aufl. § 261 Rdn. 32).

Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass sich das Tatgericht die notwendige Selbständigkeit gegenüber der Bewertung des Sachverständigen bewahrt hat (vgl. BGHSt 42, 385, 388 f.; BGH NZV 2000, 213, 214; BGH, Beschl. v. 6.3.2002 - 4 StR 29/02). Durch das Einkopieren wesentlicher Teile des lediglich vorbereitenden Sachverständigengutachtens ist regelmäßig keine sachgerechte Urteilsfassung gewährleistet (vgl. BGH, Beschl. v. 30.9.2008 - 5 StR 251/08 - StraFo 2009, 107). Der Tatrichter wird seiner Aufgabe, sich eine eigene Überzeugung über den Zustand des Angeklagten zu bilden, grundsätzlich nicht dadurch gerecht, daß er lediglich die Befunde des Sachverständigen wiedergibt, ohne sich mit diesen auseinanderzusetzen (BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 17; BGH, Beschl. v. 10.10.2000 - 1 StR 420/00 - StV 2002, 18; BGH, Beschl. v. 7.11.2002 - 5 StR 401/02 - wistra 2003, 97).

Eine unklar bleibende "Verdachtsdiagnose", der sich das Gericht ohne eigene Bewertung und Gewichtung auch unter Berücksichtigung des Tatgeschehens anschließt, ist für die Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht ausreichend (vgl. BGH, Urt. v. 22.10.2002 - 5 StR 275/02).


Beispiel: Wird zur Begründung etwa lediglich ausgeführt der Sachverständige habe in seinem mündlich vorgetragenen Gutachten nachvollziehbar und in sich widerspruchsfrei ausgeführt, daß bei dem Angeklagten zwar ein schädlicher Gebrauch von Alkohol vorliege, dieser sich zum Tatzeitpunkt aber nicht so ausgewirkt habe, daß die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten erheblich beeinträchtigt gewesen sei, genügt dies schon deshalb nicht, die Voraussetzungen des § 21 StGB rechtsfehlerfrei auszuschließen, weil sich das Urteil zu der im Hinblick auf den Alkoholkonsum des Angeklagten maßgeblichen Frage, ob dieser zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten geführt haben könnte, nicht verhält. Zudem hätten die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen im Urteil so wiedergegeben werden müssen, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (vgl. BGHSt 34, 29, 31; BGH NStZ-RR 1996, 258; BGH, Beschl. v. 10.9.2002 - 4 StR 318/02; Engelhardt in KK 4. Aufl. § 261 Rdn. 32 m.w.N.).

Will das Gericht eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe erforderlich gehalten hat, im Widerspruch zu dem Gutachten beantworten, muß es die Gründe hierfür in einer Weise darlegen, die dem Revisionsgericht die Nachprüfung erlaubt, ob es das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat. Hierzu bedarf es einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit den Darlegungen des Sachverständigen, insbesondere zu den Gesichtspunkten, auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1 und 5; BGH NStZ-RR 1997, 172; BGH, Beschl. v. 13.9.2001 - 3 StR 333/01; BGH, Urt. v. 1.4.2009 - 2 StR 601/08 - NStZ 2009, 571; BGH, Urt. v. 10.12.2009 - 4 StR 435/09 - NStZ-RR 2010, 105; BGH, Urt. v. 26.5.2010 - 2 StR 48/10; Fischer StGB 56. Aufl. § 20 Rdn. 65).

 siehe hierzu näher: Urteilsgründe, § 267 StPO --> Rdn. 55 - Bewertung im Widerspruch zum Gutachten;  Beweiswürdigung (zu § 261 StPO) Rdn. 30.9 - Psychische Auffälligkeiten des Zeugen und Rdn. 55 - Gutachten;  § 261 StPO Rdn. 80 - Eigene Sachkunde des Gerichts
 




- Abweichungen zwischen vorbereitenden schriftlichem und in der Hauptverhandlung erstattetem Gutachten

30.5.5
Entsprechen die im Urteil mitgeteilten Ausführungen des Sachverständigen in der Hauptverhandlung nicht dem Ergebnis seines vorbereitenden schriftlichen Gutachtens, kann dieses aber nicht Urteilsgrundlage sein, sondern allein das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten (BGH, Beschl. v. 12.2.2008 - 1 StR 649/07; BGH, Beschl. v. 23.8.2012 - 1 StR 389/12). Für dessen Würdigung kann es jedoch bedeutsam sein, wenn der Sachverständige im Laufe des Verfahrens seine Meinung geändert hat (BGH, Beschl. v. 12.9.2007 - 1 StR 407/07). Ohne dass damit notwendig jeder denkbare Einzelfall - dessen Umstände stets maßgeblich sind - erfasst wäre, lassen sich jedenfalls die folgenden Fallgestaltungen unterscheiden:

a) Sind in ihrer Bedeutung klar erkennbare neue Erkenntnisse angefallen (etwa wenn sich für die Beurteilung seines innerpsychischen Zustands wichtige Angaben des Angeklagten als falsch erwiesen haben [vgl. z.B. BGH, Urt. v. 28.8.2007 - 1 StR 268/07; BGH, Urt. v. 31.5.2005 - 1 StR 290/04]), bedürfte eine hierauf beruhende Änderung der Auffassung des Sachverständigen keiner besonderen Erklärung (vgl. BGH, Beschl. v. 23.8.2012 - 1 StR 389/12).

b) Beruhte die Änderung auf für die übrigen Verfahrensbeteiligten weniger offenkundigen Erkenntnissen (etwa wenn der Sachverständige wegen Unterschieden des Aussageverhaltens in der Hauptverhandlung und bei der Exploration die Glaubwürdigkeit des Zeugen nunmehr anders einschätzt [vgl. z.B. BGH, Urt. v. 5.12.1995 - 1 StR 580/95]), müssten sich allein daraus - ebenfalls - noch keine Bedenken gegen das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten ergeben. Die für die Änderung maßgeblichen Gesichtspunkte wären aber eingehender als die für jedermann erkennbare Änderung von Erkenntnissen zu erläutern und sollten zweckmäßigerweise - zumindest knapp - auch in den Urteilsgründen dargelegt werden (BGH, Beschl. v. 23.8.2012 - 1 StR 389/12; vgl. schon BGHSt 8, 113, 116 mwN).


c) In einem - nach forensischer Erfahrung allenfalls seltenen - Fall, in dem ein Sachverständiger überhaupt keinen (nachvollziehbaren) Grund für die Änderung seiner Auffassung nennen könnte, würde dies allerdings Zweifel an seiner Sachkunde wecken und die Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen nahelegen. Jedenfalls könnten danach die Ausführungen dieses Sachverständigen allein schwerlich maßgebliche Grundlage richterlicher Überzeugungsbildung sein (BGH, Beschl. v. 23.8.2012 - 1 StR 389/12). 




In dubio pro reo

35
Der Grundsatz "in dubio pro reo" findet bei der Entscheidung, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit als "erheblich" im Sinne von § 21 StGB anzusehen ist, keine Anwendung (vgl. BGH, Urt. v. 30.8.2006 - 2 StR 198/06). Denn hierbei handelt es sich um eine Rechtsfrage. Auf diese kann der Zweifelssatz nicht angewendet werden (vgl. BGH, Urt. v. 26.8.1999 - 4 StR 329/99 - NStZ 2000, 24 m.w.N.; BGH, Urt. v. 1.4.2009 - 2 StR 601/08 - NStZ 2009, 571; BGH, Urt. v. 2.9.2010 - 3 StR 273/10 - NStZ 2011, 106). Anwendung findet der Zweifelssatz jedoch bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit, wenn nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf die tatsächliche Grundlagen und Anknüpfungspunkte, etwa Art und Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen (vgl. BGHSt 14, 68, 73; BGH NStZ 1996, 328 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 8.5.2001 - 1 StR 168/01; BGH, Beschl. v. 25.7.2006 - 4 StR 141/06 - NStZ-RR 2006, 335; BGH, Urt. v. 2.9.2010 - 3 StR 273/10 - NStZ 2011, 106; BGH, Beschl. v. 6.3.2013 - 5 StR 13/13). Entsprechendes hat auch zu gelten, wenn tatsächliche Zweifel daran bestehen, ob und in welchem Maße sich eine angenommene schwere seelische Störung auf die Tatentstehung ausgewirkt hat (BGH, Beschl. v. 6.3.2013 - 5 StR 13/13).

Insoweit darf einer erheblichen Schuldminderung nicht etwa deswegen geringeres Gewicht beigemessen werden, weil sie nicht positiv festgestellt, sondern lediglich aufgrund des Zweifelssatzes unterstellt worden ist (BGH StV 1992, 117; BGH, Beschl. v. 12.10.2005 - 1 StR 369/05).

 siehe auch: 
In dubio pro reo --> Rdn. 50.13 - Erhebliche Schuldminderung u. Gewichtung 



Betäubungsmittelabhängigkeit




Abhängigkeit und § 21 StGB

40
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs begründet die Abhängigkeit von Betäubungsmitteln für sich allein noch nicht die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB (vgl. BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12 m. w. N.; BGH NStZ 2002, 31; BGH, Beschl. v. 14.6.2002 - 3 StR 132/02; BGH, Beschl. v. 1.4.2008 - 4 StR 69/08; BGH, Urt. v. 17.6.2010 - 4 StR 47/10; BGH, Beschl. v. 10.8.2011 - 4 StR 345/11; BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12; BGH, Urt. v. 20.5.2014 - 1 StR 90/14). Die bloße Abhängigkeit von Drogen kann eine (schwere) andere seelische Abartigkeit sein, soweit sie nicht wegen körperlicher Abhängigkeit zu den krankhaft seelischen Störungen gehört (exogene Psychosen). Die bloße Abhängigkeit beeinflusst für sich genommen die Steuerungsfähigkeit jedoch nicht (BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12).

Derartige Folgen sind bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise gegeben, wenn langjähriger Betäubungsmittelgenuss zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat oder der Täter unter starken Entzugserscheinungen bzw. der Angst vor solchen leidet und dadurch getrieben wird, sich mittels einer Straftat Drogen zu verschaffen, ferner unter Umständen dann, wenn er das Delikt im Zustand eines akuten Rausches verübt (vgl. BGH MDR 1981, 508; BGH JR 1987, 206; BGHR StGB § 21 - BtM-Auswirkungen 2, 4, 6, 8; BGH, Urt. v. 13.12.1995 - 3 StR 276/95 - BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12; BGH, Urt. v. 13.2.1991 - 3 StR 423/90 - BGHR BtMG § 29 - Strafzumessung 14; BGH, Urt. v. 23.8.2000 - 3 StR 224/00 - NStZ 2001, 82; BGH, Urt. v. 19.9.2000 - 1 StR 310/00 - StV 2001, 564; BGH, Beschl. v. 19.10.2000 - 4 StR 411/00 - NStZ-RR 2001, 81; BGH, Urt. v. 7.11.2000 - 5 StR 326/00 - NStZ 2001, 85; BGH, Urt. v. 21.3.2001 - 1 StR 32/01; BGH, Urt. v. 19.9.2001 - 2 StR 240/01 - NStZ 2002, 31; BGH, Urt. v. 18.4.2002 - 3 StR 52/02; BGH, Beschl. v. 2.7.2002 - 1 StR 195/02; BGH, Urt. v. 10.9.2003 - 1 StR 147/03; ferner BGH NStZ 2002, 31, 32; BGH, Beschl. v. 17.3.2005 - 1 StR 82/05; BGH, Urt. v. 17.6.2010 - 4 StR 47/10; BGH, Beschl. v. 23.2.2011 - 5 StR 556/10; BGH, Beschl. v. 2.8.2011 - 3 StR 199/11; BGH, Beschl. v. 10.8.2011 - 4 StR 345/11; BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12; BGH, Beschl. v. 17.9.2013 - 3 StR 209/13; vgl. hierzu auch BGH, Beschl. v. 13.12.2011 - 5 StR 423/11; BGH, Urt. v. 20.5.2014 - 1 StR 90/14; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 20 Rn. 11a; SSW-StGB/Schöch § 20, Rn. 46; Weber, BtMG, 4. Aufl., vor §§ 29 ff., Rn. 451 f.). In diesen Fällen liegen regelmäßig zugleich ein organischer Befund und eine krankhafte seelische Störung vor. Auch beim akuten Rausch ist ein Ausschluss oder die erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit möglich (BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12).   




[ Schwerste Persönlichkeitsveränderungen
]

40.1
Bei langjährig Rauschgiftabhängigen kann die Anwendung des § 21 StGB dann erfolgen, wenn schwerste Persönlichkeitsveränderungen erkennbar sind (BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 8; BGH, Beschl. v. 23.2.2011 - 5 StR 556/10: betr. diagnostizierte schizophrene Psychose mit paranoiden Ängsten nach lanjährigem Drogenkonsum, unter anderem Crack und Kokain). Fehlen objektive Beweisanzeichen über das Ausmaß der Drogenabhängigkeit, muß der Tatrichter das Vorliegen der medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungspunkte mit Hilfe des Sachverständigen selbständig und eigenverantwortlich prüfen (BGH, Urt. v. 19.9.2000 - 1 StR 310/00 - StV 2001, 564). 




[ Schwere Entzugserscheinungen
]

40.3
Schwere Entzugserscheinungen können die Steuerungsfähigkeit bei Beschaffungsdelikten nur in seltenen Ausnahmefällen, z.B. in Kombination mit Persönlichkeitsveränderungen, aufheben (BGH, Urt. v. 23.8.2000 - 3 StR 224/00; BGH, Urt. v. 19.9.2001 - 2 StR 240/01; BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12). Entzugserscheinungen, welche erst bevorstehen, können mitunter den Drang zur Beschaffungskriminalität übermächtig werden lassen, wenn die Angst des Täters vor Entzugserscheinungen, die er schon als äußerst unangenehm („grausamst“) erlitten hat und die er als nahe bevorstehend einschätzt, sein Hemmungsvermögen erheblich vermindert. Dies kann dann insbesondere bei Heroinkonsum die Voraussetzungen des § 21 StGB begründen (vgl. BGH MDR 1989, 831; NStZ 2001, 83, 84; NStZ-RR 1997, 227; BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 2, 5, 7, 9, 11 jew. m.w.N.), ist jedoch trotz der bei den verschiedenen Drogen unterschiedlichen Entzugsfolgen auch bei Kokain (vgl. BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 10, 12; BGH, Urt. v. 17.8.2004 - 5 StR 591/03), Amphetamin (vgl. BGHSt 33, 169, 171; BGH StV 1997, 227; BGH, Urt. v. 19.9.2000 - 1 StR 310/00 - StV 2001, 564) und Crack (vgl. BGH, Beschl. v. 2.11.2005 - 3 StR 371/05 - wistra 2006, 112) nicht von vorneherein völlig ausgeschlossen (vgl. BGH, Urt. v. 2.11.2005 - 2 StR 389/05 - BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 16; BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12).

Entscheidend kommt es dabei aber darauf an, ob die Tatbegehung maßgeblich von der Angst vor Entzugserscheinungen bestimmt gewesen ist (vgl. BGH, Urt. v. 19.9.2000 - 1 StR 310/00 - StV 2001, 564; BGH, Beschl. v. 19.10.2000 - 4 StR 411/00 - NStZ-RR 2001, 81). Das bloße Vorliegen einer psychischen oder körperlichen Betäubungsmittelabhängigkeit begründet nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs daher nicht ohne Weiteres die Annahme dauerhaft erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit, wenn zur unmittelbaren Befriedigung oder zur Finanzierung der Abhängigkeit Betäubungsmittel erworben oder Handel mit ihnen getrieben wird (vgl. z. B. BGH NJW 1981, 1221; NStZ 1989, 17; 1996, 498; 1999, 448; NStZ-RR 2004, 39 f.; BGH, Beschl. v. 7.12.2005 - 2 StR 455/05; vgl. auch Theune NStZ 1997, 60; Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl., § 21 Rdn. 21; jeweils m.w.N.).


Begeht ein Abhängiger Vermögensdelikte unterschiedlichen Charakters, die nach seinen Angaben mittelbar der Befriedigung seiner Sucht dienen, liegt die Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Täters jedenfalls bei langfristiger Planung zukünftigen Suchtmittelzugriffs - wie sie etwa in vom Angeklagten begangenen Steuerdelikten zum Ausdruck kommt - eher fern (vgl. BGH, Urt. v. 7.11.2000 - 5 StR 326/00 - NStZ 2001, 85).

Der Sonderfall, dass die Angst vor nahe bevorstehenden körperlichen Entzugserscheinungen, die der Täter schon "grausamst" erlitten hat, die Annahme einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit rechtfertigt, kann schon deswegen ausscheiden, weil der Angeklagte eine ausreichende Menge des Rauschgifts mit sich führte (vgl. BGH, Urt. v. 17.6.2010 - 4 StR 47/10;  hierzu auch BGH, Urt. v. 13.12.1995 - 3 StR 276/95, BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12).
 




[ Akuter Rausch
]

40.5
Fehlen gesicherte Erkenntnisse darüber, welche Wirkstoffkonzentrationen zu welchen Beeinträchtigungen führen, entscheiden nicht beliebige Umstände des Einzelfalls darüber, wann vom Zustand eines akuten Rausches ausgegangen werden kann, der Auswirkungen auf das Vorliegen der Schuldfähigkeit haben kann (vgl. BGH, Beschl. v. 24.4.2013 - 2 StR 93/13; BGH NStZ 2001, 83; BGHR StGB, § 21 Btm-Auswirkungen 4). Maßgebend können nur Umstände sein, die zuverlässige Rückschlüsse auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines akuten Rausches zulassen. Von wesentlicher Bedeutung sind daher Art und Menge des zu sich genommenen Rauschmittels und die mit dessen Konsum üblicher- oder auch nur möglicherweise verbundenen spezifischen Einschränkungen und Beeinträchtigungen. Nicht jede Droge führt zu vergleichbaren Rauschfolgen, deren Eintreten zudem auch von der jeweiligen Menge des zu sich genommenen Wirkstoffs abhängen wird (BGH, Beschl. v. 24.4.2013 - 2 StR 93/13).

Im vom BGH (2 StR 93/13) entschiedenen Fall hatte das Tatgericht weder die einzelnen Wirkstoffmengen der verschiedenen konsumierten Rauschmittel zum Tatzeitraum in den Blick genommen noch sich mit möglichen Auswirkungen des jeweiligen Drogenkonsums befasst, die allein oder in ihrem Zusammenwirken zu einer Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit geführt haben könnten. Indem das Tatgericht generalisierend auf das völlig geordnete Verhalten bei dem komplexen und über einen längeren Zeitraum andauernden Tatgeschehen abgestellt hat, wie es auch bei einem nicht drogenintoxierten Menschen zu erwarten sei, verstellt es sich den Blick auf die mit dem Konsum verbundenen möglichen Auswirkungen des jeweiligen Rauschmittels und Tatbesonderheiten, die womöglich damit zu erklären sein könnten (vgl. BGH, Beschl. v. 24.4.2013 - 2 StR 93/13).


Zum einen bleibt so unberücksichtigt, dass (das vor Tatbeginn konsumierte) Kokain anders als etwa Alkohol zur Stimmungsaufhellung, Euphorie, einem Gefühl gesteigerter Leistungsfähigkeit und mehr Aktivität führt und damit ein Leistungsverhalten offenbart, das jedenfalls nicht von Einschränkungen oder Beeinträchtigungen des äußeren Leistungsverhaltens getragen sein muss. Aus dem Fehlen "rauschmittelbedingter Ausfallerscheinungen oder anderer psychischer Beeinträchtigungen" lässt sich demnach nicht (ohne Weiteres) darauf schließen, der Drogenkonsum habe nicht zu einer relevanten Einschränkung des Hemmungsvermögens geführt. Das Tatgericht hat insoweit dem Leistungsverhalten des Angeklagten eine Bedeutung beigemessen, die diesem nach Konsum von Kokain nicht zukommt (vgl. BGH, Beschl. v. 24.4.2013 - 2 StR 93/13 insoweit auch zum Zusammenwirken von Kokain und Crack bei hoher Wirkstoffkonzentration).

Ein akuter Rausch im Sinne des § 21 StGB ist nicht hinreichend belegt, wenn diese Annahme auf die allgemeine und nicht näher begründete Aussage gestützt wird, daß der vom Angeklagten angegebene aktuelle Drogenkonsum grundsätzlich geeignet sei, die Steuerungsfähigkeit erheblich zu vermindern. Entscheidend ist vielmehr die Überzeugung des Tatrichters, daß sich der Konsum tatsächlich erheblich auf das Hemmungsvermögen ausgewirkt hat oder dies zumindest nicht auszuschließen ist (vgl. BGH, Urt. v. 23.8.2000 - 3 StR 224/00 - NStZ 2001, 82).

  vgl. zum pathologischen Rauschzustand:  Vollrausch, § 323a StGB Rdn. 10.5 - Pathologischer Rausch
 




Indizwirkung

45
Die Aussagekraft allein des - auch quantifizierten - Nachweises von Drogen und ihrer Abbauprodukte im Blut, im Urin und in den Haaren ist im Hinblick auf die Frage der Steuerungsfähigkeit eines Täters bei der Tat nur begrenzt (vgl. BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12; SSW-StGB/Schöch, § 20 Rn. 47). Im Rahmen einer Gesamtschau sind aufgrund der psychodiagnostischen Merkmale unter ergänzender Verwertung der Blut-, Urin- und Haarbefunde (hinsichtlich des Betäubungs- und hier auch Alkoholkonsums) Rückschlüsse auf die Tatzeitbefindlichkeit des Täters zu ziehen (BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12).

Bei Transaktionen von mehreren hundert Gramm oder sogar mehreren Kilogramm Heroin z.B. ist ein Zusammenhang mit der eigenen Sucht meist nicht mehr erkennbar, zumal Drogenabgängige in aller Regel nicht dazu neigen, größere Lagerhaltung zu betreiben. Dazu sind sie aufgrund ihres süchtigen Kontrollverlustes gar nicht in der Lage. Fallen also Stoffmengen als Gewinn an, die beispielsweise 10 g Heroin überschreiten, so wird die Motivation aus eigener Sucht unglaubhaft. Es ist zu überprüfen, ob nicht andere Motivationen die Straftat bedingt haben (Täschner, Kriterien der Schuldfähigkeit Drogenabhängiger bei unterschiedlichen Deliktformen, Blutalkohol 1993, 313 [319]; zitiert in BGH, Urt. v. 10.9.2003 - 1 StR 147/03).

Was für Alkohol gilt, kann jedoch nicht ohne weiteres auf andere Genuß- und Betäubungsmittel übertragen werden. Die enthemmende und hierdurch teils aggressionsfördernde Wirkung des Alkohols ist allgemein bekannt. Bei Betäubungsmitteln sind die Wirkungsweisen dagegen differenzierter und unter Umständen weniger konkret vorhersehbar, zumal die Dosierung und die individuelle Verträglichkeit meist von Fall zu Fall erheblichen Schwankungen unterliegen. Dies gilt auch für den Konsum von Kokain und einen möglichen Zusammenhang zwischen Kokainkonsum und Aggressionsbereitschaft (vgl. Körner aaO Anhang C 1 Rdn. 168 ff. und 172 ff., je m.w.N.). Wie bei Alkohol gilt allerdings auch beim (vorwerfbaren) Konsum von Betäubungsmitteln, daß eine Strafmilderung regelmäßig dann ausscheidet, wenn der Täter bereits zuvor unter vergleichbarem Drogeneinfluß gewalttätig geworden ist (vgl. BGH, Urt. v. 17.8.2004 - 5 StR 93/04  - BGHSt 49, 239 - NJW 2004, 3350).


Nicht ausreichend sind Feststellungen, die allenfalls ein Tatmotiv aber keinen so intensiven Konsumdruck (Angst vor unmittelbar bevorstehenden Entzugserscheinungen beschreiben, die der Angeklagte schon einmal intensivst erlitten hatte), der in Ausnahmefällen die Steuerungsfähigkeit erheblich vermindern kann. Ob ein Täter in einer solchen psychischen Ausnahmesituation (Angst vor Entzugsfolgen) dann etwa überhaupt noch zu einer mehrstündigen Kurierfahrt und einem völlig unauffälligen Verhalten bei seiner Festnahme in der Lage wäre, bedarf der Erörterung (vgl. BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12).

Drängen sich nach den Feststellungen ein Drogenrausch, eine gravierende Drogenbeschaffungsmotivationabhängigkeitsbedingte schwere Persönlichkeitsstörung auf, ist es für das Tatgericht unerläßlich, sich - ungeachtet fehlender Einlassung des Angeklagten - sachverständiger Hilfe zur hinreichend sachgerechten Beurteilung der Frage zu bedienen, oder eine ob bei Begehung der Tat ein Drogenrausch, eine gravierende Drogenbeschaffungsmotivation oder gar eine abhängigkeitsbedingte schwere Persönlichkeitsstörung zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten geführt haben kann (vgl. BGH, Beschl. v. 11.2.2003 - 5 StR 573/02).

Der Hunger des Angeklagten nach der Tat kann zwar auf Cannabiskonsum hindeuten (vgl. Täschner, Das Cannabisproblem 3. Aufl. S. 145; Geschwinde, Rauschdrogen 3. Aufl. Rdn. 106), belegt aber noch keinen akuten Rausch (vgl. BGH, Urt. v. 21.3.2001 - 1 StR 32/01).
 
In BGH, Urt. v. 17.6.2010 - 4 StR 47/10 wurde die vom Tatgericht unterlassene Prüfung beanstandet, ob in Anbetracht dessen, dass den Angeklagten als langjährigen Konsumenten die enthemmende Wirkung des Präparats bekannt war und sie sogar schon wegen unter Einfluss dieses Präparats (Tilidin) begangener Gewaltdelikte verurteilt worden sind, von der Strafmilderungsmöglichkeit des § 49 StGB überhaupt Gebrauch zu machen ist (vgl. hierzu auch Fischer, StGB, 57. Aufl., § 21 Rn. 20, 25 a m.w.N.).
 



Persönlichkeitsstörungen




Abnorme und psychopathische Persönlichkeiten

50
Der Begriff der Persönlichkeitsstörung beschreibt abnorme Persönlichkeiten, deren Eigenschaften von einer nicht näher bezeichneten gesellschaftlichen Norm abweichen. Von psychopathischen Persönlichkeiten wird dann gesprochen, wenn die Person an ihrer Abnormität leidet oder wenn die Gesellschaft unter ihrer Abnormität leidet (vgl. BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45 - NJW 2004, 1810).

Die Formulierung, die normabweichenden Verhaltensweisen des Angeklagten beruhten nicht auf "krankheitswerten Defiziten" lässt besorgen, dass der Tatrichter von einem falschen Verständnis des Merkmals der schweren anderen seelischen Abartigkeit, dem die diagnostizierte Persönlichkeitsstörung des Angeklagten allenfalls unterfallen kann, ausgegangen ist. Denn dieses Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB erfasst gerade solche Veränderungen der Persönlichkeit, die nicht pathologisch bedingt sind und kann deshalb auch dann vorliegen, wenn die Persönlichkeitsstörung des Täters nicht als krankhaft zu bezeichnen ist (vgl. BGHSt 34, 22, 24; BGH, Beschl. v. 17.7.2008 - 3 StR 232/08).




Schweregrad

55
Die Diagnose einer wie auch immer gearteten Persönlichkeitsstörung lässt für sich genommen eine Aussage über die Frage der Schuldfähigkeit des Täters nicht zu (vgl. BGHSt 42, 385, 388; 44, 338, 342; 49, 45, 52; BGH, Beschl. v. 9.5.2000 - 4 StR 59/00 - NStZ 2000, 469; BGH, Beschl. v. 26.7.2000 - 2 StR 278/00 - NStZ-RR 2001, 198; BGH, Beschl. v. 23.8.2000 - 2 StR 162/00 - StV 2001, 565; BGH, Beschl. v. 28.1.2003 - 4 StR 521/02; BGH, Beschl. v. 25.2.2003 - 4 StR 30/03 - StV 2004, 264; BGH, Urt. v. 27.8.2003 - 2 StR 267/03; BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45 - NJW 2004, 1810; BGH, Beschl. v. 14.7.2004 - 2 StR 71/04; BGH, Beschl. v. 21.9.2004 - 3 StR 333/04 - NStZ 2005, 326; BGH, Beschl. v. 23.10.2007 - 4 StR 358/07 - NStZ-RR 2008, 70; BGH, Urt. v. 12.11.2009 - 4 StR 227/09 - NStZ 2010, 214; BGH, Urt. v. 18.4.2012 - 2 StR 456/11; BGH, Beschl. v. 24.4.2012 - 5 StR 150/12; vgl. auch BGH, Beschl. v. 21.6.2016 - 4 StR 161/16 Rn. 20). 




[ Nicht pathologisch bedingte Persönlichkeitsstörung ]

55.1
Persönlichkeitsstörungen sind dauerhafte, auffällige, häufig schon im Kindes- oder Jugendalter auftretende Verhaltensmuster, die zumeist mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit verbunden sind (vgl. BGH, Beschl. v. 6.10.2009 - 3 StR 326/09; Dilling/Mombour/Schmidt, Internationale Klassifikation psychischer Störungen 5. Aufl. S. 227).

Bei einer nicht pathologisch bedingten Persönlichkeitsstörung liegt eine andere schwere seelische Abartigkeit, die als Eingangsvoraussetzung des § 20 StGB in Betracht kommen könnte, nur dann vor, wenn sie in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichkommt und Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen. Zur Beurteilung ihres Schweregrades bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeit des Angeklagten und deren Entwicklung, der Tatvorgeschichte, dem unmittelbaren Anlass und der Ausführung der Tat sowie des Verhaltens nach der Tat (st. Rspr.; vgl. BGHSt 34, 22, 28; 37, 397, 401; 49, 45, 52 f.; BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 31; BGHR StGB § 63 Zustand 24; BGH, Beschl. v. 14.7.2000 - 3 StR 195/00 - NStZ 2000, 585 f. "gemischte Persönlichkeitsstörung"; BGH, Beschl. v. 16.8.2000 - 2 StR 219/00: "Persönlichkeitsstörung auf Borderline-Niveau"; BGH, Beschl. v. 13.9.2001 - 3 StR 333/01; BGH, Beschl. v. 13.8.2002 - 3 StR 204/02; BGH, Beschl. v. 28.1.2003 - 4 StR 521/02; BGH, Beschl. v. 3.8.2004 - 1 StR 293/04; BGH NStZ 2005, 326, 327; BGH, Urt. v. 26.4.2007 - 4 StR 7/07 - NStZ-RR 2008, 274; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 84/08 - NStZ 2009, 258; vgl. auch BGH, Beschl. v. 23.2.2000 - 5 StR 38/00 betr. Abgrenzung der nicht pathologisch bedingten Persönlichkeitsstörung als andere schwere seelische Abartigkeit zur krankhaften seelischen Störung; BGH, Beschl. v. 23.9.2009 - 5 StR 287/09 - NStZ-RR 2010, 7; BGH, Urt. v. 12.11.2009 - 4 StR 227/09 - NStZ 2010, 214; BGH, Urt. v. 14.8.2014 - 4 StR 163/14). Es kommt daher für die rechtliche Bewertung darauf an, welche konkreten Auswirkungen die Störung auf das Einsichts- oder Hemmungsvermögen des Beschuldigten gerade bei der ihm zur Last gelegten Tat hatte (vgl. zur "narzißtischen Persönlichkeitsstörung" BGH, Beschl. v. 3.5.2000 - 2 StR 629/99 - wistra 2000, 339, 340; BGH, Beschl. v. 20.2.2001 - 5 StR 3/01; BGH NStZ 2002, 427, 428; BGH, Beschl. v. 14.5.2002 - 5 StR 138/02; BGH, Urt. v. 27.8.2003 - 2 StR 267/03). Die in diesem Zusammenhang gebrauchte Wendung, wonach die Angeklagten ihren Alltag nur noch „mehr schlecht als recht“ bewältigen konnten, ist ohne Aussagekraft und kann die an dieser Stelle erforderliche umfassende wertende Betrachtung des Schweregrades der Störung und ihrer Tatrelevanz nicht ersetzen (vgl. BGH, Urt. v. 14.8.2014 - 4 StR 163/14).

Auch müssen sich die defekten Muster im Denken, Fühlen oder Verhalten des Betroffenen als zeitstabil erwiesen haben (BGH, Urt. v. 14.8.2014 - 4 StR 163/14; BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 4 StR 494/12 - NStZ-RR 2013, 309, 310; BGH, Urt. v. 21.1.2004  - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 52 f.). 




Diagnose als Kriterium

55.1.1
Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sagt nichts darüber aus, ob sie im Sinne der §§ 20, 21 StGB "schwer" ist. Hierfür ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 329; BGHSt 49, 45, 52 f.; BGH, Urt. v. 25.1.2006 - 2 StR 348/05). Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens und Verhaltens sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB angesehen werden (BGHR StGB § 21, seelische Abartigkeit 39, zum Abdruck in BGHSt 49, 45 bestimmt; BGH, Beschl. v. 4.1.2005 - 4 StR 529/04; vgl. auch BGH, Urt. v. 14.8.2014 - 4 StR 163/14).

Selbst die Diagnose einer schweren Persönlichkeitsstörung ist nicht gleichbedeutend mit derjenigen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Eine solche Störung kann immer auch als - möglicherweise extreme - Spielart menschlichen Wesens einzuordnen sein, die sich noch innerhalb der Bandbreite des Verhaltens voll schuldfähiger Menschen bewegt (vgl. BGHSt 42, 385, 388; BGHR StGB § 63 Zustand 24; BGH NStZ 1997, 383; BGH, Beschl. v. 9.5.2000 - 4 StR 59/00 - NStZ 2000, 469; BGH, Beschl. v. 26.7.2000 - 2 StR 278/00 - NStZ-RR 2001, 198; BGH, Beschl. v. 13.7.2004 - 4 StR 548/03; BGH, Beschl. v. 4.1.2005 - 4 StR 529/04; vgl. auch BGH, Beschl. v. 10.11.2009 - 5 StR 413/09 - NStZ-RR 2010, 42). Das gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor allem dann, wenn es um die Beurteilung kaum messbarer, objektiv schwer darstellbarer Befunde und Ergebnisse geht, wie es bei einer „kombinierten Persönlichkeitsstörung“ der Fall ist (BGH, Beschl. v. 11.11.2003 – 4 StR 424/03 - NStZ 2004, 197; BGH, Beschl. v. 9.5.2012 - 4 StR 120/12; vgl. auch BGH, Beschl. v. 18.6.1997 – 2 StR 251/97 - BGHR StGB § 63 Zustand 24; BGH,  Beschl. v. 14.7.1999 – 3 StR 160/99 - BGHR StGB § 63 Zustand 34). Für die Diagnose einer "kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und narzißtischen Zügen" (BGH, Beschl. v. 2.12.2004 - 4 StR 452/04; BGH, Beschl. v. 4.1.2005 - 4 StR 529/04) oder die Diagnose einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (vgl. BGH, Beschl. v. 6.10.2009 - 3 StR 326/09) gilt nicht anderes. Auch die Diagnose einer Schizophrenie führt für sich allein genommen nicht zur Feststellung einer generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit (vgl. BGH, Beschl. v. 2.10.2007 – 3 StR 412/07- NStZ-RR 2008, 39; BGH, Beschl. v. 31.8.2010 – 3 StR 260/10; BGH, Beschl. v. 24.4.2012 - 5 StR 150/12; BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 2 StR 139/12: betr. Diagnose einer schizophrenen Psychose; BGH, Beschl. v. 26.9.2012 - 4 StR 348/12 betr. Diagnose einer paranoid-halluzinatorischen Psychose; BGH, Beschl. v. 30.7.2014 - 5 StR 292/14: betr. hebephrenen Schizophrenie). Die Fähigkeit eines von der Schizophrenie Betroffenen zu einsichtsgemäßem Handeln und/oder der Steuerbarkeit seiner Handlungen ist vielmehr jeweils in Abhängigkeit vom Stadium der Erkrankung für jeden Einzelfall gesondert zu bewerten (vgl. Nedopil in Forensische Psychiatrie, 3. Aufl., S. 151; BGH, Beschl. v. 30.7.2014 - 5 StR 292/14). Die Ausführungen im Urteil dürfen insoweit nicht allgemein gehalten sein und etwa nur Persönlichkeitsmerkmale anführen, die ohnehin innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens liegen (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 75; BGH, Urt. v. 25.1.2006 - 2 StR 348/05). Erforderlich ist vielmehr stets die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Taten auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 2 StR 139/12; BGH, StraFo 2004, 390 mwN; BGH, Beschl. v. 30.7.2014 - 5 StR 292/14).

Der sachverständig beratene Tatrichter muss daher - im Rahmen einer Gesamtschau (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 4, 9, 16, 24, 29; BGH, Beschl. v. 4.12.2007 - 5 StR 398/07 - NStZ-RR 2008, 104) prüfen, ob die Persönlichkeitsstörung Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben eines Angeklagten vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen wie krankhafte seelische Störungen (vgl. BGH NStZ-RR 1999, 77, 78; BGHR StGB § 63 Zustand 34 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 26.7.2000 - 2 StR 278/00 - BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 35; BGH, Beschl. v. 23.10.2007 - 4 StR 358/07 - NStZ-RR 2008, 70; BGH, Beschl. v. 10.11.2009 - 5 StR 413/09 - NStZ-RR 2010, 42; BGH, Beschl. v. 10.1.2012 - 3 StR 370/11; BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 4 StR 494/12). Erforderlich ist eine wertende Betrachtung des Schweregrads der Störung und ihrer Tatrelevanz (vgl. BGH, Beschl. v. 6.5.2014 - 5 StR 168/14; BGH, Beschl. v. 19.12.2012 – 4 StR 494/12 - BGHR StGB § 20 seelische Abartigkeit 6 Rn. 9 mwN).

Entscheidend für die Beurteilung der Schuldfähigkeit sind der Ausprägungsgrad der Störung und ihr Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit. Für die Beurteilung der Schwere der Persönlichkeitsstörung ist maßgebend, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Erst wenn das Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens, das gewöhnlich im frühen Erwachsenenalter in Erscheinung tritt, sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als viertes Merkmal des § 20 StGB, der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ angesehen werden (BGH, Urt. v. 21.1.2004 – 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 52 f. m.w.N.; BGH, Beschl. v. 9.5.2012 - 4 StR 120/12; BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 4 StR 494/12).


Persönlichkeitsdefizite - wie eine stark eingeschränkte Affektregulation mit der Folge häufiger massiver Konflikte mit anderen Menschen, die Unfähigkeit zur Gestaltung von Beziehungen, das Unvermögen, Lehr- oder Arbeitsstellen über längere Zeit zu halten, sowie die deutliche Störung des Selbstwertgefühls (vgl. Boetticher/ Nedopil/Bosinski/Saß NStZ 2005, 57, 60) - können möglicherweise darauf hindeuten, dass sie das Leben des Angeklagten mit ähnlichen Folgen stören, belasten und einengen wie eine krankhafte seelische Störung (vgl. BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 84/08 - NStZ 2009, 258). Dass bei dem Angeklagten die dauerhafte Disposition besteht, in bestimmten, ihn belastenden Situationen wegen mangelnder Fähigkeit zur Affektverarbeitung in den Zustand erheblich vermindeter Schuldfähigkeit zu geraten, genügt für die Unterbringung nicht, weil diese Disposition allein keinen Zustand der eingeschränkten Schuldfähigkeit auslöst (vgl. BGHR StGB § 63 Zustand 27; BGH, Beschl. v. 1.9.1998 - 4 StR 367/98; BGH, Beschl. v. 17.10.2001 - 3 StR 373/01 - NStZ 2002, 142).

 siehe hierzu näher: 
§ 63 StGB, Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - Rdn. 36 - Persönlichkeitsstörungen

Bei der gebotenen normativen Bewertung ist weiter zu beachten, dass auf der Grundlage der Diagnose "dissoziale Persönlichkeitsstörung" ein so schwer wiegender Eingriff, wie ihn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darstellt, nur unter engen Voraussetzungen und nur dann gerechtfertigt ist, wenn feststeht, dass der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 6.2.1997 – 4 StR 672/96 - BGHSt 42, 385, 388; BGH Beschl. v. 25.2.2003 – 4 StR 30/03 - NStZ-RR 2003, 165, 166; StV 2005, 20; BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 36; BGH, Beschl. v. 23.10.2007 - 4 StR 358/07 - NStZ-RR 2008, 70; BGH, Beschl. v. 11.2.2015 - 4 StR 498/14).

Spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz, der Impuls- und Triebkontrolle sind der psychischen Störung zuzurechnen; dies gilt insbesondere für die dissoziale Persönlichkeitsstörung (vgl. BVerfG, Urt. v. 4.5.2011 (BGBl. I S. 1003) Rn. 152 mwN; BGH, Urt. v. 21.6.2011 - 5 StR 52/11; siehe auch BT-Drucks. 17/3403 S. 54).
 




- ICD-Klassifikation

55.1.2
Die ICD, die vor allem der internationalen fachlichen Verständigung dient, zählt lediglich Erkrankungen und Verhaltensstörungen auf und ordnet sie ein, trifft aber keine Aussage darüber, ob und inwieweit die beschriebenen Defekte die Schuldfähigkeit des Täters beeinträchtigen (BGH NStZ 1997, 383 = BGHR StGB § 21 Psychose 1; BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 29; BGH, Beschl. v. 23.8.2000 - 2 StR 162/00 - StV 2001, 565; BGH, Beschl. v. 28.5.2009 - 4 StR 101/09).

 siehe auch: 
ICD Klassifikation 




- Pädophilie / Abweichende Sexualpraktiken

55.1.3
Der psychiatrische Begriff "Pädophilie" ist nur eine Sammelbezeichnung, die alle sexuell betonten Neigungen zu Kindern umfaßt (Nedopil, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. [2000] S. 165; BGH, Beschl. v. 10.10.2000 - 1 StR 420/00 - StV 2002, 18). Nach ständiger Rechtsprechung ist nicht jedes abweichende Sexualverhalten, auch nicht eine Devianz in Form einer Pädophilie, ohne weiteres mit einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB gleichzusetzen (vgl. BGH, Urt. v. 6.1.1998 - 5 StR 582/97 - NStZ 1999, 126; BGH, Beschl. v. 10.10.2000 - 1 StR 420/00 - BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 33 und 37 - StV 2002, 18; BGH, Urt. v. 10.3.2004 - 4 StR 563/03; BGH, Beschl. v. 18.5.2004 - 4 StR 185/04; BGH, Beschl. v. 3.9.2015 - 1 StR 255/15).

Ob die sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie einen Ausprägungsgrad erreicht, der dem Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit zugeordnet werden kann und dann regelmäßig eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nahelegt (dazu BGH, Urt. v. 25.3.2015 – 2 StR 409/14 - NStZ 2015, 688), ist aufgrund einer Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und seiner Taten zu beurteilen (BGH, Urt. v. 26.5.2010 – 2 StR 48/10 - RuP 2010, 226 f.; BGH, Urt. v. 15.3.2016 - 1 StR 526/15; ebenso bereits BGH, Beschl. v. 10.10.2000 – 1 StR 420/00 - NStZ 2001, 243, 244).


Steht für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eine von der Norm abweichende sexuelle Präferenz im Vordergrund, muss diese den Täter im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert haben, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 337; StV 2005, 20; BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 33, 37 und § 63 Zustand 23; BGH, Urt. v. 26.5.2010 – 2 StR 48/10 - RuP 2010, 226 f.; BGH, Beschl. v. 6.7.2010 - 4 StR 283/10; BGH, Urt. v. 15.3.2016 - 1 StR 526/15; vgl. auch Rosenau/Schreiber in  Venzlaff/Foerster/Dreßing/ Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl., S. 106). Daher ist nicht jedes abweichende Sexualverhalten, auch nicht eine Devianz in Form einer Pädophilie (zum Begriff: Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 F 65.4; Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung 5. Aufl. S. 343 f.), die zwangsläufig nur unter Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter verwirklicht werden kann, ohne Weiteres gleichzusetzen mit einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Vielmehr kann auch nur eine gestörte sexuelle Entwicklung vorliegen, die als allgemeine Störung der Persönlichkeit, des Sexualverhaltens oder der Anpassung nicht den Schweregrad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 21 StGB erreicht (BGH, Beschl. v. 6.7.2010 - 4 StR 283/10; BGH, Beschl. v. 10.9.2013 - 2 StR 321/13). Ob eine Persönlichkeitsstörung im sexuellen Bereich das Wesen des Täters so nachhaltig verändert hat, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt, kann nur im Wege einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Täters unter Einbeziehung seiner Entwicklung, seines Charakterbildes sowie der ihm zur Last gelegten Taten einschließlich der ihnen zugrundeliegenden Motive festgestellt werden (BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 37; BGH, Beschl. v. 10.9.2013 - 2 StR 321/13).

Die Diagnose einer Pädophilie für sich genommen kaum Aussagekraft für das Vorliegen des vierten Eingangsmerkmals der §§ 20, 21 StGB ("schwere andere seelische Abartigkeit") und erst recht nicht für die Überzeugung von einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit hat (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 7.2.2004 - 4 StR 574/03 - NStZ-RR 2004, 201; BGH, Urt. v. 10.3.2004 - 4 StR 563/03 - StV 2005, 20; BGH, Beschl. v. 6.7.2010 - 4 StR 283/10 - NStZ-RR 2010, 304, 305; BGH, Beschl. v. 10.9.2013 - 2 StR 321/13 - NStZ-RR 2014, 8 (nur Ls); BGH, Beschl. v. 10.11.2015 - 3 StR 407/15; vgl. auch BGH, Urt. v. 15.3.2016 - 1 StR 526/15). Steht für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eine von der Norm abweichende sexuelle Präferenz im Vordergrund, muss diese den Täter im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert haben, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt, sondern bei der Begehung der Sexualtaten aus einem starken, mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus handelt (BGH, Beschl. v. 10.11.2015 - 3 StR 407/15). Die klinische Diagnose darf nicht automatisch mit dem juristischen Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit gleichgesetzt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 10.11.2015 - 3 StR 407/15). Nur wenn die durch die typischerweise in der Jugendzeit auftretende, sich zunehmend entwickelnde Persönlichkeitsstörung hervorgerufenen Leistungseinbußen mit den Defiziten vergleichbar sind, die im Gefolge forensisch relevanter krankhafter seelischer Verfassungen auftreten, kann von einer schweren anderen seelischen Abartigkeit gesprochen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 10.11.2015 - 3 StR 407/15; LK/Schöch, StGB, 12. Aufl., § 20 Rn. 169; BGH, Beschl. v. 21.9.2004 - 3 StR 333/04 - NStZ 2005, 326, 327; BGH, Beschl. v. 18.1.2005 - 4 StR 532/04 - NStZ-RR 2005, 137, 138; BGH, Urt. v. 25.1.2006 - 2 StR 348/05 - NStZ-RR 2006, 199).

Beispiel: Die Umstände, dass der Angeklagte trotz seiner einschlägigen Vorstrafe mit bewährungsweiser Aussetzung der Vollstreckung und laufender Therapie nicht in der Lage gewesen ist, seine paraphilen Impulse zu kontrollieren, allein können die Anforderungen des auf einer Pädophilie beruhenden Eingangsmerkmals der schweren anderen seelischen Abartigkeit angesichts der erforderlichen Voraussetzungen nicht tragen (vgl. BGH, Urt. v. 15.3.2016 - 1 StR 526/15).

Eine festgestellte Pädophilie kann im Einzelfall die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit und einer hierdurch erheblich beeinträchtigten Steuerungsfähigkeit rechtfertigen, wenn Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone werden, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau des Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnen (Nedopil, Forensische Psychiatrie 3. Aufl. S. 204 f.; vgl. BGH, Beschl. v. 10.10.2000 - 1 StR 420/00 - StV 2002, 18; vgl. auch BGH, Beschl. v. 10.1.2000 - 5 StR 640/99; BGH, Beschl. v. 17.7.2007 - 4 StR 242/07 - NStZ-RR 2007, 337; BGH, Beschl. v. 20.5.2010 - 5 StR 104/10 - NStZ-RR 2011, 170: betr. "fetischistisch-sadistische Devianz"; BGH, Urt. v. 26.5.2010 - 2 StR 48/10; BGH, Beschl. v. 6.7.2010 - 4 StR 283/10 - NStZ-RR 2010, 304, 305; BGH, Beschl. v. 10.9.2013 - 2 StR 321/13 - NStZ-RR 2014, 8, 9; BGH, Urt. v. 25.3.2015 - 2 StR 409/14; BGH, Beschl. v. 3.9.2015 - 1 StR 255/15; BGH, Urt. v. 15.3.2016 - 1 StR 526/15).
 
 siehe auch: 
ICD-Klassifikation: F 65 - Störungen der Sexualpräferenz
 
Wird maßgeblich darauf abgestellt, dass es nach Darlegung des Sachverständigen keine über die Pädophilie als solche hinausgehende Persönlichkeitsstörung pathologischen Ausmaßes gebe, ist ein solcher Ansatz rechtlich nicht tragfähig, da es unerheblich ist, ob die Persönlichkeitsveränderung "Krankheitswert" erreicht; das Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit erfasst gerade solche Veränderungen in der Persönlichkeit, die nicht pathologisch bedingt sind, also gerade keine krankhaften seelischen Störungen darstellen (BGH StGB § 21 Seelische Abartigkeit 33; BGH, Beschl. v. 10.9.2013 - 2 StR 321/13).




- Verwahrlosungstendenzen, dissoziale Entwicklung und Polytoxikomanie

55.1.4
Zur Schuldfähigkeitsbeurteilung bei „Verwahrlosungstendenzen“, „dissozialer Entwicklung“ und „Polytoxikomanie“ vgl. BGH, Beschl. v. 20.12.2001 - 4 StR 540/01; BGH NStZ-RR 2000, 298; BGH, Beschl. v. 8.1.2004 - 4 StR 539/03.

Zur Schuldfähigkeitsbeurteilung bei Taten, die sich auch normal-psychologisch aus Enttäuschung des Angeklagten über die gescheiterte Liebesbeziehung zu der Nebenklägerin erklären lassen vgl. BGH NStZ 1998, 296 m. Anm. Winckler/Foerster; BGH, Beschl. v. 25.9.2003 - 4 StR 316/03; BGH, Beschl. v. 8.1.2004 - 4 StR 539/03).
 




- Borderline-Syndrom

55.1.5
Bei einer nicht pathologisch begründeten Persönlichkeitsstörung wie einem diagnostizierten Borderline-Syndrom liegt eine schwere seelische Abartigkeit nur dann vor, wenn sie in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichkommt, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stört, belastet oder einengt (BGH, Urt. v. 4.6.1991 - 5 StR 122/91 - BGHSt 37, 397, 401 - NJW 1991, 2975; BGH NStZ 2004, 437, 438; BGH, Urt. v. 5.4.2006 - 2 StR 41/06; vgl. auch BGH, Beschl. v. 17.10.2001 - 3 StR 373/01 - NStZ 2002, 142).

 siehe zum Borderline-Syndrom auch:  Beweiswürdigung (zu § 261 StPO) Rdn. 30.9 - Psychische Auffälligkeiten des Zeugen
 




[ Leistungsverhalten und schwere Persönlichkeitsstörung ]

55.2
Dass die Angeklagte überlegt und zielgerichtet gehandelt hat, schließt erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nicht aus. Auch bei geplantem und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluß zu bilden (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 14, 25; BGH StV 2000, 17; BGH, Beschl. v. 20.2.2001 – 5 StR 3/01 - StraFo 2001, 249; BGH, Beschl. v. 22.8.2001 - 1 StR 316/01 - StV 2002, 17; BGH, Beschl. v. 4.12.2007 – 5 StR 398/07 - NStZ-RR 2008, 104; BGH, Beschl. v. 6.3.2013 - 5 StR 13/13).

Das Tatverhalten wie auch das Verhalten vor und nach der Tat sind vergleichsweise wenig bedeutsam, wenn eine schwere Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren ist (Rasch, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 360). Wird die voll erhaltene Steuerungsfähigkeit des Angeklagten damit begründet, dass sich er sich bei der Tötungshandlung kontrollieren und konzentrieren konnte und zu umsichtigem Nachtatverhalten in der Lage war, kann diesem Leistungsverhalten eine zu große Bedeutung gegeben worden sein (vgl. BGH, Beschl. v. 7.3.2002 - 3 StR 335/01). Im Bereich der Beurteilung von Schuldfähigkeit nach vorangegangenem Alkoholgenuß wird dem Leistungsverhalten des Täters als einem psychodiagnostischen Kriterium gegenüber der Blutalkoholkonzentration in der Rechtsprechung zwar größeres Gewicht beigemessen (vgl. BGHSt 43, 66). Dies läßt sich aber nicht ohne weiteres auf die Beurteilung der Beeinträchtigung durch eine schwere andere seelische Abartigkeit übertragen (vgl. BGH, Beschl. v. 7.3.2002 - 3 StR 335/01).


Dass die Persönlichkeitsstörung einen solchen Schweregrad erreicht hat, dass sie als nicht ausschließbar erhebliche schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB eingeordnet werden kann (vgl. BGHSt 42, 385, 388) setzt voraus, dass es sich bei einer solchen Persönlichkeitsstörung um einen tief verwurzelten, anhaltenden Zustand im Sinne eines überdauernden Musters von innerem Erleben und Verhalten handelt (vgl. hierzu Diagnostisches und Statistisches Manual DSM-IV 1996, S. 711). Ein plötzliches - innerhalb von 40 Minuten eintretendes - Abflachen der Persönlichkeitsbeeinträchtigung ist mit dieser Diagnose nicht ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.2.2008 - 5 StR 632/07).

Gegen das Vorliegen des vierten Merkmals des § 20 StGB können sprechen: Tatvorbereitung; planmäßiges Vorgehen bei der Tat; Fähigkeit zu warten; lang hingezogenes Tatgeschehen; komplexer Handlungsablauf in Etappen; Vorsorge gegen Entdeckung; Möglichkeit anderen Verhaltens unter vergleichbaren Umständen; Hervorgehen des Delikts aus dissozialen Charakterzügen (vgl. BGH, Urt. v. 21.1.2004 - 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45 - NJW 2004, 1810; Saß in Saß/Herpertz aaO S. 179, 180; Versuche einer empirischwissenschaftlichen Auswertung der am häufigsten in forensischen Gutachten vorkommenden Indikatoren bei Scholz/Schmidt, Schuldfähigkeit bei schwerer anderer seelischer Abartigkeit, 2003).



Alkoholeinfluss




Vorwerfbare Trunkenheit

60




[ Kriterien für eine Strafrahmenmilderung ]

60.1
Dem vermindert schuldfähigen Täter dürfen solche Taten nicht schulderhöhend angerechnet werden, mit deren Begehung er aufgrund des Ausmaßes und der Intensität seiner bisher unter Alkoholeinwirkung begangenen Straftaten nicht rechnen konnte (BGHSt 35, 143, 145; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 6 und 14; BGH, Beschl. v. 7.1.2003 - 4 StR 490/02 - StV 2003, 499). Ob dies der Fall ist, hat der Tatrichter nach Ansicht des 2. u. 4. Strafsenats des Bundesgerichtshof im Rahmen des ihm gesetzlich eingeräumten Ermessens in wertender Betrachtung zu bestimmen; seine Entscheidung unterliegt nur eingeschränkter revisionsrechtlicher Überprüfung (BGHSt 49, 239; BGH, Urt. v. 15.12.2005 - 4 StR 314/05 - NStZ 2006, 274; BGH, Urt. v. 15.2.2006 - 2 StR 419/05 - StV 2006, 465; BGH, Beschl. v. 23.2.2006 - 4 StR 513/05). Wenn der Täter über keine Vorerfahrungen der Art verfügt, dass er persönlich unter Alkoholeinfluss zu rechtsgutsverletzendem Verhalten neigt, oder wenn sich für ihn zum Zeitpunkt der Berauschung auch aus sonstigen Umständen kein Anhaltspunkt dafür ergibt, dass es unter der Wirkung der konkreten Alkoholisierung zu Straftaten kommen könnte, so stellt dies einen Umstand dar, der eine Strafrahmenmilderung rechtfertigen kann (vgl. BGH, Urt. v. 15.12.2005 - 4 StR 314/05 - NStZ 2006, 274; BGH, Urt. v. 15.2.2006 - 2 StR 419/05 - StV 2006, 465). Eine Ausnahme von der unter solchen Umständen angezeigten Ablehnung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB käme nur bei einer absoluten Strafdrohung in Betracht (vgl. BGH NJW 2004, 3350, 3353, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt; BGH, Urt. v. 26.1.2005 - 5 StR 290/04 - NStZ 2005, 384).

Wenn, wie etwa beim Mord, allein die Wahl zwischen lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafe besteht, müssen besondere erschwerende Umstände vorliegen, um die mit den Voraussetzungen des § 21 StGB verbundene Schuldminderung so auszugleichen, dass die gesetzliche Höchststrafe verhängt werden darf (BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 18 m.w.N.; BGH, Beschl. v. 7.1.2003 - 4 StR 490/02 - StV 2003, 499).


Bei der Prüfung, ob der Täter infolge Alkoholkonsums schuldunfähig war, sind ggfls. auch die Auswirkungen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, Übermüdung und eine affektive Aufladung zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschl. v. 13.6.2001 - 5 StR 202/01; siehe auch nachstehend: Wechselwirkung von Alkohol pp. und Persönlichkeitsstörung). Eine "motorische Geschicklichkeit", die sich lediglich darin äußert, dass mit insgesamt sechs einer unbekannten Vielzahl von Hammerschlägen der in Ruhestellung befindliche Kopf eines Menschen getroffen wird, vermag eine Gesamtwürdigung der physischen und psychischen Situation der Angeklagten nicht entbehrlich zu machen (vgl. BGH, Beschl. v. 13.6.2001 - 5 StR 202/01). 




[ Kriterien für eine Versagung der Strafrahmenmilderung ]

60.2
Beruht die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit auf zu verantwortender Trunkenheit, spricht dies in der Regel gegen eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB, wenn sich aufgrund der persönlichen (etwa Neigung zu Aggressionen oder Gewalttätigkeiten unter Alkoholeinfluss) oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls (etwa Trinken in gewaltbereiten Gruppen oder gewaltgeneigten Situationen) das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant infolge der Alkoholisierung erhöht hat. Ob dies der Fall ist, hat der Tatrichter in wertender Betrachtung zu bestimmen; seine Entscheidung unterliegt nur eingeschränkter revisionsgerichtlicher Überprüfung (vgl. BGHSt 49, 239, 245 f.; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 59; BGH, Beschl. v. 19.1.2000 - 2 StR 609/99; BGH, Urt. v. 17.8.2004 - 5 StR 93/04 - BGHSt 49, 239 - NJW 2004, 3350; BGH, Urt. v. 19.10.2004 - 1 StR 254/04; BGH, Urt. v. 11.6.2008 - 5 StR 612/07 - NStZ 2008, 619; BGH, Urt. v. 29.10.2008 - 5 StR 456/08 - NStZ 2009, 202; BGH, Beschl. v. 25.3.2009 - 5 StR 86/09 - NStZ-RR 2009, 204; zur insoweit weitergehenden Auffassung des 3. Strafsenats siehe unten).

Eine Milderung des vorgegebenen Strafrahmens gemäß § 21, § 49 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB kann deshalb zu versagen sein, weil die erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auf verschuldeter Trunkenheit beruht (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 31; BGH, Urt. v. 15.2.2006 - 2 StR 419/05 - StV 2006, 465; BGH, Urt. v. 27.8.2009 - 3 StR 246/09; siehe zur Alkoholkrankheit unten Rdn. 65). Beruht demnach die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit auf einer Trunkenheit des Angeklagten, so ist Voraussetzung für die Versagung der Strafmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB in jedem Fall, dass dem Angeklagten der Alkoholkonsum uneingeschränkt vorwerfbar ist (BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 31, 33; so auch BGHSt 49, 239; BGH, Urt. v. 26.1.2005 - 5 StR 290/04 - NStZ 2005, 384; BGH, Beschl. v. 21.6.2007 - 3 StR 180/07 - NStZ 2008, 29; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 84/08 - NStZ 2009, 258; BGH, Beschl. v. 20.1.2009 - 3 StR 505/08; BGH, Beschl. v. 3.2.2011 - 4 StR 673/10; BGH, Beschl. v. 12.4.2012 - 5 StR 87/12; BGH, Beschl. v. 2.8.2012 - 3 StR 216/12; BGH, Beschl. v. 25.4.2013 - 5 StR 146/13; BGH, Beschl. v. 23.4.2013 - 1 StR 105/13; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 21 Rn. 25 ff.). Eine derartige Vorwerfbarkeit nimmt der Bundesgerichtshof an, wenn sich aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant infolge der Alkoholisierung erhöht hat (vgl. BGHSt 49, 239; BGH NStZ 2006, 274; 2008, 619, 620; BGH, Urt. v. 7.5.2009 - 5 StR 64/09 - NStZ 2009, 496). Dies ist auch bei Einnahme aggressivitätssteigernder Substanzen allein oder in Verbindung mit einer weiteren Enthemmung durch Alkoholgenuss in Betracht zu ziehen (vgl. BGH, Urt. v. 9.8.2005 - 5 StR 352/04- NStZ 2006, 98: Alkohol und Sexualhormone; BGH, Urt. v. 8.5.2012 - 5 StR 528/11: Erhöhung der Aggressivität durch Konsum anaboler Steroide). Regelmäßig ist es ohne Belang, ob der Angeklagte schon früher unter Alkoholeinfluss vergleichbare Straftaten begangen hat (vgl. BGH, Beschl. v. 3.2.2011 - 4 StR 673/10). Jedenfalls ist dann für eine Strafrahmenmilderung kein Anlass, wenn der Täter die Begehung von Straftaten vorausgesehen hat oder hätte voraussehen können, insbesondere wenn ihm aus früheren Erfahrungen bekannt ist, dass er unter Alkoholeinfluss zu Straftaten neigt (vgl. BGHSt 34, 29, 33; 43, 66, 78; BGH NStZ 1993, 537; StV 1993, 355; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 3, 14; vgl. dazu auch BGH NStZ 2003, 480, 481; 2004, 678, 679 f.; BGH, Beschl. v. 12.7.2000 - 3 StR 246/00; BGH, Urt. v. 19.12.2002 - 3 StR 401/02 - NStZ-RR 2003, 110; BGH, Beschl. v. 7.1.2003 - 4 StR 490/02 - StV 2003, 499; BGH, Beschl. v. 27.1.2004 - 3 StR 479/03 - BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 33; BGH, Urt. v. 30.11.2005 - 5 StR 344/05; BGH, Urt. v. 15.12.2005 - 4 StR 314/05 - NStZ 2006, 274; BGH, Urt. v. 15.2.2006 - 2 StR 419/05 - StV 2006, 465; BGH, Urt. v. 17.12.2009 - 4 StR 424/09: auch betr. Erziehungsbedarf bei Jugendstrafe; BGH, Beschl. v. 13.1.2010 - 5 StR 510/09). Dabei sind an die Vergleichbarkeit der unter Alkoholeinfluss begangenen Straftaten keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Es ist nicht erforderlich, dass der Täter zuvor bereits eine gleiche oder ähnliche Tat begangen hat. Entscheidend ist regelmäßig nicht die äußerliche Vergleichbarkeit der einzelnen Taten, sondern die nämliche Wurzel des jeweiligen deliktischen Verhaltens (BGH, Urt. v. 17.8.2004 - 5 StR 93/04 - BGHSt 49, 239, 243 - NJW 2004, 3350 ff. m.w.N.; BGH, Beschl. v. 13.1.2010 - 5 StR 510/09). Indes kann die Versagung der Strafrahmenverschiebung nicht mit dem Hinweis auf frühere unter Alkoholeinfluss begangene Straftaten begründet werden, wenn die neue Tat im Hinblick auf ihre andersartige Anlage und Zielrichtung und den zugrunde liegenden strafrechtlich bedeutsamen Antrieb in gänzlich andere Richtung als die bisherigen Taten weist, sie also mit den bisherigen Bild der Delinquenz nicht in Einklang zu bringen ist, und mit der der Täter deshalb nicht rechnen konnte (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 3; BGH, Beschl. v. 13.1.2010 - 5 StR 510/09).

Dass diese früheren Erfahrungen nicht zu einer strafrechtlichen Vorverurteilung geführt haben, ist unbeachtlich; denn das Wissen des Täters um seine Gefährlichkeit hängt nicht von der Warnfunktion einer früheren Verurteilung ab (BGH, Urt. v. 17.8.2004 - 5 StR 93/04 - BGHSt 49, 239, 243 - NJW 2004, 3350 ff.; BGH, Urt. v. 11.6.2008 - 5 StR 612/07 - NStZ 2008, 619; vgl. auch BGH, Beschl. v. 3.2.2011 - 4 StR 673/10).

Beispiel: Anlass zur Erörterung der Frage, ob der grundsätzlich schuldmindernde Umstand der erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit durch andere, die Schuld steigernde Umstände ausgeglichen wird,  kann etwa im Hinblick darauf bestehen, dass sich die Angeklagten - planvoll alkoholisiert - bewusst in eine gewaltgeneigte Situation begeben haben, wobei das von ihnen arrangierte Treffen mit dem späteren Opfer allein dem Zweck diente, ihm eine „Abreibung“ zu verpassen. Dieser Situation wohnte das vorhersehbare Risiko erheblicher Gewalttaten inne (vgl. BGH, Urt. v. 11.6.2008 - 5 StR 612/07 - NStZ 2008, 619).

Hierüber hinaus gehend hat der 3. Strafsenat im Urteil vom 27. März 2003 - 3 StR 435/02 (NStZ 2003, 480 = NJW 2003, 2394) in nicht tragenden Ausführungen mitgeteilt, er wolle an der einschränkenden Voraussetzung einschlägiger Vorerfahrung nicht festhalten, sondern im Hinblick auf die Allgemeinkundigkeit der enthemmenden und damit abstrakt gefährlichen Wirkung von Alkohol eine Strafrahmenmilderung regelmäßig versagen, wenn die Verminderung der Schuldfähigkeit auf selbst zu verantwortender Trunkenheit beruht; dabei soll es auf die Schwere der begangenen Tat und damit auf den im Einzelfall anzuwendenden Strafrahmen nicht ankommen (NStZ 2003, 480, 482; vgl. auch BGH, Beschl. v. 27.1.2004 - 3 StR 479/03 - BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 33; BGH, Urt. v. 19.10.2004 - 1 StR 254/04; BGH, Urt. v. 1.7.2003 - 2 StR 106/03, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 32; BGH, Urt. v. 15.2.2006 - 2 StR 419/05 - StV 2006, 465). Beruht danach bei einer alkoholbedingten Verminderung der Schuldfähigkeit diese auf einer selbst zu verantwortenden, verschuldeten Trunkenheit, die dem Täter uneingeschränkt vorwerfbar ist, ist es regelmäßig ohne Belang, ob dieser schon früher unter Alkoholeinfluss vergleichbare Straftaten begangen hat (vgl. BGH NStZ 2003, 480, 481; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 84/08 - NStZ 2009, 258; vgl. auch BGH, Urt. v. 27.8.2009 - 3 StR 246/09; Fischer, StGB 55. Aufl. § 21 Rdn. 20, 25 ff.).

Der 5. Strafsenat hat dagegen in BGH, Urt. v. 17.8.2004 - 5 StR 93/04 - BGHSt 49, 239 - NJW 2004, 3350  - NStZ 2004, 678 eine differenzierte, auf eine Verschuldensprüfung im Einzelfall abstellende Lösung vertreten (vgl. insoweit auch BGH, Beschl. v. 13.1.2010 - 5 StR 510/09). Insoweit mangels Fallrelevanz offen gelassen vom 4. Strafsenat in BGH, Urt. v. 17.6.2004 - 4 StR 54/04. Ein die Steuerungsfähigkeit erheblich einschränkender Alkoholrausch ist dann nicht vom Angeklagten verschuldet, wenn er aufgrund eines unwiderstehlichen oder ihn weitgehend beherrschenden Hanges trinkt, der seine Fähigkeit, der Versuchung zum übermäßigen Rauschmittelkonsum zu widerstehen, einschränkt (vgl. BGH, Beschl. v. 26.3.2014 - 5 StR 91/14; BGH, Beschl. v. 25.4.2013 – 5 StR 146/13 mwN).


Anfragebeschluss des 3. Strafsenats (BGH, Beschl. v. 15.10.2015 - 3 StR 63/15)
Ausgangsfall: Der 3. Strafsenat hat über die Revision eines Angeklagten zu entscheiden, der wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt worden ist. Das Landgericht hat dem Angeklagten eine Strafrahmenmilderung nach § 213 bzw. §§ 21, 49 Abs. 1 StGB versagt und dies damit begründet, dass die Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten auf einer von ihm selbst zu verantwortenden, verschuldeten Trunkenheit beruhe. Feststellungen zu einer vorhersehbar signifikanten Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten infolge der Alkoholisierung aufgrund persönlicher oder situativer Verhältnisse des Einzelfalls (vgl. BGH, Urteil vom 17. August 2004 – 5 StR 93/04, BGHSt 49, 239, 241) hat das Landgericht nicht getroffen.

Der 3. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:
„Der Tatrichter übt sein Ermessen bei der Entscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB grundsätzlich nicht rechtsfehlerhaft aus, wenn er im Rahmen einer Gesamtwürdigung der schuldmindernden Umstände die Versagung der Strafmilderung allein auf den Umstand stützt, dass die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Täters auf von diesem verschuldeter Trunkenheit beruht.“

Er hat gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bei den anderen Senaten angefragt, ob deren Rechtsprechung dem entgegensteht und ob – sollte dies der Fall sein – daran festgehalten wird.


Antwortbeschluss des 1. Strafsenats (BGH, Beschl. v. 10.5.2016 - 1 ARs 21/15)
Der 1. Strafsenat hat in Beantwortung des Anfragebeschlusses entschieden:
Der Umstand, dass die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Täters auf von diesem zu verantwortender Trunkenheit beruht, rechtfertigt für sich allein die Versagung einer Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB nicht (BGH, Beschl. v. 10.5.2016 - 1 ARs 21/15: Antwortbeschluss).

Nach der Rechtsprechung des 1. Senats rechtfertigt der Umstand der selbst verschuldeten Trunkenheit des Täters eine Versagung der Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB nicht, wenn sich nicht zugleich aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant infolge zu verantwortender Trunkenheit erhöht hat. Hierfür genügt etwa das Wissen des Täters, dass er unter Alkoholeinfluss zu strafbaren Verhaltensweisen neigt, aber trotzdem Alkohol trinkt (vgl. 1. Senat, Beschlüsse vom 23. April 2013 – 1 StR 105/13 und vom 25. März 2014 – 1 StR 65/14, NStZ-RR 2014, 238; vgl. auch 1. Senat, Urteile vom 16. September 2004 – 1 StR 233/04, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 36, vom 29. April 1997 – 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66, 78 und vom 6. Mai 1993 – 1 StR 136/93, BGHR StGB § 21 Vorverschulden 4; Beschluss vom 2. März 1993 – 1 StR 26/93, StV 1993, 421; Urteile vom 6. Oktober 1992 – 1 StR 574/92 und vom 15. Dezember 1987 – 1 StR 498/87, BGHSt 35, 143). Einschlägiger Vorverurteilungen bedarf es jedoch nicht (1. Senat, Urteil vom 19. Oktober 2004 – 1 StR 254/04, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 37).


Antwortbeschluss des 2. Strafsenats (BGH, Beschl. v. 7.11.2016 - 2 ARs 386/15)
Der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats steht Rechtsprechung des 2. Strafsenats entgegen (vgl. Senat, Urteil vom 15. Februar 2006 - 2 StR 419/05 -, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 40; Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15, NStZ-RR 2016, 74); an dieser hält er fest.
Ob bei Vorliegen verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB eine Strafrahmenmilderung vorzunehmen oder zu versagen ist, hat der Tatrichter unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (Senat, Beschluss vom 7. September 2015 - 2 StR 350/15, aaO); seine Wertung ist vom Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen, wenn sie erkennbar auf einer vollständigen Tatsachengrundlage beruht (Senat, Urteil vom 15. Februar 2006 - 2 StR 419/05, BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 40 mwN). Eine schematische Behandlung der Frage einer fakultativen Strafrahmenmilderung allein wegen Vorliegens eines selbst zu verantwortenden Alkoholrausches hält der Senat daher nicht für angebracht; vielmehr ist eine differenzierte, auf eine Verschuldensprüfung im Einzelfall abstellende Lösung vorzuziehen.

Antwortbeschluss des 4. Strafsenats (BGH, Beschl. v. 28.4.2016 - 4 ARs 16/15)
Der 4. Senat versteht die Anfrage des 3. Strafsenats wie folgt:
"a)  Die Entscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB ist eine Ermessensentscheidung des Tatrichters.
b)  Im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung kann im Einzelfall die selbstverschuldete Trunkenheit die Versagung der Strafmilderung tragen, auch wenn eine vorhersehbare signifikante Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse nicht festgestellt ist.
2. Soweit der so verstandenen Anfrage Rechtsprechung des 4. Strafsenats entgegensteht, hält er daran nicht fest."


Antwortbeschluss des 5. Strafsenats (BGH, Beschl. v. 1.3.2016 - 5 ARs 50/15)
Der 5. Strafsenat hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach es im Falle selbst zu verantwortender Trunkenheit in der Regel gegen eine Strafrahmenverschiebung spricht, wenn sich aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse des Einzelfalls infolge der Alkoholisierung das Risiko der Begehung von Straftaten vorhersehbar signifikant erhöht hat (BGH, Beschl. v. 1.3.2016 - 5 ARs 50/15: Antwortbeschluss; vgl. hierzu auch die entgegenstehenden Entscheidungen BGH, Urt. v. 17.8.2004  – 5 StR 93/04, BGHSt 49, 239; BGH, Urt. v. 11.6.2008 – 5 StR 612/07 - NStZ 2008, 619; BGH, Urt. v. 29.10.2008 – 5 StR 456/08 - NStZ 2009, 202; BGH, Urt. v. 7.5.2009 – 5 StR 64/09 - NStZ 2009, 496; sowie BGH, Beschl. v. 13.1.2010  – 5 StR 510/09 - NStZ-RR 2010, 234; BGH, Beschl. v. 10.3.2010 – 5 StR 62/10 und BGH, Urt. v. 1.12.2011 – 5 StR 360/11).


Beging der Angeklagte die ihm zum Vorwurf gereichenden und unter Alkoholeinfluss begangenen Delikte erst nach den verfahrensgegenständlich auszuurteilenden Straftaten, können diese Taten bei der Prüfung einer Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB keine Berücksichtigung finden (vgl. BGH, Beschl. v. 7.1.2003 - 4 StR 490/02 - StV 2003, 499).
 




Alkoholkrankheit

65
Eine Alkoholerkrankung, bei der schon die Alkoholaufnahme nicht als ein die Schuld erhöhender Umstand zu werten ist, liegt regelmäßig vor, wenn der Täter den Alkohol aufgrund eines unwiderstehlichen oder ihn weitgehend beherrschenden Hanges trinkt, der seine Fähigkeit, der Versuchung zum übermäßigen Alkoholkonsum zu widerstehen, einschränkt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 2.8.2012 - 3 StR 216/12 - NStZ 2012, 687; BGH, Beschl. v. 23.4.2013 - 1 StR 105/13; BGH, Beschl. v. 15.9.2015 - 5 StR 341/15).

Leidet der Angeklagte an einer Alkoholkrankheit (oder Alkoholüberempfindlichkeit, vgl. BGH, Beschl. v. 1.9.2004 - 2 StR 268/04), die aufgrund eines ihn weitgehend beherrschenden Hanges seine Fähigkeit erheblich einschränkt, der Versuchung zum übermäßigen Alkoholkonsum zu widerstehen, kann ihm die Alkoholisierung nicht als ein die Schuld erhöhender Umstand angelastet werden (st. Rspr.; vgl. BGH StV 1985, 102; BGH, Beschl. v. 1.8.1984 - 3 StR 287/84; BGH, Beschl. v. 31.10.1984 - 1 StR 654/84; BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 31, 33 und 38; BGH, Urt. v. 23.3.2000 - 4 StR 650/99 - BGHSt 46, 24 - NJW 2000, 1878; BGH, Urt. v. 17.6.2004 - 4 StR 54/04; BGH, Beschl. v. 27.1.2004 - 3 StR 479/03 - BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 33; BGH, Beschl. v. 10.2.2004 - 4 StR 2/04; BGH, Urt. v. 9.11.2006 - 3 StR 360/06 - NStZ 2007, 328; BGH, Beschl. v. 16.1.2008 - 3 StR 479/07 - NStZ 2008, 330; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 84/08- NStZ 2009, 258; BGH, Beschl. v. 3.2.2011 - 4 StR 673/10; BGH, Beschl. v. 2.8.2012 - 3 StR 216/12; BGH, Beschl. v. 25.4.2013 - 5 StR 146/13; BGH, Beschl. v. 21.6.2016 - 5 StR 194/16 Rn. 3; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 21 Rn. 25 ff.).

Eine Versagung der Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB kommt daher dann nicht in Betracht, wenn der Täter aufgrund eines unwiderstehlichen oder ihn weitgehend beherrschenden Hanges trinkt (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 33, 35; BGH, Beschl. v. 7.1.2003 - 4 StR 490/02 - StV 2003, 499; BGH, Beschl. v. 12.7.2005 - 4 StR 170/05 - StV 2005, 606). Voraussetzung für ein Absehen von der Strafrahmenmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB ist, dass dem Angeklagten sein Alkoholkonsum zum Vorwurf gemacht werden kann. Dies ist nicht der Fall, wenn er den Alkohol aufgrund eines unwiderstehlichen oder ihn weitgehend beherrschenden Hanges trinkt, der seine Fähigkeit einschränkt, der Versuchung zum übermäßigen Alkoholkonsum zu widerstehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 20.4.2005 - 5 StR 147/05 - BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 38: "Vermeidbarkeit"; BGH, Beschl. v. 10.7.2007 - 3 StR 232/07; Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 21 Rdn. 26 m. w. N.; vgl. auch zur vergleichbaren Situation beim Vollrausch BGHR StGB § 323 a Abs. 1 Sichberauschen 1 und 2; BGH StV 1992, 230).

Die Versagung der Strafrahmenverschiebung hat der Bundesgerichtshof etwa in einem Fall bestätigt, bei dem der Angeklagte in seiner Steuerungsfähigkeit im Hinblick auf die Entscheidung, Alkohol zu sich zu nehmen oder dies zu lassen, nur erheblich eingeschränkt war und trotz Alkoholgewöhnung danach ein Rest von Steuerungsfähigkeit in bezug auf die Alkoholaufnahme erhalten geblieben war (vgl. BGH, Beschl. v. 20.4.2005 - 5 StR 147/05 - BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 38).

Alkoholgewöhnte Täter können sich auch im Rausch noch äußerlich kontrolliert, planvoll und folgerichtig verhalten, obwohl ihr Hemmungsvermögen möglicherweise schon erheblich beeinträchtigt ist (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 4; BGH, Beschl. v. 28.3.2007 - 5 StR 32/07). Äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit können bei hoher Alkoholgewöhnung durchaus weit auseinander fallen (BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 10, 18; BGH, Beschl. v. 12.6.2007 - 4 StR 187/07 - NStZ 2007, 696). Gerade bei Alkoholikern zeigt sich oft eine durch "Übung" erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten (vgl. BGH, Beschl. v. 12.6.2007 - 4 StR 187/07 - NStZ 2007, 696; Tröndle/Fischer StGB 54. Aufl. § 20 Rdn. 23), so dass selbst bei hochgradiger Alkoholisierung des Täters grobmotorische Fertigkeiten erhalten geblieben sein können (vgl. BGH, Urt. v. 21.10.1981 – 2 StR 264/81; BGH, Beschl. v. 17.8.2011 - 5 StR 255/11).

Eine alkoholische Beeinflussung mit der Folge erheblich verminderter Schuldfähigkeit ist weder zwingend noch regelmäßig von schweren ins Auge fallenden Ausfallerscheinungen begleitet (vgl. BGH, Beschl. v. 26.3.1997 – 3 StR 35/97 - StV 1997, 349; BGH, Beschl. v. 17.8.2011 - 5 StR 255/11). Insoweit bedarf es der Erörterung aussagekräftiger psychodiagnostischer Beweisanzeichen. Als solche sind nur Umstände in Betracht zu ziehen, die Hinweise darauf geben können, dass die Steuerungsfähigkeit des Täters trotz erheblicher Alkoholisierung nicht in erheblichem Maße beeinträchtigt gewesen ist (vgl. BGH, Beschl. v. 13.5.2005 – 2 StR 160/05 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 38; BGH, Beschl. v. 28.4.2009 – 4 StR 95/09 - NStZ-RR 2009, 270; BGH, Beschl. v. 17.8.2011 - 5 StR 255/11; siehe hierzu unten Rdn. 75.3.1). Rückschlüsse aus dem Verhalten nach der Tat kommt in diesem Zusammenhang nur eine geringe Aussagekraft zu, weil, bei dem Angeklagten durch die Tat eine wesentliche Ernüchterung eingetreten sein kann (vgl. BGH, Urt. v. 11.9.2003 - 4 StR 139/03; BGH, Beschl. v. 12.6.2007 - 4 StR 187/07 - NStZ 2007, 696). Angesichts des dem Tatrichter insoweit eröffneten Beurteilungsspielraums (vgl. BGH BA 2000, 185 mit weit. Nachw.) kann etwa unter Berücksichtigung des vom Angeklagten gezeigten Leistungsverhaltens und seiner Alkoholgewöhnung trotz einer Blutalkoholkonzentration von 2,48 % zur Tatzeit von einer nicht erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit auszugehen sein (vgl. BGHSt 43, 66; BGH, Urt. v. 8.2.2000 - 5 StR 421/99; BGH, Beschl. v. 3.8.2000 - 4 StR 259/00). Der Umstand, dass es sich beim Angeklagten um einen alkoholgewöhnten "Spiegeltrinker" handelt, ist in seiner Bedeutung für die Steuerungsfähigkeit jedenfalls bei sehr hoher Blutalkoholkonzentration gemindert (vgl. BGH, Beschl. v. 1.9.2010 - 2 StR 408/10).




Wechselwirkungen

70




[ Alkohol pp. und Persönlichkeitsstörung ]

70.1
Wenn im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB und bei der Abgrenzung zu § 64 StGB darauf abgestellt wird, daß die Persönlichkeitsstörung ursächlich für das eher sekundäre Alkoholabhängigkeitssyndrom und deshalb geboten ist, in erster Linie die emotional instabile Persönlichkeitsstörung zu behandeln, liegt es nahe, daß dem Angeklagten sein Alkoholkonsum nicht uneingeschränkt vorgeworfen werden kann, da er seine Persönlichkeitsstörung nicht zu verantworten hat (vgl. BGH, Beschl. v. 1.9.2004 - 2 StR 268/04). Eine Kombinations- und Wechselwirkung des genossenen Alkohols mit den anderen Rauschmitteln oder die Intoxikation und die Persönlichkeitsstörung, die jeweils für sich noch keine erhebliche Beeinträchtigung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit herbeiführten, kann durch ihr Zusammenwirken die Fähigkeit des Angeklagten, sich normgerecht zu verhalten, im Vergleich zu einem voll schuldfähigen Menschen in erheblichem Maße einschränken (vgl. BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 3, 5; BGH, Urt. v. 12.6.2008 - 3 StR 84/08 - NStZ 2009, 258; BGH, Beschl. v. 23.9.2009 - 5 StR 287/09 - NStZ-RR 2010, 7).

Bei der Prüfung, ob die Strafrahmenmilderung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB zu versagen ist, kann auch zu untersuchen sein, ob der Alkoholkonsum dem Angeklagten möglicherweise deshalb nicht uneingeschränkt vorwerfbar ist, weil dieser nach dem Gutachten des Sachverständigen als Folge seiner Persönlichkeitsstörung in Konfliktsituationen regelmäßig Suchtmittel konsumiert (vgl. BGH StV 2004, 651, 652; BGH, Beschl. v. 29.9.2009 - 3 StR 301/09; Fischer StGB 56. Aufl. § 21 Rdn. 26).

Die Erörterung konstellativer Faktoren, wie Alkohol- und Medikamentenintoxikation im Zusammenwirken mit einer Persönlichkeitsstörung drängen sich besonders auf (vgl. BGH, Beschl. v. 21.2.2008 - 5 StR 632/07).


Vgl. zum Zusammenwirken einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, Alkoholisierung (BAK: 2,55 ‰) und einer plötzlichen Eifersuchtserregung bei Begehung der Gewalttaten auch BGH, Urt. v. 30.9.2010 - 3 StR 294/10 - NStZ 2011, 212; BGH, Beschl. v. 21.6.2011 - 2 StR 189/11 




[ Alkohol, Heroin und Amphetamin ]

70.2
Hat der Angeklagte vor der Tatbegehung Alkohol (BAK zur Tatzeit 1,95 Promille), Heroin und Amphetamin konsumiert, muss sich das Tatgericht im Rahmen der Prüfung der Schuldfähigkeit mit möglichen Wechselwirkungen zwischen diesen Rauschmitteln befassen (vgl. BGH, Beschl. v. 23.8.2000 - 2 StR 292/00; BGH, Beschl. v. 23.9.2009 - 5 StR 287/09 - NStZ-RR 2010, 7; vgl. zur Wechselwirkung von Alkohol und Heroin auch BGH, Beschl. v. 15.5.1992 - 2 StR 186/92 - StV 1992, 569). 




[ Alkohol und Kokain ]

70.3
Bei dem kombiniertem Genuß von Alkohol und Kokain kann der Kokaingenuß das Hemmungsvermögen zusätzlich mindern (vgl. BGH, Beschl. v. 14.6.1991 - 2 StR 179/91; BGH NStZ-RR 1996, 289, 290 a. E.). Deshalb muss konkret festgestellt werden, in welchem Umfang der Kokaingenuß der Alkoholverträglichkeit des Angeklagten beeinflußt haben kann (vgl. BGH, Beschl. v. 15.3.2000 - 1 StR 35/00; BGH, Beschl. v. 26.5.2000 - 4 StR 131/00 - BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 15 - NStZ 2001, 88; vgl. auch BGH, Urt. v. 17.4.2012 - 1 StR 15/12). Der kombinierte Genuß dieser berauschenden Mittel kann nämlich dazu führen, daß die alkoholbedingte Dämpfung des Antriebsniveaus vermindert wird, während zugleich eine alkoholbedingte Enthemmung verstärkt wird (vgl. BGH, Beschl. v. 26.5.2000 - 4 StR 131/00 - BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 15 - NStZ 2001, 88; Foerster in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 3. Aufl. S. 167 f.). Wegen der Wechselwirkung des vom Angeklagten nach den Feststellungen zusätzlich aufgenommenen Kokains mit dem Alkohol kann die Hinzuziehung eines Sachverständigen angezeigt sein (vgl. BGH, Beschl. v. 24.6.2009 - 5 StR 206/09). 




[ Alkohol und pyromanische Neigung ]

70.4
Zu einer ausgeprägten pyromanischen Neigung nach Alkoholgenuss im Zusammenhang mit der Beurteilung der Frage des § 21 bzw. 20 StGB siehe BGH, Beschl. v. 17.7.2007 - 5 StR 219/07. 




[ Alkohol und affektive Erregung ]

70.5
 
   siehe unten Rdn. 85.5 




Feststellungen zur Alkoholisierung

75




[ Blutalkoholkonzentration ]

75.1
Es gibt keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit auszugehen ist (grundlegend BGH, Urt. v. 29.4.1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66 ff. u. BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 1 StR 59/12 - BGHSt 57, 247, 250; BGH, Urt. v. 14.10.2015 – 2 StR 115/15 - NStZ-RR 2016, 103 f.; vgl. ferner BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 36; BGH, Beschl. v. 15.1.2002 - 1 StR 533/01: betr. trinkgewohnten Angeklagten mit hoher Alkoholtoleranz; BGH, Beschl. v. 13.2.2013 - 4 StR 557/12; BGH, Urt. v. 13.7.2016 - 1 StR 128/16 Rn. 14). Aber auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der festgestellte Wert ein gewichtiges Beweisanzeichen für eine die Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigende Alkoholintoxikation (vgl. BGH, Urt. v. 29.4.1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 69 ff.; BGH, Beschl. v. 9.11.1999 - 4 StR 521/99 - NStZ 2000, 136; BGH, Beschl. v. 22.10.2004 - 1 StR 248/04 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 37; BGH, Beschl. v. 7.2.2012 - 5 StR 545/11; BGH, Urt. v. 21.6.2012 - 4 StR 623/11; BGH, Beschl. v. 20.8.2013 - 5 StR 352/13; BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15; vgl. auch BGH, Beschl. v. 7.10.2014 - 4 StR 397/14; BGH, Urt. v. 13.7.2016 - 1 StR 128/16 Rn. 14). Je höher dieser Wert ist, um so näher liegt die Annahme einer zumindest erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit (BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15).

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist anerkannt, daß das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung infolge übermäßigen Alkoholkonsums regelmäßig bei einem Blutalkoholwert von 2,0 Promille aufwärts der Erörterung im Urteil bedarf. Bei schwerwiegenden Gewalttaten, die sich gegen Leib oder Leben des Opfers richten, ist dies mit Blick auf die Überschreitung einer höheren Hemmschwelle ab einem Blutalkoholwert von 2,2 Promille zur Tatzeit anzunehmen (vgl. BGH, Urt. v. 22.11.1990 – 4 StR 117/90 - BGHSt 37, 231, 235; BGH, Urt. v. 12.1.1994 – 3 StR 633/93 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 27; BGH, Beschl. v. 25.2.1998 – 2 StR 16/98 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 34; BGH, Beschl. v. 7.2.2012 - 5 StR 545/11 - NStZ 2012, 261; BGH, Beschl. v. 30.4.2015 - 2 StR 444/14; BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15). Das gilt etwa auch für die gefährliche Körperverletzung (vgl. BGHSt 43, 66, 69; BGH, Beschl. v. 26.6.2002 - 1 StR 145/02; BGH, Urt. v. 7.5.2009 - 5 StR 64/09 - NStZ 2009, 496; vgl. auch BGH, Beschl. v. 23.2.2011 - 5 StR 24/11: 2,1 Promille und Hinzutreten von Besonderheiten). Bei einem Täter, der zur Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration zwischen 2,3 und 2,7 ‰ aufwies, ist die Annahme einer erheblichen Herabsetzung seiner Hemmungsfähigkeit regelmäßig in einem hohen Grad wahrscheinlich (vgl. BGH, Urt. v. 6.3.1986 – 4 StR 48/86 - BGHSt 34, 29, 31; BGH, Beschl. v. 31.5.1988 – 3 StR 203/88 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 13; BGH, Beschl. v. 10.1.2012 - 5 StR 517/11; vgl. auch BGH, Beschl. v. 20.8.2013 - 5 StR 352/13; BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15: 3,9 Promille und 4,35 Promille; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 20 Rn. 21 mwN). Eine erheblich verminderte Hemmungsfähigkeit lässt sich bei einer solchen beträchtlichen Alkoholisierung nur ausschließen, wenn gewichtige Anzeichen für den Erhalt einer Hemmungsfähigkeit sprechen (vgl. BGH, Urt. v. 29.4.1997 – 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 68 ff.; BGH, Beschl. v. 26.11.1997 – 2 StR 553/97 - NStZ-RR 1998, 107; BGH, Beschl. v. 10.1.2012 - 5 StR 517/11; hierzu ferner Fischer, StGB, 59. Aufl., Rn. 22 ff.).

Eine Blutalkoholkonzentration von mehr als drei Promille, die hier bei beiden Angeklagten durch den Rückrechnungsansatz des Sachverständigen in Betracht kommt, legt die Annahme einer erheblichen Herabsetzung des Hemmungsvermögens zur Tatzeit nahe. Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss (BGH, Urt. v. 29.4.1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 72 ff.; BGH, Beschl. v. 29.5.2012 – 1 StR 59/12 - BGHSt 57, 247, 250; BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15 Rn. 13), ist der im Einzelfall festzustellende Wert doch immerhin ein gewichtiges Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass die Wirkungen einer Alkoholaufnahme individuell verschieden sind (BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15; Wendt/Kröber in Körber/Dölling/Leygraf/Saß [Hrsg.], Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2, 2010, S. 240, 249). Der Blutalkoholgehalt zeigt nämlich immerhin die wirksam aufgenommene Alkoholmenge an. Je höher dieser Wert ist, umso näher liegt die Annahme einer zumindest erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit. Bei einer starken Alkoholisierung lässt sich eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nur ausschließen, wenn gewichtige Anzeichen dafür sprechen, dass das Hemmungsvermögen des Täters zur Tatzeit erhalten geblieben war (BGH, Beschl. v. 2.7.2015 – 2 StR 146/15 - NJW 2015, 3525, 3526; BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15 Rn. 13).

Zwar kann die Schuldfähigkeit auch bei Werten, die deutlich über 3 ‰ liegen, insbesondere bei Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit noch (möglicherweise eingeschränkt) erhalten geblieben sein (vgl. BGH, Beschl. v. 13.2.2013 - 4 StR 557/12; SSW-StGB/Schöch, § 20 Rn. 36 mN zur Rspr.). In einem solchen Fall ist jedoch regelmäßig die Prüfung einer Aufhebung der Schuldfähigkeit veranlasst (BGH, Beschl. v. 13.2.2013 - 4 StR 557/12; BGH, Beschl. v. 13.1.2010 – 2 StR 447/09 - BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 20). Die Bewertung und Gewichtung der dafür entscheidungserheblichen Indizien im Rahmen der Gesamtwürdigung des Beweisstoffes ist im Wesentlichen Aufgabe des Tatrichters. Das Revisionsgericht kann in diese Würdigung nur eingreifen, wenn sie auf fehlerhaften Erwägungen oder Vorstellungen beruht (BGH, Beschl. v. 13.2.2013 - 4 StR 557/12; BGH, Urt. v. 31.10.1989 – 1 StR 419/89 - BGHSt 36, 286, 293).

Einen Rechts- oder Erfahrungssatz, wonach ab einer bestimmten Höhe der Blutalkoholkonzentration regelmäßig vom Vorliegen dieses Merkmals auszugehen ist, gibt es jedoch nicht. Denn eine durch den Blutalkoholgehalt angezeigte, wirksam in den Blutkreislauf aufgenommene Alkoholmenge wirkt nach medizinischer Erfahrung auf jeden Menschen unterschiedlich (BGHSt 43, 66 [71 f.]; vgl. auch BGH NStZ 1998, 458; BGH, Urt. v. 6.6.2002 - 1 StR 14/02 und BGH, Beschl. v. 15.1.2002 - 1 StR 533/01).


Entscheidend ist vielmehr eine Gesamtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände aus der Persönlichkeitsstruktur des Täters, seinem Erscheinungsbild vor, während und nach der Tat und dem eigentlichen Tatgeschehen. Die Blutalkoholkonzentration ist in diesem Zusammenhang ein zwar gewichtiges, aber keinesfalls allein maßgebliches oder vorrangiges Beweisanzeichen, wobei deren Bedeutung auch von der Alkoholgewöhnung des Täters beeinflußt sein kann (vgl. BGH, Urt. v. 29.4.1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 70; BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 1 StR 59/12; BGH, Urt. v. 6.6.2002 - 1 StR 14/02 - NStZ 2002, 532; BGH, Urt. v. 22.10.2004 - 1 StR 248/04; vgl. auch BGH, Beschl. v. 28.3.2012 - 5 StR 49/12). Das Fehlen von Ausfallerscheinungen steht einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen; gerade bei alkoholgewöhnten Tätern können äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinander fallen (vgl. BGH, Beschl. v. 12.6.2007 - 4 StR 187/07; BGH, Beschl. v. 21.4.2010 - 4 StR 64/10; vgl. auch Fischer StGB 57. Aufl. § 20 Rdn. 23 a).

Welcher Beweiswert der Blutalkoholkonzentration (die weniger zur Auswirkung des Alkohols als lediglich zu dessen wirksam aufgenommener Menge aussagt) im Verhältnis zu anderen psychodiagnostischen Beweisanzeichen beizumessen ist, lässt sich nicht schematisch beantworten. Er ist umso geringer, je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostische Kriterien (Überblick hierzu z.B.: Plate, Psyche, Unrecht und Schuld, 2002, S. 194 ff.; Detter, Strafzumessung, 2009, II. Teil Rn. 83) zur Verfügung stehen. So können die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung auch bei einer Blutalkoholkonzentration schon von unter 2 ‰ begründen (BGH, Beschl. v. 3.12.1999 - 3 StR 481/99), umgekehrt eine solche selbst bei errechneten Maximalwerten von über 3 ‰ auch ausschließen (BGH, Urt. v. 6.6.2002 - 1 StR 14/02 - NStZ 2002, 532: 3,54 ‰; BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 1 StR 59/12: 3,03 ‰; vgl. auch Foerster in Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 246).


Für die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, kommt es demnach - gesamtwürdigend - sowohl auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch auf die psychodiagnostischen Kriterien an (vgl. BGH, Urt. v. 29.4.1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 75 f.; BGH, Beschl. v. 30.4.2015 - 2 StR 444/14 - NStZ 2015, 634; BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15; vgl. auch BGH, Urt. v. 16.4.2014 - 2 StR 530/13; BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15). Dabei sind allerdings nur solche Umstände zu berücksichtigen, die aussagekräftige Hinweise darauf geben können, ob das Hemmungsvermögen des Täters bei der Begehung der Tat erhalten geblieben ist oder nicht (BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15; zu Kriterien, die gegen und für eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sprechen vgl. Wendt/Kröber in Körber/Dölling/Leygraf/Saß [Hrsg.], Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2, 2010, S. 256 f.).

Dabei steht das Fehlen von Ausfallerscheinungen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen; gerade bei alkoholgewöhnten Tätern können äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinander fallen (vgl. BGH, Beschl. v. 12.6.2007 - 4 StR 187/07 - NStZ 2007, 696; BGH, Beschl. v. 30.4.2015 - 2 StR 444/14; BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15; BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 20 Rn. 23a, jeweils mwN) und sich gerade bei Alkoholikern oft eine durch "Übung" erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten zeigen (vgl. BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15; Fischer, StGB, 62. Aufl., § 20 Rn. 23a).


Kein Strafsenat des Bundesgerichtshofs hält an der Auffassung fest, es gebe einen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz, wonach ab einem bestimmten Grenzwert des Blutalkoholgehalts die Steuerungsfähigkeit in aller Regel erheblich vermindert ist (vgl. BGHSt 43, 66, 76). Dementsprechend hat der 1. Strafsenat auch bereits entschieden, daß in einem Fall, in dem die Blutalkoholkonzentration bis zu 3,54 o/oo betragen haben kann, eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens kurz nach der Tat zu Recht ausgeschlossen wurde (BGH NStZ 2002, 532; vgl. hierzu auch BGH, Urt. v. 31.5.2002 - 2 StR 73/02 betr. BAK bis 3,6 Promille). Gleichermaßen hat z.B. auch der 4. Strafsenat für den Fall einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 3,23 o/oo den Ausschluß einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit aufgrund psychodiagnostischer Beurteilungskriterien für möglich erklärt (BGH, Urt. v. 11.9.2003 - 4 StR 139/03). Soweit in den Entscheidungen der einzelnen Senate möglicherweise Unterschiede in der auf den jeweiligen Einzelfall bezogenen Bewertung und Gewichtung einzelner psychodiagnostischer Kriterien aufgetreten sind, nötigt dies nicht zur Vorlage dieser Sache an den Großen Senat für Strafsachen, da es sich insoweit nicht um verbindliche Entscheidungen eines anderen Senats in einer Rechtsfrage im Sinne von § 132 Abs. 2 GVG handelt (vgl. BGH, Urt. v. 22.10.2004 - 1 StR 248/04). Zur Verneinung einer verminderten Schuldfähigkeit durch das Tatgericht bei Vorliegen einer zur Tatzeit rechnerischen Blutalkoholkonzentration von 3,61 Promille vgl. BGH, Beschl. v. 13.5.2005 - 2 StR 160/05.
 
Es obliegt tatrichterlicher Beurteilung, welches Gewicht der Blutalkoholkonzentration im Einzelfall in Zusammenschau mit anderen zur Verfügung stehenden Beweisanzeichen beigemessen werden kann. Die letzte Verantwortung für die Beurteilung der Schuldfähigkeit liegt beim Tatrichter (BGH, Urt. v. 18.5.1995 - 4 StR 698/94; BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 1 StR 59/12). Die Frage der Erheblichkeit ist eine allein vom Richter zu beantwortende Rechtsfrage (vgl. BGH, Beschl. v. 23.9.2003 - 1 StR 343/03; BGH, Beschl. v. 7.4.2010 - 4 StR 644/09; BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 1 StR 59/12).


Der Blutalkoholgehalt ist zwar kein allein maßgebliches, aber doch im Einzelfall gewichtiges Beweisanzeichen (BGH, Beschl. v. 29.5.2012 – 1 StR 59/12 - BGHSt 57, 247, 252). Es darf deshalb, soweit Feststellungen möglich sind, nicht offen gelassen werden (BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15 Rn. 15). 




[ Trinkmengenangaben ]

75.2
Zur Widerlegung der Angaben der Angeklagten zu ihren maximalen Trinkmengen muss das Tatgericht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Kontrollberechnung auf der Grundlage eben dieser maximal in Betracht kommenden Trinkmengen mit den für die Angeklagte günstigsten Abbauwerten vornehmen (st. Rspr.; vgl. BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 19 und § 21 Blutalkoholkonzentration 1, 7 und 8; vgl. auch BGH, Urt. v. 17.12.2009 - 4 StR 424/09). Es genügt demgegenüber nicht, eine Kontrollberechnung lediglich auf der Grundlage der minimalen Trinkmengen vorzunehmen (vgl. BGH, Beschl. v. 30.1.2007 - 4 StR 535/06). Zur Prüfung der Trinkangaben ist aber nicht allein eine Rückrechnung mit den möglichen Höchstwerten, sondern auch eine Kontrollrechnung mit anderen medizinisch möglichen Resorptions- und Abbauwerten durchzuführen; erst auf dieser Grundlage kann beurteilt werden, ob die Angaben zutreffen können, von welcher Alkoholisierung zur Tatzeit ggf. auszugehen sein könnte und welches Gewicht einer solcherart ermittelten Alkoholisierung im Rahmen der Beweiswürdigung zur Frage der Steuerungsfähigkeit zukommt (vgl. BGH, Beschl. v. 14.11.2007 - 2 StR 465/07; vgl. auch BGH, Beschl. v. 22.8.2001 - 2 StR 311/01; Tröndle/Fischer StGB 54. Aufl. § 20 Rdn. 15 mit Nachw. zur Rechtsprechung). Ggf. müssen auch zur Kombinations- und Wechselwirkung zwischen Alkohol und darüber hinaus konsumierten Drogen im Urteil enthalten sein (vgl. BGH, Beschl. v. 14.11.2007 - 2 StR 465/07).

Zwar ist grundsätzlich der eingeschränkte Beweiswert aufgrund von Trinkmengenangaben errechneter Blutalkoholwerte zu beachten. Die Bewertung des Tatgerichts, der Angeklagte habe seinen eigenen Alkoholkonsum in der Hauptverhandlung überhöht dargestellt, vermag der vom Sachverständigen berechneten und vom Tatgericht übernommenen Blutalkoholkonzentration nicht die Bedeutung im Sinne einer Feststellung zu nehmen. Solange nämlich nicht auf der Grundlage einer schlüssigen Beweiswürdigung ein geringerer Alkoholkonsum festgestellt wird, gebietet es der Zweifelssatz, den vom Tatgericht errechneten Maximalwert mit der sich daraus ergebenden Indizwirkung der Beurteilung der Schuldfähigkeit zugrunde zu legen, wenn keine gegenteiligen Beweisanzeichen vorhanden sind (vgl. BGH, Beschl. v. 7.2.2012 - 5 StR 545/11; Schöch in LK, 12. Aufl., § 20 Rn. 111 mwN; siehe zu kontraindikatorischen psychodiagnostische Beurteilungskriterien unten Rdn. 75.3.1).

Der Tatrichter muss die Einlassung eines Angeklagten zu seinem Alkoholgenuss vor der Tat, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit es keine unmittelbaren Beweise gibt, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinnehmen (vgl. BGH, Beschl. v. 26.5.2009 - 5 StR 57/09). Vielmehr hat er sich im Rahmen freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO) und ohne Bindung an Beweisregeln aufgrund der im konkreten Fall gegebenen Erkenntnismöglichkeit eine Überzeugung davon zu verschaffen, ob der Angeklagte überhaupt in solchem Umfang Alkohol zu sich genommen hat und ob darüber hinaus eine erhebliche Verminderung oder Aufhebung seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit in Betracht kommt. Dabei ist es ihm unbenommen, Trinkmengenangaben des Angeklagten als unglaubhaft einzustufen, wenn er dafür durch die Beweisaufnahme gewonnene Gründe hat, welche seine Auffassung argumentativ tragen (vgl. BGH, Beschl. v. 8.2.2005 - 3 StR 500/04; BGH, Beschl. v. 16.1.2008 - 3 StR 479/07 - NStZ 2008, 330). Hierbei kann er aufgrund einer umfassenden Würdigung aller anderen Beweisanzeichen - z. B. der Einlassung des Angeklagten, den Aussagen der Zeugen, des Leistungsverhaltens des Angeklagten bei der Tat sowie seines Nachtatverhaltens - zu dem Ergebnis gelangen, dass die Trinkmengenangaben des Angeklagten zu hoch und daher unglaubhaft sind (vgl. BGH, Urt. v. 22.3.2002 - 2 StR 517/01; vgl. auch BGH, Beschl. v. 5.2.2002 - 1 StR 571/01).


Keinesfalls muss er ohne weiteres zugunsten eines Angeklagten als wahr unterstellen, dass er und sein Mittäter über den Tag zwei Flaschen Wodka und zusätzlich einige Biere getrunken hätten, wenn es außer dieser nicht bestätigten Behauptung dafür keine weiteren Anhaltspunkte gibt (BGH, Beschl. v. 20.12.2006 - 1 StR 576/06 - NStZ 2007, 266). Dem Tatgericht ist es unbenommen, Trinkmengenangaben des Angeklagten als unglaubhaft einzustufen, wenn es dafür durch die Beweisaufnahme gewonnene Gründe hat, welche seine Auffassung argumentativ tragen (vgl. BGHSt 34, 29, 34; BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 12 sowie § 21 Blutalkoholkonzentration 13 und 22; BGH, Beschl. v. 8.2.2005 - 3 StR 500/04).

Widerlegte Trinkmengenangaben widerlegen jedoch nicht zugleich die Möglichkeit zwar geringerer, aber immer noch im Sinne des § 21 StGB erheblicher alkoholischer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit (vgl. BGH, Beschl. v. 28.9.2010 - 5 StR 358/10 - StraFo 2011, 63).

Bei den Feststellungen genügt es nicht, die abstrakten Rechenfaktoren (stündlicher Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor) zu benennen, nicht aber die auf den Angeklagten und seine Taten bezogenen Faktoren wie Körpergewicht, Trinkzeit, Abbauzeit und die angenommenen Tatzeiten mitzuteilen (vgl. BGH, Beschl. v. 16.7.2003 - 2 StR 209/03).

Die ersten zwei Stunden nach Trinkende (Fahrtantritt) sind grundsätzlich von der Rückrechnung auszunehmen (vgl. BGHSt 25, 246; BGH, Beschl. v. 25.9.2006 - 4 StR 322/06; BGH, Beschl. v. 16.1.2007 - 4 StR 598/06 - NStZ-RR 2007, 174).


Wird die Tatzeitalkoholisierung aufgrund von Trinkmengenangaben bestimmt, so ist, wenn es um die Frage der Schuldfähigkeit geht, als Abbauwert der (dem Täter günstigste) minimale Rückrechnungswert von stündlich 0,1 ‰ zugrunde zu legen (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 20 Rdn. 14 m. w. N.). Ein Sicherheitszuschlag kommt nicht in Betracht (vgl. BGH, Beschl. v. 8.2.2005 - 3 StR 500/04). Wird bei der auf den Trinkmengenangaben des Angeklagten beruhenden Bestimmung der Blutalkoholkonzentration (BAK) zur Tatzeit  – „zugunsten des Angeklagten“ - ein stündlicher Abbau von 0,2 Promille zugrunde gelegt, ist dies rechtsfehlerhaft, weil bei der Frage der Schuldfähigkeit die maximale BAK festzustellen ist (vgl. BGH, Urt. v. 1.10.1991 – 5 StR 431/91; BGH, Beschl. v. 9.4.1992 – 1 StR 152/92; BGH, Beschl. v. 10.4.2013 - 5 StR 74/13).

Nach den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten Grundsätzen ist bei der Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten ein maximaler stündlicher Abbauwert von 0,2 ‰ zuzüglich eines einmaligen Sicherheitszuschlages von 0,2 ‰ zugrunde zu legen (vgl. BGH, Urt. v. 9.8.1988  – 1 StR 231/88 - BGHSt 35, 308, 314; BGH, Beschl. v. 18.12.1986  – 4 StR 668/86 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 4; BGH, Urt. v. 25.5.2016 - 5 StR 85/16 Rn. 9).

Zur Berechnung nach der sog. Widmark-Formel vgl. BGH, Beschl. v. 16.1.2008 - 2 StR 532/07 ; vgl. zur Trinkmengenberechnung auch König in LK, 12. Aufl., § 316 Rn. 37 ff.


Hat sich der Richter auf diese Weise seine Überzeugung von der vom Angeklagten vor der Tat genossenen Alkoholmenge verschafft, wozu er verpflichtet ist (BGH, Urt. v. 13.9.1990 - 4 StR 376/90; BGH, Beschl. v. 20.7.1990 - 2 StR 304/90; BGH, Beschl. v. 25.7.1990 - 2 StR 246/90), so hat er daraus die Tatzeitblutalkoholkonzentration zu errechnen. Hierbei gilt, ähnlich wie bei der Rückrechnung aus einer Blutprobe, daß die durch den vorangegangenen Genuß einer bestimmten Alkoholmenge zu einem späteren Tatzeitpunkt individuell aufgebaute Blutalkoholkonzentration nachträglich nicht rekonstruierbar ist (vgl. für die Rückrechnung aus einer Blutprobe: BGHSt 34, 29 [32]; BGH NStZ 1986, 114; BGHR StGB § 21 - BAK 16). Der Zweifelssatz gebietet es daher, den Blutalkoholwert zu berechnen, den der Angeklagte zur Tatzeit gehabt haben kann. Zu seinen Gunsten ist daher mit dem nach medizinischen Erkenntnissen niedrigsten Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor zu rechnen (vgl. BGH, Urt. v. 22.11.1990 - 4 StR 431/90 - BGHR StGB § 21 - Blutalkoholkonzentration 22).

Nach ständiger Rechtsprechung beträgt der niedrigste Abbauwert 0,1 %o pro Stunde, das geringstmögliche Resorptionsdefizit 10 % und der im Regelfall anzusetzende Reduktionsfaktor 0,7 (vgl. BGH, Urt. v. 22.11.1990 - 4 StR 117/90 - BGHSt 37, 231).

Wird bei der Berechnung des Wertes die sog. Widmark-Formel angewandt, ist, wenn es um die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten geht, von einem Resorptionsdefizit des getrunkenen Alkohols von 10 % auszugehen. Soll demgegenüber die Blutalkoholkonzentration im Zusammenhang mit dem sog. Nachtrunk (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 10; s. auch BGHR StGB § 323a Abs. 1 Rausch 3) oder etwa der möglichen Widerstandsunfähigkeit des Tatopfers i.S.d. § 179 StGB festgestellt werden, ist zugunsten des Angeklagten ein Resorptionsdefizit von 30 % die Rechnung einzustellen (vgl. BGH, Beschl. v. 29.9.2009 - 1 StR 426/09 - BGHSt 54, 169 - NJW 2010, 453; siehe auch unten Rdn. 75.5).


Ein Abweichen (etwa 0,8) von dem im Regelfall bei Männern anzusetzenden Faktor von 0,7 kann bei mageren, schmalwüchsigen Personen in Betracht kommen, da der Reduktionsfaktor von der individuellen körperlichen Konstitution, insbesondere vom Fettgewebsanteil, abhängt (vgl. BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 2; BGH NStZ 1992, 277; Beschl. v. 25. Mai 1993 - 2 StR 153/93; BGH, Urt. v. 31.5.2002 - 2 StR 73/02; Forster, Praxis der Rechtsmedizin (1986), S. 451; Schütz, Alkohol im Blut (1983), S. 59).

Zur gebotene Kontrollrechnung zur Überprüfung der Trinkmengenangaben (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 1, 7, 18; § 20 Blutalkoholkonzentration 19; BGH NStZ-RR 1997, 226; 1998, 359; vgl. auch BGH, Beschl. v. 11.4.2013 - 5 StR 113/13: Atemalkoholkonzentration von „0,99 ‰“ als (Indiz-)Wert)

Zur tatrichterlichen Bewertung von unterschiedlichen Trinkmengenangaben vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 22, 29; zum Nachtrunk vgl. auch BGH, Beschl. v. 14.1.2003 - 5 StR 580/02.
 




[ Längerer Rückrechnungszeitraum ]

75.3
Einem aus einer Blutprobe errechneten Wert, der unter Berücksichtigung der dem Angeklagten günstigsten Abbauwerte zustande gekommen ist, kommt lediglich eine beschränkte Aussagekraft zu (vgl. BGHSt 35, 308, 313 f.). Dies gilt insbesondere bei einem über viele Stunden zurückgerechneten Maximalwert (BGHSt 36, 286, 289; BGH, Beschl. v. 20.6.2001 - 2 StR 221/01; BGH, Beschl. v. 12.11.2008 - 2 StR 450/08; vgl. auch BGH, Beschl. v. 7.2.2001 - 3 StR 9/01). Mit fortschreitender Rückrechnungszeit gewinnen die sonstigen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungsbild und das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat beziehen, an indizieller Bedeutung. Kommt der Tatrichter in einem solchen Fall zu der Überzeugung, dass die übrigen Beweisanzeichen stärker zu bewerten sind als der BAK-Höchstwert, ist er nicht gehindert, trotz hoher errechneter Blutalkoholkonzentration die festgestellten psychodiagnostischen Beweisanzeichen dahin zu würdigen, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit nicht vorgelegen hat (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 37 - Entkräftung der Indizwirkung (2,92 Promille); BGHSt 35, 308, 316; 36, 286, 289; BGH NStZ 2002, 532; BGH, Beschl. v. 23.11.2000 - 3 StR 413/00). Dies setzt jedoch unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes voraus, dass der Tatrichter den aus der Blutprobe errechneten maximalen und damit für den Angeklagten günstigsten BAK-Wert sicher für ausgeschlossen erachtet (vgl. BGH, Beschl. v. 12.11.2008 - 2 StR 450/08).

Ausgehend von den BAK-Werten der etwa 14 Stunden nach der Tat entnommenen Blutproben - die Auswertung der ihm um 18.00 bzw. 18.30 Uhr entnommenen Blutproben ergab Blutalkoholkonzentrationen von 2,03 bzw. 1,95 ‰ - und auszuschließenden Nachtrunks - ist nicht nur von einer Tatzeitblutalkoholkonzentration von 3,5 ‰ - wie der Sachverständige meint -, sondern von einem noch höheren Wert auszugehen, da nach ständiger Rechtsprechung bei der Prüfung der Schuldfähigkeit ein stündlicher Abbauwert von 0,2 ‰ (und nicht von 0,1 ‰) und ein einmaliger Sicherheitszuschlag von 0,2 ‰ zu Grunde zu legen ist (vgl. BGHR StGB § 21 BAK 1; BGH, Beschl. v. 5.11.2002 - 4 StR 419/02; BGH, Beschl. v. 24.1.2008 - 4 StR 542/07; BGH, Beschl. v. 22.6.2010 - 4 StR 211/10; BGH, Beschl. v. 13.2.2013 - 4 StR 557/12; Fischer StGB 55. Aufl. § 20 Rdn. 13 m.w.N.).


Bedenken gegen die Aussagekraft einer Rückrechnung mit Maximalwerten über einen langen Rückrechnungszeitraum (vgl. BGH, Urt. v. 9.8.1988 – 1 StR 231/88 - BGHSt 35, 308, 314) können zumindest durch Kontrollrechnungen mit Minimal- und Mindestwerten relativiert werden, sodass der höchstmögliche, der wahrscheinliche und der zumindest in Betracht zu ziehende Blutalkoholwert zu ermitteln ist (vgl. BGH, Urt. v. 14.10.2015 - 2 StR 115/15 Rn. 16; Graw/Thieme in Dreßing/Habermeyer [Hrsg.], Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl. 2015, S. 213, 217).   




- Psychodiagnostische Kriterien

75.3.1
Aus Rechtsgründen ist es nicht zu beanstanden, wenn auch bei einem - rückgerechneten - sehr hohen Tatzeitblutalkoholwert dessen indiziellem Gewicht für eine Schuldfähigkeitsbeurteilung keine vorrangige Bedeutung vor anderen Beweisanzeichen beigemessen wird, wenn zwischen der Tat und der Blutentnahme eine lange Zeit lag (vgl. BGH, Urt. v. 9.8.1988 - 1 StR 231/88 - BGHSt 35, 308, 315, 317 (betr. längerer Zeitraum zwischen Tat und der Blutentnahme (über 9 Stunden); BGH, Beschl. v. 26.10.2000 - 3 StR 433/00 - NStZ 2001, 246; BGH, Urt. v. 31.5.2002 - 2 StR 73/02 betr. zielgerichtetes und durchdachtes Leistungsverhalten (keine Ausfallerscheinungen, Autofahren, situationsadäquate Reaktionen und Gespräche, diverse Sexualpraktiken, anschließendes Arbeiten); BGH, Beschl. v. 24.1.2008 - 4 StR 542/07 betr. Leistungsverhalten und Erinnerungsvermögen des Angeklagten, die keine aussagekräftigen psychodiagnostischen Beweisanzeichen waren; vgl. auch BGH, Beschl. v. 29.9.2009 - 1 StR 426/09 - BGHSt 54, 169 - NJW 2010, 453 betr. Tatopfer bei der Beurteilung der Widerstandsunfähigkeit i.S.v. § 179 StGB).

Gegenüber aussagekräftigen psychodiagnostischen Kriterien, einhergehend mit Alkoholgewöhnung und weitgehend erhaltenem Erinnerungsvermögen des Angeklagten, kann der lediglich anhand der Trinkmengen über einen längeren Zeitraum (z.B. von 7 1/2 Stunden) errechneten Blutalkoholkonzentration keine ausschlaggebende Beweisbedeutung beigemessen werden (vgl. BGHSt 43, 66; BGH NStZ 1998, 457; BGH, Beschl. v. 8.3.2000 - 3 StR 64/00: "der alkoholgewöhnte Angeklagte war in der Lage, ohne Probleme Whiskey und Essen einzukaufen; außerdem hat er die gefährliche Situation für das Tatopfer erkannt und medizinische Hilfe geholt"; BGH, Beschl. v. 8.3.2000 - 5 StR 69/00; BGH, Beschl. v. 5.4.2000 - 3 StR 114/00 - NStZ-RR 2000, 265: betr. Verhalten bei und unmittelbar nach der Tat; BGH, Beschl. v. 26.5.2000 - 4 StR 131/00 - NStZ 2001, 88: "detailgenaues Erinnerungsvermögen"; BGH, Beschl. v. 23.11.2000 - 3 StR 413/00: bei und nach der Tat in sich logische und schlüssige Handlungskonsequenzen mit motorischen Kombinationsleistungen, die deutlich gegen einen alkoholbedingten Ausschluß der Schuldfähigkeit sprechen; BGH, Urt. v. 31.5.2002 - 2 StR 73/02; BGH, Beschl. v. 21.4.2009 - 1 StR 163/09: betr. „zielstrebiges, überlegtes und langdauerndes Vorgehen“ bei maximaler BAK von 1,66 Promille; vgl. auch BGH, Beschl. v. 28.9.2010 - 5 StR 358/10 - StraFo 2011, 63:  Alkoholgewohnheiten des Angeklagten und seine körperliche Konstitution, Vorliegen eher differenzierter Handlungsabläufe während und nach der Tat, die insgesamt einen komplexen Geschehensablauf belegen, der mit der Notwendigkeit situativer Anpassungsleistungen und reflektierender Auseinandersetzung mit dem aktuellen Geschehen einherging und damit in besonderem Maße auf eine erhalten gebliebene Steuerungsfähigkeit schließen lässt; detailreiche Erinnerung des Angeklagten an die Tat (vgl. dazu Kröber NStZ 1996, 569, 575). Sie hat erhebliches Gewicht gegenüber der – ohnehin wenig zuverlässigen (vgl. Kröber aaO S. 574) – Berechnung der Blutalkolkonzentration aus geschätzten Trinkmengenangaben). Dies kann ferner etwa gelten, wenn Trinkmengenangaben des Angeklagten im Ergebnis als unglaubhaft anzusehen sind (höchstmögliche BAK 6,37; geringste 4,22 Promille anhand Kontrollberechnung) und insoweit das damit nicht vereinbare Leistungsverhalten des Angeklagten heranziehen ist (vgl. BGH, Urt. v. 17.12.2009 - 4 StR 424/09).

Als solche sind nur Umstände in Betracht zu ziehen, die Hinweise darauf geben können, ob das Steuerungsvermögen des Täters trotz der erheblichen Alkoholisierung (wenn auch nur erheblich vermindert) erhalten geblieben ist (vgl. BGH, Beschl. v. 30.7.1997 – 3 StR 144/97 - NStZ 1997, 592; BGH, Beschl. v. 18.3.1998 - 2 StR 5/98 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 35; BGH, Beschl. v. 28.4.2009 - 4 StR 95/09; BGH, Beschl. v. 17.8.2011 - 5 StR 255/11; BGH, Beschl. v. 7.2.2012 - 5 StR 545/11; BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15; BGH, Beschl. v. 11.11.2015 - 2 StR 226/15). Als solche scheiden Umstände aus, denen eine solche Aussagekraft weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit zukommt (vgl. hierzu BGHSt 43, 66, 70 ff.; BGHR StGB § 20 Blutalkoholkonzentration 10, 16, 19; § 21 Blutalkoholkonzentration 37, 38; BGH, Beschl. v. 24.1.2008 - 4 StR 542/07; BGH, Beschl. v. 11.11.2015 - 2 StR 226/15). Handelt es sich etwa bei den vom Angeklagten vorgenommenen Handlungen lediglich um die Ausführung schlichter Handlungsmuster, lassen diese einen solchen Schluss nicht zu (vgl. BGH, Beschl. v. 28.4.2009 - 4 StR 95/09). Ein "eingeschliffenes" Verhalten und "schlichte Handlungsmuster" sind nicht ohne weiteres geeignet sind, die Indizwirkung einer hohen Blutalkoholkonzentration zu entkräften (BGHSt 43, 66, 70; BGH NStZ 1996, 227 = StV 1996, 224; BGH BA 1999, 179, 180; BGH, Beschl. v. 18.1.2000 - 4 StR 583/99- NStZ-RR 2000, 299). Unauffälligem Verhalten sowie zielstrebigem und planvollem Vorgehen trotz Alkoholgewöhnung und ungetrübtem Erinnerungsvermögen kommt nur ein beschränkter Beweiswert zu, weil gerade erfahrene und alkoholgewöhnte Trinker sich häufig im Rausch noch motorisch kontrollieren und sich äußerlich geordnet verhalten können, obwohl ihr Hemmungsvermögen möglicherweise schon erheblich beeinträchtigt ist (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 9.8.1988 – 1 StR 231/88 - BGHSt 35, 308, 311; BGH, Beschl. v. 10.1.2012 - 5 StR 517/11; vgl. auch BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 1 StR 59/12). Auch situationsgerechtes Verhalten nach der Tat weist nur eingeschränkten Beweiswert auf, da der Täter durch die Tat oder die Gefahr der Entdeckung „ernüchtert“ sein kann (BGH, Urt. v. 9.8.1988 – 1 StR 231/88 - BGHSt 35, 308, 311; BGH, Beschl. v. 10.1.2012 - 5 StR 517/11). Dass der Angeklagte planmäßig und zielgerichtet vorgegangen sei, indem er Drohungen oder Einschüchterungen genutzt habe, um zu seinem Ziel zu gelangen, stellt sich insoweit lediglich als bloße Verwirklichung des Tatvorsatzes dar, von der Zeugin Geld zu erlangen; daraus lassen sich regelmäßig keine tragfähigen Schlüsse in bezug auf die Steuerungsfähigkeit des Täters gewinnen (BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15; BGH, Beschl. v. 11.11.2015 - 2 StR 226/15).

Die bloße Selbsteinschätzung des Angeklagten (3,9 Promille), er sei nur angetrunken, aber nicht betrunken gewesen, ist ebenso wenig wie die Angaben des ebenfalls hochgradig alkoholisierten Mitangeklagten (4,35 Promille), er habe keinerlei alkoholbedingte Auffälligkeiten beim Angeklagten bemerkt, ohne relevanten Beweiswert ist (vgl. BGH, Beschl. v. 2.7.2015 - 2 StR 146/15; BGH, Beschl. v. 26.5.2009 - 5 StR 57/09 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 41).

In bezug auf das Tatgeschehen darf etwa im Zusammenhang mit dem Führen des Fahrzeugs zwar die "motorische" Fähigkeit zum Lenken des Fahrzeugs über eine Strecke von 800 m berücksichtigt werden, doch verliert dieser Umstand dadurch an Gewicht, daß der Angeklagte mit dem Fahrzeug schließlich - und zwar nicht etwa absichtlich - gegen einen Baum prallte (vgl. BGH, Beschl. v. 18.1.2000 - 4 StR 583/99 - NStZ-RR 2000, 299). Mit Rücksicht auf das Leistungsverhalten der zur Tatzeit erheblich alkoholisierten Angeklagten, insbesondere ihre gelungene Flucht über den Balkon der im zweiten Obergeschoss gelegenen Tatwohnung (vgl. BGH, Urt. v. 21.10.1981 - 2 StR 264/81; Fischer, StGB 56. Aufl. § 20 Rdn. 24), kann sich die Ablehnung der Voraussetzungen des § 21 StGB ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen noch nicht als durchgreifender Rechtsfehler darstellen (vgl. BGH, Beschl. v. 1.9.2009 - 5 StR 312/09; vgl. zur Bewertung von Leistungsausfällen auch: BGH, Beschl. v. 29.5.2013 - 5 StR 203/13).

Für die alkoholbedingte Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit kommt es auf die Tatzeit an. Das Leistungsverhalten des Angeklagten mehrere Stunden nach der Tat kann hierüber nur bedingt Aufschluss geben (vgl. BGH, Beschl. v. 7.2.2008 - 5 StR 609/07).

L E I T S A T Z    Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit kommt der Blutalkoholkonzentration umso geringere Bedeutung zu, je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostische Beweisanzeichen zur Verfügung stehen (Bestätigung und Fortführung von BGH, Urteil vom 29. April 1997 - 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66) (BGH, Beschl. v. 29.5.2012 - 1 StR 59/12 - Ls.).   




[ Fehlende Blutprobe ]

75.4
Auch in Fällen, in denen keine Blutprobe entnommen worden ist, obliegt dem Gericht die Aufgabe, sich aufgrund aller Erkenntnismöglichkeiten im Rahmen freier Beweiswürdigung eine Überzeugung von der vom Angeklagten vor der Tat genossenen Alkoholmenge zu verschaffen. Auf dieser Grundlage ist eine Tatzeit-Blutalkoholkonzentration zu errechnen, die bei der Beurteilung des möglichen Wegfalls des Einsichts- oder Steuerungsvermögens zur Tatzeit in die erforderliche Gesamtwürdigung einzubeziehen ist (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 22, 23; BGH StV 1993, 519). Denn für die Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, kommt es sowohl auf die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch auf die psychodiagnostischen Kriterien an (vgl. BGHSt 43, 66), wobei das Fehlen von Ausfallerscheinungen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegensteht (vgl. BGH, Beschl. v. 29.11.2005 - 5 StR 358/05; Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 20 Rdn. 24 m.w.N.).

Zur Ermittlung der maximalen Blutalkoholkonzentration in Fällen, in denen keine Blutprobe vorliegt, vgl. auch BGH, Urt. v. 26.8.1999 - 4 StR 329/99 - NStZ 2000, 24.

Zwar ist eine direkte Konvertierung von Atemalkohol- in Blutalkoholkonzentrationen ausgeschlossen (BGHSt 46, 358, 365). Indes wird jedem AAK-Wert eine gewisse Bandbreite von BAK-Werten entsprechen (BGHSt 46, 358, 365 m.w.N.), die ohne Weiteres in die Beweiswürdigung über den Umfang eines Nachtrunks, zumal bei widersprüchlichen Angaben eines Angeklagten, in Befolgung der Aufklärungspflicht einzubeziehen und mit zu bewerten ist (BGH, Beschl. v. 26.1.2010 - 5 StR 520/09).
 




[ Nachtrunk ]

75.5
Bei der Berücksichtigung des Nachtrunks ist zu Gunsten des Angeklagten das höchstmögliche Resorptionsdefizit von 30 % zu Grunde zu legen (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 10; BGH StV 1995, 406; BGH, Urt. v. 29.10.2003 - 5 StR 358/03). Bei der Berechnung der Tatzeit - Blutalkoholkonzentration aufgrund Blutentnahme wird ferner, um eine Benachteiligung des Angeklagten auszuschließen, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein maximaler stündlicher Abbauwert von 0,2 ‰ zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 0,2 ‰ zugrunde gelegt (BGHR § 21 Blutalkoholkonzentration 4; BGH NStZ 1986, 114; BGH StV 1986, 338; BGH bei Holtz MDR 1986, 270 und 622; BGH, Urt. v. 9.8.1988 - 1 StR 231/88 - BGHSt 35, 308; BGH, Beschl. v. 26.10.2000 - 3 StR 433/00 - NStZ 2001, 246).

Soll die Blutalkoholkonzentration im Zusammenhang mit der möglichen Widerstandsunfähigkeit des Tatopfers i.S.d. § 179 StGB festgestellt werden, ist - vergleichbar den Fällen eines sog. Nachtrunks (vgl. BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 10; s. auch BGHR StGB § 323a Abs. 1 Rausch 3) - zugunsten des Angeklagten bei der Anwendung der sog. Widmark-Formel ein Resorptionsdefizit von 30 % in die Rechnung einzustellen (vgl. BGH, Beschl. v. 29.9.2009 - 1 StR 426/09 - BGHSt 54, 169 - NJW 2010, 453).
 




[ Besondere Umstände ]

75.6
Zu den Besonderheiten eines bislang unbestraften Mannes von hohem Alter mit einer angesichts seiner physischen Konstellation (Zustand nach Magenoperation, Diabetes, nur gelegentlicher Alkoholkonsum) sehr starken Alkoholisierung zur Tatzeit vgl. BGH, Beschl. v. 21.9.2006 - 3 StR 345/06.

Zu altersbedingten psychischer Veränderungen im Bereich des Sexualstrafrechts siehe unten Rdn. 90 f.
  
 


Spielsucht




Spielsucht und verminderte Schuldfähigkeit

80
Die Feststellung einer "Spielsucht", "Spielleidenschaft" oder "pathologischer Spieler" besagt nicht ohne weiteres, dass beim Betroffenen schon allein deshalb eine krankhafte seelische Störung oder eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB vorliegt (vgl. BGH, Urt. v. 12.1.2005 - 2 StR 138/04 - NStZ 2005, 281, 282).

Pathologisches Spielen
oder Spielsucht stellt für sich genommen keine die Schuldfähigkeit erheblich einschränkende oder ausschließende krankhafte seelische Störung oder schwere andere seelische Abartigkeit dar (BGH, Beschl. v. 24.1.1991 – 4 StR 580/90 - BGHR StGB § 21 Seelische Abartigkeit 17; BGH, Beschl. v. 22.7.2003 - 4 StR 199/03 - NStZ 2004, 31; BGH, Urt. v. 25.11.2004 – 5 StR 411/04 - BGHSt 49, 365, 369 ff.; BGH, Beschl. v. 8.11.1988 – 1 StR 544/88 - BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 8 mit Anm. Kröber JR 1989, 380; BGH, Urt. v. 25.11.2004 - 5 StR 411/04 - BGHSt 49, 365 - NJW 2005, 230, 231; BGH, Beschl. v. 9.10.2012 - 2 StR 297/12 - NJW 2013, 181, 182; BGH, Urt. v. 6.3.2013 - 5 StR 597/12; BGH, Beschl. v. 17.9.2013 - 3 StR 209/13; BGH, Urt. v. 7.11.2013 - 5 StR 377/13; BGH, Beschl. v. 30.9.2014 - 3 StR 351/14; kritisch hierzu Kellermann, StV 2005, 287; vgl. aus forensisch-psychiatrischer und kriminologischer Sicht hierzu auch Mergen in Festschrift für Werner Sarstedt 1981 S. 189; Schumacher ebd. S. 361, 367 ff.; Meyer MSchrKrim 1988, 213; Meyer/Fabian/ Wetzels StV 1990, 464; Rasch StV 1991, 126, 129 f.; ders., Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 283 f.; Knecht ArchKrim 191, 65; ders. Kriminalistik 1992, 661; Schreiber Kriminalistik 1993, 469; Kellermann NStZ 1996, 335; vgl. zu Diagnosekriterien: ICD- 10 F63.0; DSM-IV 312.31).

Indes können in schweren Fällen psychische Defekte und Persönlichkeitsveränderungen auftreten, die eine ähnliche Struktur und Schwere wie bei den stoffgebundenen Suchterkrankungen aufweisen, und es kann zu schweren Entzugserscheinungen kommen (BGH, Urt. v. 6.3.2013 - 5 StR 597/12; BGH, Urt. v. 7.11.2013 - 5 StR 377/13; vgl. Schöch in Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 1, 2007, S. 92, 128; Leygraf in Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Band 2, 2010, S. 514, 523; Nedopil/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl., S. 240).

Wie bei der Substanzabhängigkeit (vgl. BGH, Urt. v. 5.5.1999 – 2 StR 529/98 - NStZ 1999, 448, 449; BGH, Urt. v. 19.9.2000 – 1 StR 310/00; BGH, Urt. v. 7.11.2000 – 5 StR 326/00 - NStZ 2001, 83 und 85; vgl. MünchKomm StGB/van Gemmeren, 2. Aufl., § 63 Rn. 24) kann deshalb auch bei Spielsucht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit angenommen werden, wenn diese zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt oder der Täter bei den Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen gelitten hat (vgl. BGH, Beschl. v. 8.11.1988 – 1 StR 544/88 - BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 8; BGH, Beschl. v. 22.7.2003 - 4 StR 199/03 - NStZ 2004, 31, 32; BGH, Beschl. v. 9.10.2012 – 2 StR 297/12 - NJW 2013, 181, 182; BGH, Urt. v. 6.3.2013 - 5 StR 597/12; BGH, Urt. v. 7.11.2013 - 5 StR 377/13; vgl. auch BGH, Urt. v. 25.11.2004 - 5 StR 411/04 - BGHSt 49, 365, 370 f.).


Maßgeblich ist insoweit, ob der Betroffene durch seine Spielsucht gravierende Änderungen in seiner Persönlichkeit erfährt, die in ihrem Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung gleichwertig sind. Nur wenn die Spielsucht zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen führt oder der Täter bei Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen gelitten hat, kann ausnahmsweise eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit anzunehmen sein (BGH, Beschl. v. 22.7.2003 - 4 StR 199/03 - wistra 2003, 419; BGH, Urt. v. 25.11.2004 - 5 StR 411/04 - BGHSt 49, 365 - NJW 2005, 230; BGH, Urt. v. 12.1.2005 - 2 StR 138/04 - NStZ 2005, 281, 282; BGH, Urt. v. 16.6.2005 - 5 StR 140/05; BGH, Beschl. v. 9.10.2012 - 2 StR 297/12 - NJW 2013, 181 f.; BGH, Beschl. v. 17.9.2013 - 3 StR 209/13; BGH, Beschl. v. 30.9.2014 - 3 StR 351/14).

Beispiel: Da Beeinträchtigungen der psychischen Funktionsfähigkeit des Angeklagten im Rahmen der §§ 20, 21 StGB nur insoweit von Belang sind, als sie sich auf seine Handlungsfähigkeiten in der konkreten Tatsituation ausgewirkt haben (vgl. Fischer, StGB, 58. Aufl., § 20 Rn. 44; siehe hierzu auch oben Rdn. 10), lässt sich bei Steuerhinterziehungen ein solcher Einfluss einer etwaigen Spielsucht von vornherein ausschließen, wenn nach dem Tatplan längerfristig Gewinne auf Kosten des Steuerfiskus gemacht werden sollten und Gegenstand dieser Taten auch nach der Einlassung des Angeklagten nicht war, dem Angeklagten kurzfristig zusätzliche Mittel zur Fortsetzung des Spielens zu verschaffen (vgl. zu diesem Kriterium BGH, Beschl. v. 18.5.1994 - 5 StR 78/94 - NStZ 1994, 501); dazu waren sie ungeeignet (vgl. BGH, Beschl. v. 8.6.2011 - 1 StR 122/11).

Spielsucht kann unter dem Gesichtspunkt einer Verminderung der Schuldfähigkeit nur dann beachtlich sein, wenn die begangenen Straftaten der Fortsetzung des Spielens dienen (vgl. BGH, Beschl. v. 18.5.1994 – 5 StR 78/94 - NStZ 1994, 501; BGH, Beschl. v. 8.6.2011 – 1 StR 122/11; BGH, Urt. v. 7.11.2013 - 5 StR 377/13).

Beispiel: Geht das angefochtene Urteil in seinen Feststellungen davon aus, dass es dem Angeklagten bei der Planung der Straftat zum Nachteil der später Getöteten darum ging, Geldmittel zum Schuldenabbau zu beschaffen, kann dies darauf hindeuten, dass beim Angeklagten keine völlige Einengung seines Verhaltensspielraums auf das Glücksspiel besteht (vgl. BGH, Urt. v. 7.11.2013 - 5 StR 377/13; Leygraf, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2, 2010, 514, 527).

Vgl. zu den Anforderungen an das Vorliegen einer die Schuldfähigkeit beeinflussenden Spielsucht auch BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 7, 8 und 17; BGH, Beschl. v. 7.1.1993 - 4 StR 597/92 - StV 1993, 241; BGH, Beschl. v. 18.5.1994 - 5 StR 78/94 - NStZ 1994, 501 



Affekt




Affektbedingte Beeinträchtigung des Steuerungsvermögens

85
Die Annahme vollständig aufgehobener Steuerungsfähigkeit kommt bei einem Affektdurchbruch nur in Ausnahmefällen in Betracht (vgl. BGH NStZ 1995, 175, 176 = BGHR StGB § 20 Affekt 3; BGH NStZ 1997, 333, 334; siehe auch BGH StV 1997, 630, 631 a.E.; BGH, Beschl. v. 15.10.2003 - 1 StR 402/03 - NStZ 2004, 324; BGH, Urt. v. 29.10.2008 - 2 StR 349/08 - BGHSt 53, 31 - NJW 2009, 305; Schöch in LK 12. Aufl. § 20 Rdn. 62). Grundsätzlich ist zu verlangen, dass der geistig gesunde Mensch seine Affekte und sich beherrscht (vgl. BGHR StGB § 20 Ursachen, mehrere 4; BGH, Urt. v. 14.12.2000 - 4 StR 375/00 - StV 2001, 228; Jähnke in LK StGB 11. Aufl. § 20 Rdn. 55).

vgl. zu den anerkannten Beurteilungskriterien einer tiefgreifende Bewusstseinsstörung infolge eines Affektsturms auch BGH, Beschl. v. 3.8.1993 – 4 StR 138/93 - StV 1993, 637; Sass in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2, 2010, S. 351 ff.
 




[ Affektive Erregung bei Kapitaldelikten ]

85.1
Eine affektive Erregung stellt bei vorsätzlichen Tötungsdelikten, zumal, wenn gefühlsmäßige Regungen bei der Tat eine Rolle spielen, eher den Normalfall dar (vgl. BGH, Beschl. v. 7.8.2012 - 2 StR 218/12; BGH, Urt. v. 28.2.2013 - 4 StR 357/12; Saß, Der Nervenarzt 1983, 557, 558). Ob die affektive Erregung einen solchen Grad erreicht hat, daß sie zu einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung geführt hat, kann deshalb nur anhand von tat- und täterbezogenen Merkmalen beurteilt werden, die als Indizien für und gegen die Annahme eines schuldrelevanten Affekts sprechen können. In der Rechtsprechung ist zwar anerkannt, dass bei einem in äußerster Erregung handelnden Täter eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung vorliegen kann, wenn der hochgradige affektive Ausnahmezustand eine Intensität erreicht, die in ihrer Auswirkung auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit den krankhaften seelischen Störungen im Sinne der §§ 20, 21 StGB gleichwertig ist, wobei dies vor dem Hintergrund des Verhaltens des Täters vor, während und nach der Tat zu untersuchen und zu beurteilen ist (vgl. BGHR StGB § 21 Bewusstseinsstörung 4). Diese Indizien sind dabei im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu beurteilen (st. Rspr.; vgl. BGHR StGB § 21 Affekt 4, 7, 9 jew. m.w.N.; BGH StV 1993, 637; BGH, Urt. v. 14.12.2000 - 4 StR 375/00 - StV 2001, 228; BGH, Urt. v. 18.9.2002 - 2 StR 125/02; BGH, Urt. v. 22.1.2004 - 4 StR 319/03 - NStZ-RR 2004, 234; BGH, Urt. v. 1.4.2009 - 2 StR 601/08 - NStZ 2009, 571; BGH, Urt. v. 23.4.2009 - 3 StR 100/09 - NStZ 2009, 439; BGH, Beschl. v. 7.8.2012 - 2 StR 218/12; BGH, Urt. v. 28.2.2013 - 4 StR 357/12).

 
siehe auch: Minder schwerer Fall des Totschlags, § 213 StGB - Rdn. 15 




[ Kennzeichen ]

85.2




- Erinnerungsvermögen

85.2.1
Eine zeitlich eng begrenzte totale Erinnerungslücke oder inselhaft erhalten gebliebene Erinnerungsreste stellen Kennzeichen für mögliche affektbedingte Beeinträchtigungen der Schuldfähigkeit dar, ohne daß es auf Erinnerungsverluste ankommt, welche die Vorgeschichte der Tat oder das Nachtatverhalten umfassen. Die Unterscheidung eines solchen Symptoms von Schutzbehauptungen und Ergebnissen psychischer Verdrängungsvorgänge ist allerdings schwierig (BGH NStZ 1997, 296; BGH, Urt. v. 18.9.2002 - 2 StR 125/02).

Ankündigungen der Tat und vergleichbare aggressive Handlungen gegen das spätere Tatopfer im Vorfeld sind deutliche Anzeichen dafür, daß der Angeklagte nicht infolge einer Bewußtseinsstörung in ein gedanklich nicht vorbereitetes Tatgeschehen geraten ist (vgl. BGHR StGB § 21 Affekt 11; BGH, Urt. v. 22.1.2004 - 4 StR 319/03 - NStZ-RR 2004, 234). Etwas anderes kann gelten, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß das Persönlichkeitsgefüge des Angeklagten bei der Tatausführung infolge einer schon längere Zeit vor der Tat bestehenden ambivalenten Täter-Opfer-Beziehung mit chronischen Affektanspannungen schwer erschüttert war. In der Rechtsprechung ist anerkannt, daß bei einer solchen Situation auch ein "Vorgestalten" der Tat in der Phantasie bis hin zu Ankündigungen und Vorbereitungshandlungen der Tat mit einem tatauslösenden affektiven Durchbruch vom Schweregrad des § 21 StGB vereinbar sein können (vgl. BGHR StGB § 21 Affekt 6 und 11 m.w.N.; BGH, Urt. v. 22.1.2004 - 4 StR 319/03 - NStZ-RR 2004, 234).


Erinnert sich der Täter an das Tatgeschehen, kann dies nur eingeschränkt als Anhaltspunkt für intaktes Steuerungsvermögen herangezogen werden (BGHR StGB § 20 Bewusstseinsstörung 5; BGH, Beschl. v. 15.3.2007 - 5 StR 76/07; BGH, Urt. v. 23.10.2007 - 5 StR 318/07). Eine besonders exakte, detailreiche Erinnerung des Angeklagten belegt daher noch nicht, dass diese erhalten gebliebene Erinnerung an das Tatgeschehen uneingeschränkt als Anhaltspunkt für intaktes Steuerungsvermögen herangezogen werden kann (BGHR StGB § 20 Bewusstseinsstörung 5; BGH, Beschl. v. 31.1.2007 - 5 StR 504/06). Es handelt sich vielmehr nur um einen von vielen Aspekten, die als Indizien - nicht als Ausschlusskriterien - im Rahmen einer Gesamtbetrachtung für und gegen die Annahme eines schuldrelevanten Affekts sprechen können (vgl. BGHR StGB § 20 Bewusstseinsstörung 3 und 5; BGHR StGB § 21 Affekt 4 bis 6; BGH, Beschl. v. 31.1.2007 - 5 StR 504/06; BGH, Urt. v. 23.10.2007 - 5 StR 318/07; BGH, Urt. v. 19.2.2008 - 5 StR 512/07).




- Sicherungstendenzen

85.2.2
Angesichts des Umstands, dass die Angeklagten den Nebenkläger auf offener, aber „menschenleerer“ Straße attackierten und erst zustachen, nachdem sie ihn in einen Hauseingang gezogen hatten, begegnet es keinen Bedenken, dass das Tatgericht die Tat nicht als ein Handeln ohne Sicherungstendenzen bewertet hat (vgl. BGH, Urt. v. 19.2.2008 - 5 StR 512/07).

Die alsbaldige Übernahme von Verantwortung für eine Tat ist offenbar keine Grundlage für die Annahme, der Täter habe bei der Tat nicht voll verantwortlich gehandelt, wie dies etwa bei einer spontan und abrupt begangenen Tat ohne Schutz vor Entdeckung der Fall sein kann (BGH, Beschl. v. 24.11.2009 - 1 StR 520/09 - StV 2010, 287: Angeklagter rief nach der Tat selbst die Polizei; vgl. zur sog. „fehlenden Sicherheitstendenz“ BGH NStZ 2005, 149 f. m.w.N.).

Auch ein abrupter Tatverlauf mit elementarer Wucht ohne Sicherungstendenzen kann unter Berücksichtigung der weiteren Tatumstände als Kriterium für einen affektiven Ausnahmezustand sprechen (vgl. BGH, Beschl. v. 19.6.1990 – 1 StR 278/90 - BGHR StGB § 21 Affekt 4 mwN; BGH, Beschl. v. 6.7.2011 - 5 StR 230/11; Saß, FPPK 2008, 87 ff.).
 




- Folgerichtiges und zielgerichtetes Handeln

85.2.3
Auch ein Täter, der in einem hochgradigen affektiven Ausnahmezustand handelt, kann gemessen an der Verfolgung seines deliktischen Ziels durchaus folgerichtig und zielgerichtet handeln (BGHR StGB § 20 Bewusstseinsstörung 6, § 21 Affekt 10; BGH, Beschl. v. 12.6.2007 - 4 StR 187/07 - NStZ 2007, 696; BGH, Urt. v. 23.10.2007 - 5 StR 318/07). Bei dem Herbeiholen des Tatwerkzeugs handelt es sich um eine einfache Tätigkeit, die vom Angeklagten keine intensiven Entscheidungs- und Steuerungselemente erfordert und deswegen nicht gegen einen Affekt spricht (BGHR StGB § 21 Bewusstseinsstörung 1; BGH, Beschl. v. 12.6.2007 - 4 StR 187/07 - NStZ 2007, 696; BGH, Urt. v. 23.10.2007 - 5 StR 318/07). Ebenso wenig spricht ein gezieltes Zuschlagen gegen einen Affekt, denn auch ein Täter, der in einem hochgradigen affektiven Ausnahmezustand handelt, kann gemessen an der Verfolgung seines deliktischen Ziels durchaus folgerichtig und zielgerichtet handeln und insbesondere in der Lage sein, sein Opfer mit allen Schlägen am Kopf zu treffen (vgl. BGHR StGB § 20 Bewusststeinsstörung 6; § 21 Affekt 10; BGH, Beschl. v. 12.6.2007 - 4 StR 187/07 - NStZ 2007, 696).

Dass der Angeklagte am Tattage, nachdem er sich entschlossen hatte, seinen Sohn zu erschießen, etwa dreieinhalb Stunden auf dessen Rückkehr gewartet hat, kann aber ebenso wie die vorangegangene Tatplanung und die zielgerichtete Vorgehensweise bei der Tatausführung ein deutliches Anzeichen dafür sein, dass er nicht infolge einer Bewusstseinstörung gehandelt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 234 m. w. N.). Gegen eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung sprechen kann ferner ein rationales und umsichtiges Verhalten nach der Tat (vgl. BGH NStZ 1990, 231), insbesondere dann, wenn Anzeichen für eine den Affektabbau begleitende schwere seelische Erschütterung des Täters fehlen (vgl. BGHR StGB § 21 Affekt 7; BGH, Urt. v. 15.9.2005 - 4 StR 216/05). Unmittelbar nach der Tat einsetzende systematische Vertuschungsbemühungen des Angeklagten können gegen das Vorliegen einer affektbedingten Tat sprechen (vgl. BGH NStZ 2005, 149, 150 m. w. N.; BGH, Urt. v. 31.5.2005 - 1 StR 290/04).


Die Annahme, die Dauer des dreiminütigen Drosselvorgangs spreche entscheidend gegen die von dem Sachverständigen für nicht ausschließbar angesehene kurzzeitige tiefgreifende Bewusstseinsstörung, verliert aus dem Blick, dass die Zeitdauer des Drosselns dieser Tötungsart immanent ist und für sich gesehen der Annahme eines explosionsartigen Emotionsdurchbruchs nicht entgegensteht. Dass sich von vornherein eine affektausgelöste Tötung durch Erdrosseln über einen Zeitraum von drei Minuten nicht erstrecken kann, versteht sich jedenfalls nicht von selbst bedarf deshalb näherer Begründung (vgl. BGH, Beschl. v. 7.8.2012 - 2 StR 218/12). 




- Vorhersehbarkeit der Affektsituation

85.2.4
Ist der endgültige Tötungsentschluß erst in der - wenngleich für den Angeklagten vorhersehbaren - Affektsituation im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Opfer getroffen worden, stehen Grundsätze der actio libera in causa der Strafrahmenverschiebung jedenfalls nicht zwingend entgegen (vgl. dazu BGHR StGB § 21 Vorverschulden 6; BGH, Urt. v. 1.2.2005 - 5 StR 529/04 - NStZ 2005, 384).

  siehe zu den Grundsätzen der actio libera in causa auch nachstehend  "Einzelfälle und Probleme"
 




[ Sonsitge Erscheinungsformen ]

85.3




- Irreale Fokussierung und Fixierung

85.3.1
Außer dem klassischen Fall eines schuldrelevanten Affekts kann es sich um auch eine affektbedingte Bewusstseinsstörung etwa infolge „einer irrealen Fokussierung und Fixierung“ des Angeklagten auf eine bestimmte Person handeln (zur Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit bei einer Ausweitung einer „überwertigen Idee“ vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 25; BGH, Urt. v. 15.9.2005 - 4 StR 216/05).

Zur wahnhaften Vorstellung des Angeklagten, von Personen verfolgt zu werden, die auch bereits Mordanschläge gegen ihn verübt hätten und anderseits flexibles Reagieren mit bloßer Gewaltandrohung zur damit verbundenen Zielerreichung vgl. BGH, Beschl. v. 8.8.2007 - 2 StR 296/07.
   




- Asthenischer Affekt

85.3.2
Auch ein tiefgreifendes Schreckerleben in Form eines sog. asthenischen Affekts kann unter dem Gesichtspunkt tiefgreifender Bewusstseinsstörung für die Beurteilung der Schuldfähigkeit von Bedeutung sein (vgl. BGH, Urt. v. 18.5.2000 - 4 StR 29/00 - StV 2001, 563). 




- Akute Belastungsreaktion

85.3.3
Eine akute Belastungsreaktion erfüllt im Allgemeinen nicht das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne von § 20 StGB. Als schwer kann nur eine solche seelische Abartigkeit gelten, bei der sich nach dem Erscheinungsbild und Ausprägungsgrad der psychischen Störung eine Aufhebung der Unrechtseinsichts- oder Steuerungsfähigkeit oder eine erhebliche Minderung des Hemmungsvermögens geradezu aufdrängt (vgl. BGH, Urt. v. 14.9.2011 - 2 StR 145/11; LK/Schöch, StGB, 12. Aufl., § 20 Rn. 73) oder bei der die Störung das Gewicht krankhafter seelischer Störungen erreicht (vgl. BGHSt 34, 22, 24 f.; 35, 76, 78 f.; 37, 397, 401). Es muss feststehen, dass der Täter aus einem für ihn mehr oder weniger unüberwindlichen Zwang heraus gehandelt hat (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 70, 71; BGH, Urt. v. 14.9.2011 - 2 StR 145/11). 




- Umstand, der das "Fass zum Überlaufen" brachte

85.3.4
Angesichts der Tatvorgeschichte kann es durchaus vorstellbar sein, dass sich bei dem Angeklagten über eine längere Zeit eine Affektverfassung aufgebaut hat, die sich - etwa begünstigt durch die wiederholten Demütigungen und die angewendete Gewalt am Tattag, die womöglich das "Fass zum Überlaufen" gebracht haben - in der Tat ein Ventil gesucht hat (vgl. BGH NStZ 2006, 511; BGH, Beschl. v. 7.8.2012 - 2 StR 218/12; s. auch im Zusammenhang mit § 213 StGB BGH NStZ 2011, 339). 




- Persönlichkeitsfremde Tat

85.3.5
Die dem Angeklagten vorgeworfene Tat kann ihm aufgrund seines übermäßig angepassten, duldend-labilen und aggressionsgehemmten Charakters persönlichkeitsfremd sein. Auch dieser Umstand kann ein mögliches Indiz für eine affektbedingte tiefgreifende Bewusstseinsstörung des Angeklagten darstellen, das das Tatgericht in seine Überlegungen einbeziehen muss. Dies gilt umso mehr, wenn das Urteil keinen bestimmenden Auslöser für die begangene Tat benennt (vgl. BGH, Beschl. v. 7.8.2012 - 2 StR 218/12).




[ Affekt- und Impulstaten ]

85.4
Zur Differenzierung zwischen "Affekttaten" (im engeren Sinne) und sog. "Impulstaten" vgl. BGH, Beschl. v. 7.5.2008 - 2 StR 175/08 




[ Wechselwirkungen ]

85.5




- Affekt und Alkoholisierung

85.5.1
Ist Alkoholisierung festgestellt, muss ggfls. erörtert werden inwieweit sich die alkoholische Enthemmung affektbegünstigend ausgewirkt haben könnte (vgl. hierzu: BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 3, 9, 11; BGH StV 1994, 13; BGH, Beschl. v. 31.1.2007 - 5 StR 504/06; BGH, Beschl. v. 23.10.2007 - 5 StR 334/07: "betr. BAK 2,1 Promille"; BGH, Urt. v. 19.2.2008 - 5 StR 512/07). Gleiches gilt für hinzutretende Faktoren wie Ermüdung oder Erschöpfung (vgl. BGH, a.a.O.). Ein beteiligter Affekt bzw. ein unbeherrschter Gefühlsausbruch ist insoweit zusammen mit der Alkoholisierung des Angeklagten und seinem damaligen psychischen Zustand in einer Gesamtbetrachtung zu würdigen. Eine solche Gesamtwürdigung ist geboten, wenn diese Faktoren ggf. nicht isoliert betrachtet, wohl aber im Zusammenhang eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB bewirkt haben können (vgl. BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 3; BGH, Beschl. v. 3.9.2004 - 1 StR 359/04; BGH, Beschl. v. 18.2.2005 - 2 StR 410/04; BGH, Urt. v. 28.11.2007 - 2 StR 477/07 - wistra 2008, 195: Tatzeit-BAK 3,35 Promille u. affektive Erregung).

Zum Zusammenwirken von Drogen- und Alkoholeinfluss, Persönlichkeitsstörung bzw. affektive Erregung vgl. BGH, Beschl. v. 21.8.2008 - 3 StR 255/08; vgl. auch BGH, Urt. v. 24.2.2010 - 2 StR 552/09 betr. starke Alkoholisierung und affektive Erregung ("Ausrasten"). 

 siehe auch: Minder schwerer Fall des Totschlags, § 213 StGB
  



Altersbedingte psychische Veränderungen




Beeinträchtigung durch Altersabbau

90
Nach ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Fähigkeit eines alternden Menschen, der Einsicht in das Unerlaubte seines Tuns gemäß zu handeln, durch einen Altersabbau beeinträchtigt sein kann, ohne dass Intelligenzausfälle oder das äußere Erscheinungsbild auf ein Schwinden der geistigen und seelischen Kräfte hindeuten (vgl. BGH NStZ 1983, 34; BGHR StGB § 21 Sachverständiger 5 und 6; BGH, Beschl. v. 9.8.2001 - 4 StR 308/01; BGH, Beschl. v. 15.1.2008 - 4 StR 500/07 vgl. in diesem Zusammenhang auch: BGH, Beschl. v. 7.1.2003 - 4 StR 473/02 betr. Fixierung auf störende und als Provokation empfundene Geräusche eines Nachbarn im hellhörigen Haus, derentwegen der Angeklagte die Schusswaffe einsetzte und BGH, Beschl. v. 8.12.2009 - 5 StR 449/09 - NStZ-RR 2010, 105 m.w.N. betr. Möglichkeit eines schon im Tatzeitraum vorhandenen zerebralen Abbaus im Zshg. mit Epilepsie und hierdurch bedingte erhebliche Wesensänderung). 




[ Ersttäter im vorgerückten Alter ]

90.1
Der Bundesgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass bei Ersttätern im vorgerückten Alter im Bereich des Sexualstrafrechts die Frage der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) infolge altersbedingter psychischer Veränderungen zu erörtern ist (vgl. u. a. BGH NJW 1964, 2213; BGHR StGB § 21 Sachmangel 1, 2, 3; Sachverständiger 5; BGH, Beschl. v. 6.11.1992 - 2 StR 480/92 - NStZ 1993, 332; BGH, Urt. v. 25.4.1995 - 5 StR 148/95; BGH, Beschl. v. 12.7.1995 - 5 StR 297/95; BGH, Beschl. v. 6.9.1995 - 3 StR 339/95; BGH, Beschl. v. 11.1.2005 - 3 StR 450/04; BGH, Urt. v. 13.10.2005 - 5 StR 347/05 - StV 2006, 13; BGH, Beschl. v. 15.3.2011 - 3 StR 476/10; s. a. BGHR StGB § 21 Sachverständiger 6; StPO § 244 Abs. 2 Sachverständiger 8; BGH NStZ 1983, 34; zu den Indizien für eine hirnorganische Beeinträchtigung vgl. auch Kröber NStZ 1999, 298). Insoweit ist zu erwägen, ob zur Beurteilung der Frage einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten ein Sachverständiger mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiete des Altersabbaus in Anspruch zu nehmen sein wird (vgl. u. a. BGH StV 1989, 102; 1994, 14; Kröber, NStZ 1999, 298, 299; BGH, Urt. v. 13.10.2005 - 5 StR 347/05). Da dies für einen Nichtmediziner nur schwer erkennbar ist, wird insoweit regelmäßig die Hinzuziehung eines Psychiaters mit besonderen Erfahrungen auf dem Gebiete des Altersabbaus notwendig sein (vgl. u.a. BGH StV 1989, 102; 1994, 15; BGH, Beschl. v. 9.8.2001 - 4 StR 308/01).

Zur Berücksichtigung eines hohen Lebensalters und starker Alkoholisierung im Zusammenhang mit § 21 StGB  siehe oben Rdn. 75.6
  



Einzelfälle u. -probleme




Actio libera in causa

95
Bei der actio libera in causa wird an ein Verschulden oder an Verhaltensweisen des Täters vor Tatbeginn angeknüpft und eine Strafmilderung trotz Tatbegehung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit nicht gewährt (vgl. BGHSt 34, 29, 33; BGHR StGB § 20 - actio libera in causa 3; BGH NStZ 1999, 448 f.; BGH, Urt. v. 7.6.2000 - 2 StR 135/00; BGH, Urt. v. 30.4.2003 - 3 StR 386/02 - wistra 2003, 351; vgl. auch BGH, Urt. v. 8.2.2000 - 5 StR 421/99 u. BGH, Urt. v. 6.11.2001 - 5 StR 292/01). Nach den Grundsätzen der actio libera in causa ist eine Einschränkung der Verantwortlichkeit zur Tatzeit etwa ohne Bedeutung, wenn die Angeklagten durch die Verabredung und Planung der später ausgeführten Straftat in uneingeschränkt schuldfähigem Zustand die entscheidende Ursache für die Ausführung gesetzt haben (vgl. BGH, Urt. v. 6.3.1986 - 4 StR 48/86 - BGHSt 34, 29, 33; BGH, Urt. v. 7.6.2000 - 2 StR 135/00; BGH, Urt. v. 17.6.2010 - 4 StR 47/10; vgl. auch Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 21 Rn. 11 m.w.N.).

Beispiel: Der Angeklagte sagt seine Beteiligung an der "geplante Prügelei" mittags im nüchternen Zustand zu. Dabei ist das gegen das Opfer beabsichtigte Vorgehen so genau geplant, daß der Tatentschluß des Angeklagten alle Merkmale der später verwirklichten Taten umfaßt und nicht nur eine allgemeine Tatbereitschaft vorliegt. Anschließend trinkt der Angeklagte Alkohol in solchem Maße, dass nicht ausgeschlossen werden kann, daß "die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit vermindert war (§ 21 StGB), da bei ihm zu Beginn der Tat eine Blutalkoholkonzentration von maximal 3 Promille vorgelegen hat. Eine Strafrahmenverschiebung scheidet aus, weil der Angeklagte zum Zeitpunkt des Tatentschlusses noch voll schuldfähig war (vgl. BGH, Urt. v. 7.6.2000 - 2 StR 135/00).

Offengelassen hat der Bundesgerichtshof die Beantwortung der Frage, ob die vorsätzliche actio libera in causa einen Doppelvorsatz in dem Sinne erfordert, dass neben der geplanten Tat auch die Herbeiführung der Schuldunfähigkeit vom Vorsatz umfaßt sein muß (vgl. zur Kritik an der herrschenden Meinung in der Literatur: Jähnke in LK 11. Aufl. § 20 Rdn. 79 ff., 82 m.w.Nachw.). Jedenfalls ist nicht erforderlich, daß die Einnahme der Rauschmittel bzw. der Tabletten zum Zwecke der leichteren Durchführung der geplanten Straftat erfolgen muß. Der Bundesgerichtshof hat zu einem Fall alkoholbedingter Schuldunfähigkeit ausgeführt, dass es für die actio libera in causa nicht begriffswesentlich ist, dass sich der Täter "Mut antrinkt", um die beabsichtigte Tat nach Entfallen der Hemmungen im Rauschzustand zu vollführen; es genügt vielmehr, daß er, zur Tat entschlossen, Alkohol zu sich nimmt, obwohl er unter Billigung des Erfolges damit rechnet, daß er im Zustand alkoholbedingter Schuldunfähigkeit die geplante Tat begehen werde (BGH in LM Nr. 7 zu § 51 Abs. 1 StGB; vgl. ferner BGH NJW 1977, 590). Für die Einnahme von Tabletten kann nichts anderes gelten (vgl. BGH, Beschl. v. 13.9.2001 - 3 StR 331/01 - NStZ 2002, 28).

Hat der Angeklagte eingeräumt, dass er jeweils vor den einzelnen Taten Heroin konsumiert hat, um seine Angst zu verlieren, so wäre unabhängig von der Klärung der Frage, ob die Steuerungsfähigkeit tatsächlich vermindert war, eine Einschränkung der Verantwortlichkeit zur Tatzeit jedenfalls nach den Grundsätzen der actio libera in causa (vgl. dazu Fischer StGB 55. Aufl. § 20 Rdn. 49 ff.) ohne Bedeutung (vgl. BGH NStZ 1999, 448; 2000, 584; 2002, 31; 2003, 535; BGH, Beschl. v. 25.6.2008 - 2 StR 226/08). Der Drogenkonsum vor der Tat muß daher aus dem Gesichtspunkt der vorverlagerten Schuld (actio libera in causa) außer Betracht bleiben, soweit das Rauschgift erst nach dem Tatentschluß konsumiert wurde (vgl. BGH, Urt. v. 19.9.2001 - 2 StR 240/01 - NStZ 2002, 31).




Minderbegabung

100
Hat eine "Minderbegabung" nicht ein Ausmaß erreicht, daß auf Grund dieser eine verminderte Steuerungsfähigkeit i. S. d. § 21 StGB anzunehmen ist, spielt eine vorhandene Minderbegabung, was allgemein die Schuld betrifft, keine Rolle. Sie kann strafrechtlich nur dann von Bedeutung sein, wenn sie sich auf die konkrete Tat ausgewirkt hat (vgl. BGH, Urt. v. 16.9.2004 - 1 StR 233/04). 




Kindstötung

105
Eine erhebliche Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit wird kaum in Betracht kommen, wenn bei der Täterin außer der Belastung durch die Geburt keine unabhängig hiervon bestehenden rechtlich relevanten körperlichen und geistig-seelischen Beeinträchtigungen vorliegen (vgl. BGH, Urt. v. 5.6.2003 - 3 StR 55/03; BGH, Urt. v. 19.6.2008 - 4 StR 105/08 - StV 2009, 529). Dies gilt erst recht, wenn die Tat - anders als im früheren § 217 StGB vorausgesetzt - nicht „in oder gleich nach der Geburt“ erfolgt.

 siehe hierzu ausführlicher: Minder schwerer Fall des Totschlags, § 213 StGB
 




Furcht

110
Furcht vor einer Person, die - psychisch und physisch überlegen - den Angeklagten unter Druck gesetzt haben soll, kann verminderte Schuldfähigkeit nicht begründen. Zwar mag psychische Abhängigkeit in extremen Einzelfällen eine "andere seelische Abartigkeit" darstellen (vgl. Streng in Münchener Kommentar zum StGB, § 20 Rdn. 108 m.w.N.). Nötigung zu einer Straftat kann jedoch keinem der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zugeordnet werden. Es handelt sich um eine grundsätzlich bewältigbare Herausforderung, bezüglich derer die Verhaltenserwartungen der Gemeinschaft außerhalb der Reichweite der §§ 34, 35 StGB nicht zurückzunehmen sind (vgl. BGH, Urt. v. 10.9.2003 - 1 StR 147/03; vgl. auch allgemein: Streng aaO Rdn. 109).




Psychose

115
Leidet der Angeklagte an einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie (vgl. BGH NStZ-RR 1998, 294; NStZ 2005, 326) und hält ihn das sachverständig beratene Tatgericht gleichwohl für voll schuldfähig, weil in Phasen der Remission seine Steuerungsfähigkeit nicht beeinträchtigt sei, bedarf diese Bewertung einer umfassenden Prüfung und Erläuterung, insbesondere, wenn der Angeklagte unter "Eilbetreuung" gestellt wurde ist angesichts der Schwere der psychiatrischen Diagnose eine Auswertung der Betreuungsunterlagen und Darlegung erforderlich, ob sich insoweit weitergehende oder abweichende Erkenntnisse ergeben (vgl. BGH, Beschl. v. 22.10.2007 - 5 StR 364/07). Allein Feststellungen zu den beim Angeklagten vorhandenen krankheitsbedingten Wahnvorstellungen können die Annahme eines Ausschlusses, mindestens aber einer erheblichen Verminderung seiner Schuldfähigkeit wahrscheinlich machen (vgl. BGHR StGB § 20 Psychose 1 und 2; BGH, Beschl. v. 9.4.2002 - 5 StR 100/02). 




Äußeres Erscheinungsbild der Vorgehensweise

120
Die Tatsache, dass Zeugen sein äußeres Erscheinungsbild etwa als bedächtiges, zielgerichtetes oder "eiskaltes" Handeln bewertet haben, genügt  nicht, die psychische Befindlichkeit des Angeklagten bei Ausführung der Tat ausreichend zu erfassen (vgl. BGH, Beschl. v.  31. März 2004 - 5 StR 351/03; BGH, Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 197/07; BGH, Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 193/07 - StV 2008, 621). Auch zielstrebiges und folgerichtiges Verhalten steht der Annahme einer erheblichen Verminderung des Hemmungsvermögens nicht unbedingt entgegen (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 83; BGH, Beschl. v. 10.12.2008 - 5 StR 542/08 - NStZ-RR 2009, 115).



Urteil




Urteilsfeststellungen

U.2
Die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung aufgrund einer festgestellten Störung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war, ist tatsachengestützt zu begründen. Dies erfordert es, sowohl konkrete Feststellungen zum Ausmaß der vorhandenen Störung zu treffen als auch ihre Auswirkungen auf die Tat darzulegen. Geboten ist insbesondere eine Auseinandersetzung damit, ob in der Person des Angeklagten letztlich nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei voll schuldfähigen Menschen anzutreffen und übliche Ursache für strafbares Verhalten ist (vgl. BGH, Beschl. v. 19.2.2015 - 2 StR 420/14 mwN; BGH, Beschl. v. 22.4.2015 - 2 StR 393/14).

Unspezifische Begriffe wie "mittelgradiger Rausch" sollten zur Urteilsbegründung nicht verwendet werden. Aus ihnen ergibt sich nicht, ob bei der Prüfung der Voraussetzungen von §§ 20, 21 StGB von zutreffenden Kriterien ausgegangen sind (vgl. BGH, Beschl. v. 14.11.2007 - 2 StR 465/07).

Wird zwar eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner Alkoholisierung angenommen, eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB jedoch abgelehnt, darf sich diese Bewertung nicht zur Maßregelanordnung nach § 64 StGB und der Anordnung des uneingeschränkten Vorwegvollzugs der Maßregel entgegen § 67 Abs. 2 StGB gemäß § 67 Abs. 1 StGB in Widerspruch setzen (vgl. BGH, Beschl. v. 28.5.2009 - 5 StR 166/09).


Soweit sich die Urteilsbegründung auf Aussagen von Zeugen stützt, die sich selbst zum Zweck des Alkoholkonsums am Ort des Geschehens aufhielten, sind deren Alkoholisierung in Bedacht zu nehmen und ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Bewertung des Verhaltens des Angeklagten zu erörtern (vgl. BGH, Beschl. v. 29.11.2005 – 5 StR 358/05 - NStZ-RR 2006, 72; BGH, Beschl. v. 26.5.2009 – 5 StR 57/09 - BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 41; BGH, Beschl. v. 17.8.2011 - 5 StR 255/11).

Wird eine schuldausschließende Wirkung bei vom Tatgericht angenommenen hochgradigen Affekts verneint, bedarf dies der Erörterung in den Urteilsgründen (vgl. BGH, Urt. v. 29.10.2008 - 2 StR 349/08 - BGHSt 53, 31 - NJW 2009, 305).

Beim Zusammentreffen mehrerer die Schuldfähigkeit möglicherweise beeinträchtigender Faktoren - etwa:  Intelligenzminderung des Angeklagten in Verbindung mit seiner Alkoholabhängigkeit und einer hohen Alkoholisierung bei der Tat - bedarf die Schuldfähigkeitsbeurteilung eingehender Erörterung (vgl. BGH NStZ-RR 2000, 330, 331; BGHR StGB § 21 Ursachen, mehrere 3, 5, 6, 7, 9; BGH, Beschl. v. 23.9.2003 - 4 StR 272/03; BGH, Beschl. v. 25.1.2012 - 5 StR 482/11).

Sind die Auswirkungen der mit sachverständiger Hilfe festgestellten Persönlichkeitsstörung nicht so schwerwiegend, dass der Angeklagte allgemein in seiner Lebensführung erheblich eingeschränkt ist und  handelt es sich vielmehr um Ausprägungen der Persönlichkeit, welche sich noch im üblichen Rahmen halten, muss sich unter diesen Umständen das Tatgericht nicht zwingend mit der Frage einer verminderten Schuldfähigkeit befassen (vgl. BGH, Beschl. v. 29.9.2009 - 3 StR 357/09).


Ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Angeklagte die Tat unter den Voraussetzungen des § 21 StGB begangen hat, lassen die Urteilsgründe jedoch nicht erkennen, ob der Tatrichter den Strafrahmen (etwa des § 223 Abs. 1 StGB) aus diesem Grunde gemäß § 49 Abs. 1 StGB gemildert oder ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen er von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat (vgl. BGH, Beschl. v. 6.8.1987 – 4 StR 388/87 - BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 11; BGH, Beschl. v. 12.7.1988 – 4 StR 278/88 - BGHR StGB § 49 Abs. 1 Strafrahmenverschiebung 3; BGH, Beschl. v. 24.2.1999 – 3 StR 37/99; BGH, Beschl. v. 13.1.2000 – 4 StR 606/99), kann dies zur Aufhebung des Strafausspruchs führen, zumal wenn Gründe, von einer Strafrahmenverschiebung abzusehen, nicht ohne weiteres ersichtlich sind (dazu Fischer, StGB, 59. Aufl., § 21 Rn. 20 ff.) und deshalb nicht ausnahmsweise auf eine ausdrückliche Entscheidung über die fakultative Strafrahmenmilderung verzichtet werden durfte (vgl. BGH, Beschl. v. 24.2.1999 – 3 StR 37/99; BGH, Beschl. v. 20.11.2012 - 4 StR 443/12) und hinzu tritt, dass das Revisionsgericht nicht gänzlich auszuschließen vermag, dass sich dieser Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat, wenngleich die verhängte Strafe an sich nicht unangemessen erscheint (vgl. BGH, Beschl. v. 20.11.2012 - 4 StR 443/12).

Bei der Bewertung der „Schwere“ der angenommenen (schizoiden) Persönlichkeitsstörung ist die von dem Sachverständigen übernommene und auf eine Äquivalenz mit krankhaften seelischen Störungen hindeutende formelhafte Wendung „mit Krankheitswert“ ohne Aussagekraft (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 20 Rn. 38), weil die zugrunde liegenden Wertungen nicht offengelegt werden. Sie kann die an dieser Stelle erforderliche umfassende Darlegung daher nicht ersetzen (vgl. BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 4 StR 494/12).


Wenn sich das Tatgericht darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH, Beschl. v. 2.10.2007  - 3 StR 412/07 - NStZ-RR 2008, 39; BGH, Beschl. v. 28.1.2016 - 3 StR 521/15).

Die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit bei der Tat infolge der festgestellten „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war, hat der Tatrichter ohne Bindung an die Äußerungen des Sachverständigen wertend zu beantworten (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 4 StR 494/12; BGH, Beschl. v. 28.10.2009 – 2 StR 383/09 - NStZ-RR 2010, 73, 74; BGH, Urt. v. 21.1.2004 – 1 StR 346/03 - BGHSt 49, 45, 53; BGH, Urt. v. 26.4.1955 – 5 StR 86/55 - BGHSt 8, 113, 124; Fischer, StGB, 60. Aufl., § 21 Rn. 7 mwN) und in den Urteilsgründen darzulegen (BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 4 StR 494/12). Wird die Annahme einer anderen schweren seelischen Abartigkeit aus dem Vorliegen einer schizoiden Persönlichkeitsstörung hergeleitet, bedarf es dabei einer erkennbaren Abgrenzung gegenüber Verhaltensweisen, die sich noch innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens bewegen und Ursache für strafbares Tun sein können, ohne dass sie die Schuldfähigkeit „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB berühren (BGH, Beschl. v. 19.12.2012 - 4 StR 494/12; BGH, Beschl. v. 25.9.2003 – 4 StR 316/03 - NStZ-RR 2004, 38, 39).


Einzelfälle: zu Darstellungs- bzw. Begründungserfordernissen bei Annahme oder Ablehnung der Voraussetzungen des § 21 StGB siehe auch: BGH, Beschl. v. 6.8.2002 - 5 StR 218/02; BGH, Beschl. v. 23.3.2005 - 2 StR 459/04; BGH, Beschl. v. 17.7.2008 - 3 StR 232/08: betr. mehrere zeitlich nah (9o Minuten) beieinanderliegende Taten und unterschiedliche Bewertung der Schuldfähigkeit bei sich nicht unterscheidenden Verhaltensweisen des Täters; BGH, Beschl. v. 8.12.2009 - 5 StR 449/09 m.w.N. - NStZ-RR 2010, 105: betr. Möglichkeit einer schon im Tatzeitraum vorhandenen erheblichen durch Epilepsie hervorgerufenen Wesensveränderung. 



Prozessuales




Haftsachen / Unterbringungssachen

Z.3




[ Unterbringungsbefehl ]

Z.3.7
Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB ) begangen hat und daß seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt angeordnet werden wird, so kann das Gericht durch Unterbringungsbefehl die einstweilige Unterbringung in einer dieser Anstalten anordnen, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert (§ 126a Abs. 1 StPO).

 siehe auch: 
Einstweilige Unterbringung, § 126a StPO    




[ Unterbringung zur Beobachtung ]

Z.3.8
Nach § 81 StPO kann das Gericht zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, daß der Beschuldigte - für längstens sechs Wochen - in ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus gebracht und dort beobachtet wird. Diese Anordnung trifft das Gericht nur, wenn der Beschuldigte der Tat dringend verdächtig ist und die Anordnung zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nicht außer Verhältnis steht. Im vorbereitenden Verfahren entscheidet das Gericht, das für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständig wäre. Gegen den Anordnungsbeschluß ist sofortige Beschwerde zulässig, die aufschiebende Wirkung hat. Kommt die Anordnung der Unterbringung zur Beobachtung in Frage, ist die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 6 StPO notwendig.

 siehe auch:  Unterbringung zur Beobachtung des Beschuldigten, § 81 StPO
 




Verfahrensrechtliches Merkmal "schuldhaft"

Z.5
   siehe hierzu: § 20 Rdn. Z.5  




Rechtsmittel

Z.7
Die rechtsfehlerhafte Annahme von § 21 StGB beschwert zwar im Bereich der eigentlichen Strafzumessung einen Angeklagten grundsätzlich nicht (vgl. BGH, Beschl. v. 10.6.1998 - 2 StR 215/98; BGH, Urt. v. 6.1.1998 - 5 StR 446/97, insoweit in BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 32 - Triebstörung nicht abgedruckt). Anders kann es jedoch liegen, wenn die zu den Voraussetzungen des § 21 StGB nach Zurückverweisung neu zu treffenden Feststellungen sowohl den Straf- wie auch den weiteren Rechtsfolgenausspruch betreffen (vgl. BGH, Beschl. v. 26.7.2000 - 2 StR 278/00 - NStZ-RR 2001, 198).




Gesetze

Z.8




[ Verweisungen ]

Z.8.1
In § 21 StGB wird verwiesen auf:

§ 20 StGB  Schuldunfähigkeit, § 20 StGB
§ 49 StGB  Besondere gesetzliche Milderungsgründe, § 49 StGB


Auf § 21 StGB wird verwiesen in:

§ 63 StGB  
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, § 63 StGB
§ 68c StGB
   

§ 126a StPO   Einstweilige Unterbringung, § 126a StPO
§ 363 StPO   § 363 StPO, Unzulässigkeit der Wiederaufnahme

 
 
Strafgesetzbuch - Allgemeiner Teil - 1. Abschnitt (Das Strafgesetz) 1. Titel (Geltungsbereich)
 
 




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